Wenn Sina Ruppenthal einen 101 Kilogramm schweren Baumstamm über den Kopf wuchtet, einen Radladerreifen immer wieder aufstellt und umstürzt oder einen 80-Kilo Sandsack vom Boden auf die Schulter hebt, ist sie ganz in ihrem Element. Die bewundernden Blicke anderer Personen im Functional-Fitness-Studio sind ihr gewiss. Öffnet sie dann aber die Tür und geht in sommerlicher Kleidung hinaus in die Welt, wird sie bisweilen gemustert. Weil ihre körperliche Stärke durch Muskeln und breite Schultern offensichtlich ist.

„Es entspricht nicht der Norm und führt zu Verwunderung, sodass ich manchmal komisch angesehen werde“, sagt die 25-Jährige. Sie steht darüber.

In ihrer Sportwelt sind starke Frauen auf dem Vormarsch, wenn auch weiterhin deutlich in der Minderheit. Ihre Sportwelt – das ist der Strongman-Kosmos, dessen Bild in der Öffentlichkeit vor allem durch große, bullige Männer, die schwere Dinge heben, tragen, halten, ziehen und umstoßen, bestimmt wird. Doch die Szene ist vielschichtig – genau wie die Sportart selbst, wie Ruppenthal in ihrer Masterarbeit derzeit ausarbeitet.

Die Dortmunderin zählt dabei zu den jungen, weiblichen Gesichtern, tritt demnächst bei den Weltmeisterschaften in Irland an – und möchte dabei einen, wenn nicht gar zwei Weltrekorde verbessern sowie ganz generell daran mitwirken, Frauen den Weg zu ebnen. „Stark sein“, sagt sie, „gilt für viele Menschen immer noch als etwas Männliches.“

Ruppenthal, Dozentin für Trainingslehre, Functional Fitness-Coach und früher auch Bootcamp-Trainerin ist noch recht neu in der Szene. Als Jugendliche in der Leichtathletik zu Hause, begann sie parallel zu ihrem Bachelor-Studium in Sport- und Bewegungsvermittlung mit CrossFit, machte dies einige Jahre ambitioniert und kam schließlich 2022 durch ihren Freund zu Strongman.

Was auf den ersten, oberflächlichen Blick an Gladiatoren-Wettkämpfe erinnert, ist im Prinzip eine Form von Functional Training und in Deutschland in der GFSA (German Federation of Strength Athletes) organisiert, die mit dem Wettbewerb „Stärkster Mann Deutschlands“ den nationalen Meister, längst aber auch die „Stärkste Frau Deutschlands“ kürt. Rekordhalter mit zwölf Titeln ist der heute 58-jährige Heinz Ollesch. Ruppenthal wurde 2023 auf Anhieb Erste in der Klasse bis 82 Kilogramm.

„Das ist stark – für eine Frau!“

Disziplinen wie Deadlift (Kreuzheben), Front Hold (Halten eines Gegenstandes mit gestreckten, waagerechten Armen vor dem Körper) oder Herkules Hold (Halten von zwei Gegenständen seitlich mit den Armen), Farmerswalk (in jeder Hand einen Gegenstand tragend, eine Distanz absolvieren) oder Wheel Flip (Radladerreifen so oft wie möglich aufstellen und umwerfen) zeugen von unterschiedlichen Fähigkeiten, die gebraucht werden. Ruppenthal zählt auf: „Maximalkraft, Kraftausdauer, Schnelligkeit, Koordination und Geschick. Viele verschiedene Fähigkeiten also, weil Bewegungen bei uns nicht eindimensional stattfinden und nicht – wie beim Beinstrecker im Fitnessstudio – in einer vorgegebenen Form.“

Der 25-Jährigen hat es die Sportart so sehr angetan, dass sie ihre Masterarbeit in Trainingswissenschaft und Sporternährung gerade zum Thema „Wie trainieren die stärksten Männer Deutschlands“ schreibt. Auch um aufzuzeigen, was Strongman kann. Denn im Grunde geht es um alltagsnahe Belastungen, die extrem erschwert werden.

„Es ist meiner Meinung nach ein großer Vorteil“, sagt sie, „dass man durch dieses Training auch stark wird für die täglichen Belastungen. Denn es geht ja darum, dass wir unseren Körper kontrollieren und stabilisieren können mit einer externen Last, die nicht in einer geführten Bewegung stattfindet.“ Eben wie im normalen Leben.

Am liebsten sind Ruppenthal jene Disziplinen, bei denen sie etwas über den Kopf wuchten muss – wie einen 101 Kilogramm schweren Baumstamm oder eine Langhantel mit 120 Kilogramm. Aber auch 201 Kilogramm beim Kreuzheben dürften so manchen mit offenem Mund zurücklassen. Nicht nur wegen ihrer Leistung, sondern auch, weil sich generell ein Wandel vollzieht, fühlt sich die Dortmunderin mittlerweile anders wahrgenommen als am Anfang.

„Von einigen wird es noch ein bisschen belächelt, aber immer mehr spüre ich vor allem Respekt“, erzählt Ruppenthal, die auch olympisches Gewichtheben betreibt. Früher hörte sie vor allem: „Das ist stark für eine Frau!“ Mittlerweile hört sie häufiger: „Das ist ja wirklich stark!“ Und zwar ganz allgemein – und nicht ohne den abschwächend gemeinten Zusatz: für eine Frau.

„Natural Strongman“ positioniert sich klar

Insgesamt ist die Strongman-Szene vielschichtiger, als es das Klischee glauben lässt. Natürlich gibt es jene großen, schweren Typen, die weiterhin öffentlich im Fokus stehen und die schwersten Gewichte bewegen. Aber es gibt eben nicht nur die offene Klasse, sondern – bei Männern wie Frauen – auch unterschiedliche Gewichtsklassen. Jeder kann dort antreten, wo er sich wohlfühlt. „Wenn wir bei den Männern zum Beispiel auf die Klasse unter 90 Kilo schauen, sind sie wesentlich kleiner, nicht so bullig und trotzdem unfassbar stark“, sagt Ruppenthal. „Und wir Frauen – wir sind zwar immer noch eine Randsparte, aber sie wächst.“

Sie selbst musste für ihre 82er-Gewichtsklasse vor Wettkämpfen stets innerhalb von ein bis zwei Tagen vier Kilogramm verlieren. „Gewichtmachen“ nennt sich das, bekannt aus Sportarten wie Ringen, Boxen und Judo. „Das ist schon fordernd und nichts Gutes für den Körper“, befand Ruppenthal mittlerweile und entschied, fortan in der offenen Klasse zu starten.

Bei 1,75 Metern Körpergröße wiegt sie aktuell etwa 95 Kilogramm und wird dieses Gewicht auch bei den Weltmeisterschaften in Irland auf die Wettkampffläche bringen – damit zählt sie zu den Leichtgewichten in ihrer Klasse. In manchen Disziplinen bringt ihr das deutliche Nachteile, in athletischen Disziplinen allerdings Vorteile. Und wenn es daran geht, etwas über den Kopf zu wuchten, muss sie sich sowieso hinter niemandem verstecken – das Beispiel des über den Kopf zu stemmenden Baumstamms steht exemplarisch dafür.

Ruppenthals persönlicher Rekord von 101 Kilogramm aus dem Training wäre Weltrekord, wenn ihr das bei einem offiziellen Wettbewerb – zum Beispiel also in Irland – gelingt. „Natural World Record“ wohlgemerkt, denn international tritt sie bei den Titelkämpfen des Verbandes „Natural Strongman“ an, der einzige der großen Weltverbände in diesem Sport, in dem nur auf Doping getestete Athleten antreten dürfen. Im vergangenen Jahr wurde sie dort bereits WM-Fünfte.

„Der Verband spricht sich explizit für naturalen, also dopingfreien Strongman-Sport aus“, sagt Ruppenthal. „Es gibt bei den Wettkämpfen auch regelmäßig Dopingkontrollen.“ Insgesamt werden Ende August neun deutsche Frauen und fünf Männer bei den Weltmeisterschaften antreten – darunter in Jacqueline Heise auch eine Sportlerin in der leichtesten Klasse bis 57 Kilogramm. Die deutschen Frauen sind im wahrsten Sinne stark vertreten.

„Grenzen sprengen können, die alltäglich vorherrschen“

Seit Ende 2024 gibt es in „Strongwomen Germany“ auch einen Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Frauen den Zugang zum Strongman-Sport zu erleichtern und sich gegenseitig zu unterstützen. Gegründet unter anderem von Sandra Bradley, einer 36 Jahre alten Ex-Polizistin und heutigen Profiathletin, für die der Kraftsport einst der Weg aus der Magersucht war. Jede hat ihre Geschichte. Und jede hat ihre Ziele.

Frauen sind national wie international mittlerweile sichtbar in diesem Sport – und dennoch: An eine rasante Entwicklung innerhalb der Szene, in der Außenwahrnehmung und generell in der gesellschaftlichen Akzeptanz mag Ruppenthal noch nicht glauben. „Dieser Weg ist lang. Sehr lang“, sagt sie. „Ich glaube, es kann nur dann wirklich anders werden, wenn grundsätzlich Klischees und Rollenbilder, die noch in der Gesellschaft vorherrschend sind, über Bord geschmissen werden und wir Grenzen sprengen können, die noch alltäglich vorherrschen.“

Und das ist nichts, was schnell geht. Veränderung und Wandel brauchen oft Geduld. Vorurteile, Klischees und Rollenbilder prägen schließlich unseren Alltag, sind bei manchen tief in Kopf und Herz verankert. Ruppenthal erlebt es ja selbst. Was sie sich wünscht? „Dass stark sein nicht mehr etwas Männliches ist, sondern etwas Neutrales. Dass folgende Generationen von Frauen es gar nicht mehr eingebläut bekommen, dass sie einfach nur still, klein, zierlich und zurückhaltend sein sollen.“ Es geht eben um beides: die sichtbare und die innere Stärke.

Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.

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