Der Darm und seine Standleitung zum Gehirn
Das schlechte Gewissen meldet sich sofort. Dr. Matthias Riedl spricht gerade über die negativen Wirkungen zu hohen Kaffeekonsums, da schauen seine Zuhörerinnen und Zuhörer im Café Botanista in München auf die Espresso-Tassen in ihrer Hand, als wären sie gerade bei etwas erwischt worden. „Keine Angst, zwei Tassen sind für die meisten Menschen total in Ordnung“, sagt Riedl und lächelt verständnisvoll. „Man hat festgestellt, dass Kaffee die Knochengesundheit positiv beeinflusst. Er könnte sogar vor Leberkrebs schützen und das Risiko für Darmkrebs senken. Bei vier Tassen Kaffee oder mehr kann es allerdings zu negativen Folgen wie Zittrigkeit kommen.“
Riedl ist Ernährungsmediziner, Podcaster und Bestseller-Autor. Er gründete das medicum Hamburg, Europas größtes Zentrum für Diabetologie, Ernährungsmedizin und angrenzende Fachgebiete. Dort ist er ärztlicher Direktor. Bekannt ist er auch aus der Fernsehsendung „Die Ernährungs-Docs“ (NDR). An diesem Vormittag hält er in einem exklusiven Kreis einen Impulsvortrag. Es geht um das Trendthema Longevity.
Es ist Riedls Spezialthema, gerade veröffentlichte er sein Buch „Die Longevity Food-Formel“ (GU-Verlag). WELT war bei seinem Vortrag unter den Zuhörern und sprach im Anschluss mit Riedl. Und fasst seine wichtigsten Thesen und Aussagen zusammen.
Die Definition von Longevity
„Darunter verstehe ich, länger als der Durchschnitt zu leben“, so Riedl. Es gehe vor allem um die gesunden Lebensjahre. Also: Gesund älter werden – und nicht nur dem Leben mehr Jahre geben. „Unser Körper besteht aus Organen, die miteinander kommunizieren. Deshalb ist es wichtig, die Organe im Gesamten so lange wie möglich gesund zu halten. Denn wenn ein Glied dieser Kette krank wird, verkürzt sich die Lebenszeit enorm. Der Darm ist so wichtig, weil er eine Standleitung zum Gehirn hat. Er ist ein geschwätziges Organ.“ Ist ein Organ krank, beschleunige dies den Alterungsprozess.
Riedl spricht und schreibt von Bonusjahren. „Longevity ist nicht modern, sondern notwendig“, sagt er. „Dass wir altern, lässt sich nicht ändern. Aber wie wir es tun, das haben wir selbst in der Hand. Das Alter ist einer der größten Risikofaktoren für Krankheiten. Und mit das Wichtigste, was wir dagegen tun können, ist, unsere Ernährung zu verbessern.“
Der Traum vom ewigen Leben wird seiner Meinung nach immer ein Traum bleiben. Aber: „Die Wissenschaft hat, was die Geschwindigkeit des Alterns angeht, in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Das Altern lässt sich im besten Fall um viele Jahre verzögern.“ Heißt: Krankheiten einschränken und die Verschlechterung hinauszögern – mit der richtigen Ernährung.
Die Probleme in Deutschland
Im Vergleich mit anderen Ländern wie zum Beispiel Spanien ist die Lebenserwartung in Deutschland laut Riedl gering. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland sogar sehr weit hinten. Die Krankenhauskosten sind in der Bundesrepublik hingegen relativ hoch. Ein Grund: Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Rheuma oder die sogenannte Fettleber. Und die vielen verarbeiteten Lebensmittel und Süßungsmittel, die auf Dauer die Darmflora schädigen oder gar zerstören können.
Mit der passenden Ernährung kann jeder laut Riedl vorbeugen, teilweise kann die Ernährung sogar zur Heilung beitragen. Riedls Motto: Gesundes essen wirkt wie Medizin! Heilungschancen gibt es demnach unter anderem bei Diabetes Typ 2, Parodontitis, Neurodermitis, Rosazea, Unfruchtbarkeit, Bluthochdruck, Verstopfung und Übergewicht.
Finger weg vom Kleister!
Riedl listet auf, wovon man besser die Finger lässt. Vor allem Kleister kann schädlich sein, die Gefahr einer Darmentzündung droht. Jetzt denkt man: Wer isst schon Kleister? Viele. Laut Riedl nimmt jeder Deutsche pro Jahr ein bis zwei Liter Kleister zu sich. Die meisten wissen das wohl gar nicht. Kleister ist ihm zufolge mitunter unter anderem in Frucht- und Wassereis, Kokosprodukten, Wraps, veganer Sahne und veganem Hackfleisch enthalten. Der Kleister, Carboxymethylcellulose, wird oft als Lebensmittelzusatzstoff E466 ausgewiesen.
Riedls Grundsätze der Longevity-Ernährung
Die tägliche Ernährung sollte folgende Bausteine erhalten:
Proteine (mindestens 1,5 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht, idealerweise gleichmäßig über alle Mahlzeiten des Tages verteilt.). Sie sind unter anderem wichtig für den Muskelaufbau, die Sättigung und den Blutzucker.
- Omega-3-Fettsäuren
- Antioxidanzien
- Ballaststoffe
- Probiotika
- Sekundäre Pflanzenstoffe
- Wenige, aber komplexe Kohlenhydrate
- Kalium und Magnesium
Der Ernährungsplan
- 500 Gramm buntes Gemüse pro Tag
- Maximal 200 Gramm Obst pro Tag
- Ziel: 25 Pflanzenarten pro Woche (inklusive Kräuter, Hülsenfrüchte, Nüsse)
- Mindestens 30 Gramm Ballaststoffe pro Tag
- Echte Vollkornprodukte essen (mindestens acht Gramm Ballaststoffe auf hundert Gramm)
- 30 Milliliter Wasser pro Kilogramm Körpergewicht trinken
Der ideale Riedl-Teller sieht so aus: viel Gemüse, gute Eiweißquellen, wenig komplexe Kohlenhydrate. Konkret: 50 Prozent Gemüse, 30 Prozent Fleisch, Fisch oder Eier und 20 Prozent Nudeln, Reis oder Kartoffeln.
Die Ballaststoffe im Zentrum
Ballaststoffe seien für eine gesunde Ernährung elementar. „Sie sind Longevity-Mittel erster Güte“, sagt Riedl. Sie beugen Darmkrebs und Diabetes vor. Zudem senken sie den Blutdruck und lindern die Entzündlichkeit: „Und sie sind gut für die Zahngesundheit. Viele Zahnärzte sagen, dass neben der Zahnhygiene eine gesunde Ernährung unabdingbar ist – mit vielen Ballaststoffen und gesunden Fetten.“ Zahnärzte seien die größten Freunde der Ernährungsmedizin.
Gerade Entzündungen sind ein Problem. Wertvolle Lieferanten für Ballaststoffe sind unter anderem Linsen, Bohnen, Möhren, Dinkelvollkornbrot, Flohsamenschalen, Mandeln, Kürbiskerne, Walnusskerne, Weizenkleie, Erbsen und Leinsamen.
So funktioniert artgerechte Ernährung
Riedl nennt die gesunde Ernährung ohne viele Fertigprodukte „artgerechte Ernährung“. Und nennt Beispiele: Täglich 1,2 Gramm Protein, also Eiweiß, pro Kilogramm Körpergewicht zu sich nehmen. Seine Tipps: Ausreichend Trinken, denn Flüssigkeitsmangel kann sich schnell negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Den Magen mit Gemüse füllen. Gesunde Öle zu sich nehmen. Und die Kohlenhydrat-Menge der körperlichen Bewegung anpassen.
Gesunde Öle schützen das Herz, die Gefäße und das Gehirn. Riedl sagt, zwei Öle genügen: Rapsöl zum Braten und kalt gepresstes Olivenöl für alles andere. Sein Extratipp: Leinöl für wertvolle Omega-3-Fettsäuren zur möglichen Demenzprävention.
Die schlimmsten Ernährungs-Fehler
Riedl warnt vor allem vor zwei Fehlern, die viele in Sachen Ernährung begehen: Hochverarbeitete Lebensmittel zu essen und zu viel Zucker zu sich zu nehmen. Das mache den Darm durchlässiger, dadurch könne das Immunsystem überlastet werden.
Salz in großer Menge sei ebenso ungesund. Riedl rät, nicht mehr als fünf Gramm Salz pro Tag zu konsumieren. Aber wie lässt es sich an Salz sparen? Riedls Vorschlag: Erst mit Kräutern, Knoblauch und Zwiebeln würzen. Und statt Fertigprodukten jodiertes Salz mit Kräutern und Chili nutzen.
Schlecht für die Darmflora sind zudem viel Alkohol und viel Fleisch. Ebenso zu viel Weizen und Fett. Gut für die Darmflora: frische und Vielfalt in der Ernährung, zuckerarmes Essen sowie energiefrei Flüssigkeit (1,5 bis zwei Liter pro Tag).
Lebensmittel für eine gesunde Darmflora
Zu einer gesunden Darmflora tragen laut Riedl vor allem Chicorée, Zwiebeln, Lauch, Spargel, Knoblauch, Schwarzwurzeln, Artischocken und Bananen bei. Außerdem gut: Sauerkraut, Kleie, Trockenfrüchte, Leinsamen, Beeren und grünes Blattgemüse, zudem Kefir und Joghurt. Die Darmflora wird immer häufiger als Darmmikrobiom bezeichnet.
Bei jüngeren Menschen ist das Mikrobiom meist vielfältig. Im Alter wird die Mischung weniger „bunt“, die Zahl der schlechten Bakterien steigt. Das kann zu Entzündungsprozesse oder der Durchlässigkeit der Darmwände führen. Je älter der Mensch wird, desto wichtiger wird meist also die entsprechende Ernährung.
Die Starthilfe
Riedls Tipp, damit eine Ernährungsumstellung klapp: Ein Ernährungstagebuch führen. Zudem sollte man zum Beispiel den Zuckerkonsum langsam reduzieren. Helfen kann eine Bestandsaufnahme und eine Maßnahmenliste.
Immer im Kühlschrank sollte man Fermentiertes haben, also beispielsweise Sauerkraut, Joghurt oder Kefir. Zudem Beeren und Lauchgemüse.
Generell sollte man nicht zu viel auf einmal wollen. Sondern die Ernährung Stück für Stück umstellen und Geduld haben, Schwerpunkte setzen. Laut Riedl muss man ein ungewohntes Lebensmittel ungefähr elfmal essen, bis man seinen Geschmack mag oder zumindest toleriert. Riedls Motto: Weniger ist mehr – langsam, Schritt für Schritt
Omega-3-Index messen lassen
Riedl sagt: „Es ist nie zu spät, mit der richtigen Ernährung anzufangen.“ Er rät, sich über Krankheiten in der Familie zu informieren, um die Ernährung und den eigenen Vorsorgeplan entsprechend gestalten zu können.
Wer den Verdacht hat, unter Omega-3-Mangel zu leiden, empfiehlt Riedl, bei einem Arzt den sogenannten Omega-3-Index messen zu lassen. So wird festgestellt, wie viele entzündungshemmenden Fettsäuren im Körper sind. Allerdings werden die Kosten für die Messung des sogenannten Omega-3-Index nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Sehr niedrige Spiegel sollten mit Fisch- oder Algenöl aus Kapseln wieder auf ein normales Niveau gebracht werden.
Riedls Longevity-Helden
Zu den besten Longevity-Nahrungsmitteln zählt der Mediziner Lebensmittel unter anderem Knoblauch und Meerrettich sowie Beeren und fetter Fisch wie Makrele. Außerdem Ölsardinen, Haferflocken, Parmesan und Kurkuma. Die Top-Entzündungshemmer seien unter anderem Chiasamen, Mandeln, Hering, Lachs, Chili, Zimt und Tomaten.
Beim Frühstück setzt Riedl auf grünen Tee, Quark mit Blaubeeren oder Himbeeren und auf Orangensaft ohne zugesetzten Zucker. Zudem nimmt er jeden Morgen einen Teelöffel Leinöl zu sich, der sich positiv auf die Blutfettwerte auswirken soll.
Laut Riedl gibt es eine ganze Reihe von Lebensmitteln, bei denen man entweder vermutet, dass sie gegen Krebs wirken oder für die sogar nachgewiesen wurde, dass sie das Krebsrisiko reduzieren. Nüsse seien mit ihren pflanzlichen Eiweißen in keiner Weise schädlich für den Körper.
Zudem sorgten sie für eine ausreichende Ballastversorgung. Die Nuss bringe viele positive Eigenschaften mit. Gut sei auch Kohl: „Von Weißkohl und allen anderen Kohlarten wissen wir, dass die darin enthaltenen Senföle eine krebshemmende Wirkung haben.“ Zudem liefere er jede Menge Vitamine und Spurenelemente. Am besten sei es, regelmäßig Kohl zu essen.
Auch Bitterstoffe seien wichtig, sie wirken antibiotisch. Die Pflanzenstoffe finden sich zum Beispiel in Hülsenfrüchten, Auberginen, Quinoa, Spargel und Spinat.
Die richtigen Essenspausen
Riedl rät, mindestens vier Stunden zwischen den Mahlzeiten zu lassen. Denn nach jeder Nahrungsaufnahme steigt der Blutzuckerspiegel. Die Bauchspeicheldrüse muss Insulin ausschütten, um ihn zu senken. Das erhöht das Diabetesrisiko. Wer zwischendurch unbedingt einen Snack braucht, dem empfiehlt Riedl Rohkoststicks oder Quark mit frischen Kräutern und Nüssen.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen und machte im Fitness-Bereich bereits mehrere Selbstversuche. Er führt immer wieder Interviews zum Thema Ernährung.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke