„Von Tag eins an eigentlich ein Sturmflut-Moment für die Koalition“
Nach der im Bundestag geplatzten Wahl von drei Richtern für das Bundesverfassungsgericht geht die SPD-Fraktion mit einem neuen Plan auf die Union zu: Die in der Unionsfraktion umstrittene Kandidatin der SPD für das höchste Gericht im Land, Frauke Brosius-Gersdorf, soll demnach in die CDU/CSU-Fraktion zu Besuch kommen und dort ihre Positionen vertreten. In der SPD hofft man, dass die Juristin so die Vorbehalte in den beiden Schwesterparteien gegen sich ausräumen kann.
„Ich glaube, wenn man Kritik äußert, gerade wenn man sehr persönlich wird, ist es gut, sich in die Augen zu gucken und darüber zu reden und gegebenenfalls auch Irrtümer auszuräumen“, sagte die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Sonja Eichwede, WELT TV. „Von daher finde ich das sehr gut, dass Frau Professorin Frauke Brosius-Gersdorf auch bereit wäre, sich bei der Unionsfraktion persönlich vorzustellen, um eben Zweifel auszuräumen und darzustellen, was für eine hervorragende Verfassungsrechtlerin sie ist.“
Im Umfeld von SPD-Fraktionschef Matthias Miersch hieß es, die Juristin selbst sei zu einem solchen Treffen bereit. Der Fraktionsvorsitzende sei „im engen Austausch" mit Brosius-Gersdorf. Aus der Unionsfraktion kamen unterschiedliche Signale zu diesem Vorschlag.
Die Fraktionsspitze, die ihren Abgeordneten ohnehin empfohlen hatte, die Juristin trotz ihrer für viele in CDU und CSU schwer akzeptablen Positionen zu wählen, zeigt sich grundsätzlich verhandlungsbereit. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Steffen Bilger (CDU), sagte WELT AM SONNTAG: „Jetzt sollten erstmal alle etwas runterkommen und dann besprechen wir in Ruhe mit der SPD das weitere Verfahren."
Sein Stellvertreter, Reinhard Brandl (CSU), erklärte: „Union und SPD eint das Ziel, ein gemeinsames Kandidaten-Paket für das höchste deutsche Gericht durch den Bundestag zu bringen. Dazu werden wir in der Koalition die notwendigen Gespräche führen.“ Die Koalitionäre sollten in der Angelegenheit „jetzt erstmal einen Gang runterschalten“. Allerdings lehnen viele Abgeordnete von CDU und CSU ein Gespräch mit Brosius-Gersdorf ab.
Im Bundestag waren am Freitag die zwei angesetzten Wahlgänge kurzfristig von der Tagesordnung genommen worden, weil Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) seinem SPD-Amtskollegen Miersch vor Beginn der Sitzung im Bundestag erklärt hatte, für die Wahl von Brosius-Gersdorf keine Mehrheit in der eigenen Fraktion zu haben. Deren Wahl müsse abgesetzt werden. Die SPD lehnte ab, die Wahlgänge aller drei Kandidaten wurden gestrichen. So kam es auch nicht zur Wahl von Günter Spinner, der von der Union für das Bundesverfassungsgericht nominiert worden war.
„Autounfall in Zeitlupe“
Der Vorgang hat nicht nur die schwarz-rote Koalition in ihre erste schwere Krise gestürzt, sondern auch für erhebliche Turbulenzen in der Unionsfraktion gesorgt. Dort wächst die Kritik an der Fraktionsspitze. Was die Koalition in den vergangenen zwei Wochen geboten habe, sei „ein Autounfall in Zeitlupe“, sagte der Chef des CDU-Sozialflügels und CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke dieser Zeitung.
„Vielleicht sollte man in den Fraktionsräumen und Parteizentralen von Union und SPD die Balken vom Wahlabend ausdrucken und aufhängen als Mahnung, dass das Eis verdammt dünn ist, auf dem wir tanzen“, so der CDA-Chef. „Die gesamte Lage ist von Tag eins an eigentlich ein Sturmflut-Moment für die Koalition. Es entscheiden jetzt Führung und Orientierung, ob wir mit Helmut-Schmidt-Nimbus oder als Sandsack aus der Sache heraus kommen.“
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) erklärte beim Treffen der Jungen Union am Samstag in Gummersbach: „Natürlich ist das in dieser Woche nicht gut gelaufen für uns als Union und für die Koalition in Berlin insgesamt.“ Er stärkte dennoch Jens Spahn den Rücken: „Es spricht aber für Jens Spahns Charakter, dass er offensiv damit umgeht und nach Lösungen sucht. Jens hat Demut gezeigt und Verantwortung übernommen. Auch das ist politische Führung.“
Spahn und die Fraktionsspitze hatten in den vergangenen Tagen mit Nachdruck versucht, die Unionsabgeordneten zu einer Wahl Brosius-Gersdorfs zu bewegen und damit den Koalitionsfrieden zu wahren. Das Vorschlagsrecht im Falle dieser Stelle liegt laut einer Vereinbarung von Union, SPD, Grünen und FDP aus dem Jahr 2018 bei der SPD. Doch viele in CDU und CSU wollen dem Vorschlag des Koalitionspartners nicht folgen.
Brosius-Gersdorf befürwortet eine Straffreiheit für Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten drei Monate, sie plädierte für eine Corona-Impfpflicht und stellt sich gegen pauschale Kopftuchverbote für Lehrerinnen und Richterinnen. Der am Donnerstag erhobene Vorwurf, die Juristin habe beim Verfassen ihrer Dissertation 1997 abgeschrieben, wurde von der Unionsfraktions-Spitze kurzfristig als Grund angeführt, ihre Wahl nicht mittragen zu können.
Im Vorfeld hatten aber bereits mehr als zwei Dutzend Mitglieder der Unionsfraktion dem Fraktionsvorstand offiziell mitgeteilt, dass sie Brosius-Gersdorf nicht wählen würden. Die Zahl derer, die Brosius-Gersdorf tatsächlich nicht wählen würden, dürfte da schon um ein Vielfaches höher gewesen sein.
Viele Abgeordnete der Kanzlerfraktion halten daher von einer Anhörung der SPD-Kandidatin nichts. „Die Begeisterung für eine Sondersitzung in den Parlamentsferien dürfte überschaubar sein“, sagt der langjährige ehemalige CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach. „Auch deshalb, weil man den Erkenntnisgewinn nicht überschätzen sollte: Das Problem des Vorschlages Brosius-Gersdorf ist ja gerade nicht, dass sie und ihre verfassungsrechtlichen Positionen unbekannt sind, das Problem ist für die Union genau das Gegenteil.“ Also, dass man die Standpunkte der Juristin kenne und ablehne.
Man habe nichts dagegen, miteinander zu reden. „Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Brosius-Gersdorf mich oder andere in der Fraktion noch umstimmen können“, sagt einer der stellvertretenden Fraktionschefs. Ein CDU-Abgeordneter meint: „Die Union würde sich auf die Knochen blamieren, wenn sie bei diesem Theater mitmachen würde. Frau Brosius-Gersdorfs Standpunkte sind hinlänglich bekannt und verschriftlicht.“ Ein anderes Fraktionsmitglied sagt: „Wenn es Frau Brosius-Gersdorf um das Ansehen des Amtes oder ihr eigenes gegangenen wäre, hätte sie längst zurückgezogen.“
Es sieht also derzeit nicht nach einer Lösung aus. Innenminister Alexander Dobrindt versucht es deshalb in eine andere Richtung: Er habe kein Problem damit, zum Telefon zu greifen und jemanden von der Linkspartei anzurufen, sagte der CSU-Politiker im Deutschlandfunk mit Blick auf die Richterwahl. Dobrindt hatte das bereits getan, als Friedrich Merz im ersten Wahlgang der Kanzlerkür durchgefallen war und die Geschäftsordnung für einen schnellen zweiten Anlauf geändert werden sollte.
Die Linke zeigt sich offen: „Wir als Linke und ich persönlich sind selbstverständlich bereit, mit der Union zu reden, das hätten wir vor der verpatzten Richterwahl gemacht und auch jetzt“ sagte Janine Wissler, Mitglied im Fraktionsvorstand der Linken, WELT AM SONNTAG. „Das Bundesverfassungsgericht ist zu wichtig und Jens Spahn kriegt ja offensichtlich nichts auf die Reihe.“
Nikolaus Doll berichtet seit Jahren über die Unionsparteien.
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