„Wenn sich diese Ergebnisse nur ansatzweise beim Menschen bestätigen, wäre das ein Meilenstein“
Der Traum von einem langen Leben hat sich zu einem Milliarden-Business entwickelt. Pharma-Giganten wie Eli Lilly oder Novo Nordisk forschen an Stoffen, die im besten Fall die gesunde Lebensspanne des Menschen verlängern. Die Beauty- und Fitnessbranche wirft immer neue Pillen, Seren oder Pulver auf den Markt, die der Langlebigkeit zuträglich sein sollen. Ein Stoff, der mittlerweile auch in der Longevity-Forschung größere Beachtung findet, ist Kreatin.
Prof. Dr. Dr. Jürgen Gießing von der TU Kaiserslautern-Landau ist Autor eines gleichnamigen Standardwerkes über Kreatin. Er leitet den Arbeitsbereich Trainingswissenschaft und Sportmedizin am Institut für Sportwissenschaft der TU und gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel. „Kreatin ist das mit Abstand gründlichst erforschte Supplement“, betont Gießing im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Es gebe mittlerweile weit über 1000 Studien, die sich mit dem vielversprechenden Stoff und seinen Effekten befassen.
WELT AM SONNTAG: Herr Professor Gießing, der Markt für Nahrungsergänzungsmittel ist riesig. Beim Thema Longevity wird immer häufiger auch über Kreatin berichtet. Was verbirgt sich hinter diesem Stoff?
Prof. Jürgen Gießing: Kreatin gilt unter allen Stoffen, die als Nahrungsergänzungsmittel angeboten werden, als der mit Abstand interessanteste und vielversprechendste. Nicht nur aus sportlicher, sondern auch aus gesundheitlicher Sicht. Kreatin wird im Körper selbst gebildet und kann zusätzlich über die Nahrung aufgenommen werden, vor allem durch den Verzehr von Fleisch. Der Körper verarbeitet Kreatin zu Kreatinphosphat, das zu 95 Prozent in der Muskulatur gespeichert wird; der Rest verteilt sich im Blut, im Gehirn, in Organen und anderen Zellen. Ein gesunder Mensch kann den für den Stoffwechsel notwendigen Bedarf an Kreatin selbst abdecken. Bei bestimmten Krankheiten, genetischen Defekten oder extremer Mangelernährung kann die Eigenproduktion jedoch beeinträchtigt sein.
WELT AM SONNTAG: Warum ist die Einnahme von Kreatin aus medizinischer Sicht sinnvoll?
Prof. Gießing: Ein gesunder Mensch entwickelt keinen Kreatin-Mangel, daher ist die Einnahme grundsätzlich nicht zwingend notwendig. Dennoch kann die Aufnahme von Kreatin über Fleisch oder Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll sein, da Kreatinphosphat die wichtigste Energiequelle bei anaeroben, also sehr intensiven Bewegungen und Belastungen ist. Adenosintriphosphat, das dabei primär benötigt wird, ist schnell aufgebraucht und wird mithilfe von Kreatinphosphat regeneriert. Die Einnahme von Kreatin kann somit die anaerobe Leistungsfähigkeit steigern. Das merken wir zum Beispiel beim Treppensteigen, Sprinten, heben von schweren Gegenständen oder beim Krafttraining. Kreatin ist einer der wenigen Stoffe, die der Körper speichern kann, was es von anderen wichtigen Stoffen wie wasserlöslichen Vitaminen unterscheidet, die bei Überschuss schnell ausgeschieden werden.
WELT AM SONNTAG: Was bringt Kreatin abseits des Sports?
Prof. Gießing: Kreatin verbessert nicht nur die anaerobe Leistungsfähigkeit beim Sport, sondern kann auch in anderen Bereichen nützlich sein. Studien zeigen, dass Kreatin nicht nur bei anstrengenden Alltagsbewegungen, sondern auch in Situationen mit eingeschränkter Sauerstoffversorgung wie Verletzungen, Stoffwechselerkrankungen oder Atemnot einen positiven Effekt hat.
WELT AM SONNTAG: Das Herz ist auch ein Muskel.
Prof. Gießing: Der Herzmuskel funktioniert ähnlich wie die Skelettmuskeln und speichert sowie verstoffwechselt Kreatin in vergleichbarem Maße. Bei einem Herzinfarkt oder einer Herzinsuffizienz, wenn der Herzmuskel mit Sauerstoff unterversorgt ist, muss der Muskel ebenfalls auf anaerobe Energiequellen zurückgreifen. Erste Tierversuche deuten darauf hin, dass Kreatin möglicherweise einen positiven Einfluss auf die Heilung und Funktion des Herzmuskels haben könnte. Aussagekräftige Studien am Menschen gibt es dazu jedoch bislang nicht.
WELT AM SONNTAG: Es gibt Studien mit Mäusen, die darauf schließen lassen, dass Kreatin vor der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson schützen kann. Wie schätzen Sie die Ergebnisse ein?
Prof. Gießing: Wenn sich diese Ergebnisse nur ansatzweise auch beim Menschen bestätigen sollten, wäre das sicher ein Meilenstein in der Prävention dieser Krankheiten. Ob oder in welchem Ausmaß Kreatin tatsächlich vor neurodegenerativen Erkrankungen beim Menschen schützen kann, ist bei der aktuellen Datenlage bisher nicht sicher zu beantworten. Insofern sollte man keine Hoffnungen wecken, die sich möglicherweise nicht bestätigen. Völlig unzweifelhaft ist dagegen, wie wichtig Kreatin für gesunde Nerven- und Hirnfunktionen ist. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Patienten, die aufgrund eines enzymatisch bedingten Defekts keine körpereigene Kreatin-Synthese haben, sehr häufig schwerwiegende neurologische Defekte und kognitive Beeinträchtigungen aufweisen. Es gibt aber auch beim Menschen durchaus einige vielversprechende Untersuchungsergebnisse. Eine Studie beispielsweise fand bei Patienten mit Morbus Parkinson ein langsameres Fortschreiten der Krankheit, wenn Kreatin eingenommen wurde. Eine andere Studie konnte dagegen keine Verbesserungen der neurologischen Symptome feststellen, wohl aber ein verbessertes Wohlbefinden der mit Kreatin behandelten Patienten im Vergleich zur Placebogruppe. Möglicherweise kann Kreatin hier also einen positiven Beitrag leisten. Von einer „Schutzwirkung“ zu sprechen wäre zum jetzigen Zeitpunkt aber deutlich zu weit gegriffen.
WELT AM SONNTAG: In einer Studie mit Mäusen, die täglich Kreatin erhielten, wurde eine im Durchschnitt um neun Prozent längere Lebensdauer festgestellt. Diese Mäuse wiesen auch eine geringere Konzentration des sogenannten Alterspigments Lipofuszin in ihren Zellen auf. Kann sich auch der Mensch Hoffnung auf ähnliche Effekte machen?
Prof. Gießing: Ergebnisse aus Tierversuchen liefern wichtige Hinweise, sind aber generell nicht 1:1 auf den Menschen übertragbar. Was wir aber sicher wissen, ist Folgendes: Auch der anaerobe Stoffwechsel des Menschen ist einem Alterungsprozess unterworfen. Da Kreatin ein wichtiger Energielieferant im anaeroben Stoffwechsels praktisch aller Zellen im menschlichen Körper ist, sind die bekannten positiven Auswirkungen eines ausreichenden Kreatingehalts in den Zellen sicher kein Nachteil bezüglich dieser altersbedingten Veränderungen. Ob es allerdings wie in den Tierversuchen beobachtet, auch zu einer Lebensverlängerung führen kann, ist noch völlig offen. Hierzu braucht es entsprechende Langzeitstudien, bei denen auch noch weitere, den Alterungsprozess betreffende, Faktoren berücksichtigt werden müssen. Da die mittlere Lebenserwartung von Labormäusen bei nur 100 bis 300 Tagen liegt, sind Studien zu Einflüssen auf die Lebenserwartung bei Mäusen entsprechend früher zu erkennen. Beim Menschen werden wir aufgrund der sehr viel längeren Lebenserwartung noch viele Jahre auf entsprechende Ergebnisse warten müssen.
WELT AM SONNTAG: Welche medizinischen Vorteile durch Kreatin werden derzeit noch erforscht?
Prof. Gießing: Die Frage ist eher: Welche medizinischen Effekte von Kreatin werden zurzeit nicht erforscht. Da Kreatin, hauptsächlich in Form des in den Zellen gespeicherten Kreatinphosphats, wie zuvor erwähnt, eine essenzielle Energiequelle für die anaerobe Energiebereitstellung ist, gibt es unzählige physiologische Prozesse, an denen Kreatin beteiligt ist und bei denen eine verbesserte Energieversorgung einen gesundheitlichen Vorteil darstellen kann.
WELT AM SONNTAG: Welche Rolle kann Kreatin in Ihren Augen im menschlichen Alterungsprozess spielen?
Prof. Gießing: Die wahrscheinlich wichtigste, ist die folgende: Unsere alternde Gesellschaft bringt Herausforderungen wie Sarkopenie, dem altersbedingten Muskelschwund, mit sich, um nur einen Aspekt zu nennen, der aber von zentraler Bedeutung ist. Der Erhalt der Muskelkraft kann für Senioren entscheidend sein, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Forschung zeigt unmissverständlich, dass Kreatin dabei eine wichtige Rolle spielen kann. Im Gegensatz zu vielen anderen Nährstoffen ist Kreatin über eine rein pflanzliche Ernährung kaum aufzunehmen, da es praktisch ausschließlich in Fleisch enthalten ist. Supplemente bieten hier eine sinnvolle Alternative, insbesondere für Vegetarier und Veganer, die aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen auf Fleisch verzichten. Außerdem können Supplemente helfen, den Fleischkonsum zu reduzieren und dessen potenzielle negative Auswirkungen wie ein erhöhtes Darmkrebsrisiko zu vermeiden. Kreatin ist damit eine der wenigen Ausnahmen von der Faustregel, dass Nährstoffe besser über die Nahrung aufgenommen werden sollten als durch ein Supplement. Im Fall von Kreatin ist das anders, denn eine Supplementierung bietet eine gezielte Möglichkeit, den Kreatin-Spiegel zu erhöhen, ohne dabei unerwünschte Begleitstoffe aufnehmen zu müssen.
WELT AM SONNTAG: Sie sprachen von wenigen Ausnahmen. Welche sind das noch?
Prof. Gießing: Vitamin D ist eine weitere mögliche Ausnahme, bei der eine Supplementierung erwogen werden sollte, da es vor allem über das Sonnenlicht aufgenommen wird. Eine ausreichende Aufnahme durch Sonnenstrahlung ist oft schwer zu gewährleisten, wobei zu viel Sonnenexposition Hautkrebs begünstigen kann. Eine weitere Ausnahme ist Eisen, dessen am besten verwertbare Form hauptsächlich in Fleisch vorkommt, wodurch bei veganer oder vegetarischer Ernährung manchmal eine Supplementierung angeraten ist.
WELT AM SONNTAG: Welche Langzeitstudien am Menschen gibt es zum Thema Kreatin?
Prof. Gießing: Die meisten Studien zu Kreatin sind Kurzzeitstudien, die etwa zwölf Wochen bis maximal ein halbes Jahr dauern. Es gibt aber durchaus auch Erfahrungswerte über sehr lange Zeiträume: Einige wenige Menschen weltweit werden mit einem Gendefekt geboren, der dazu führt, dass es ihnen an einem Stoff namens Ornithin-Amylotransferase mangelt, wodurch eine körpereigene Kreatin-Produktion unmöglich wird. Diese Patienten nehmen seit rund 50 Jahren Kreatin ein, größtenteils 1,5 bis 2 Gramm pro Tag und sind gründlich untersucht, da sie dauerhaft ärztlich betreut werden. Diese Langzeitbeobachtungen zeigen bislang keine negativen Auswirkungen des Kreatins. Das entspricht auch der Empfehlung, Kreatin täglich, aber in geringen Mengen einzunehmen.
WELT AM SONNTAG: Welche Dosis empfehlen Sie?
Prof. Gießing: Ich empfehle, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und den eigenen individuellen Bedarf möglichst genau abzuschätzen, da dieser von Person zu Person deutlich variiert. Zu den zu berücksichtigenden Faktoren gehört die Ernährungsweise (viel, wenig oder gar kein Fleisch) und die Muskelmasse. Es gibt auch brauchbare Faustregeln zum Abschätzen des Bedarfs. Zwei bis drei Gramm pro Tag sind in der Regel ausreichend. Außerdem wird Kreatin ja im Körper gespeichert, wodurch eine Unterdosierung schon mal kaum möglich ist. Deshalb sollte man Kreatin nicht überdosieren, dafür lieber dauerhaft zuführen. In Studien, bei denen die Probanden drei Gramm am Tag zu sich nahmen, waren nach 28 Tagen die Speicher bei allen Probanden maximal gefüllt und blieben für den Rest der Einnahmephase auf diesem hohen Niveau.
WELT AM SONNTAG: Was passiert bei einer Überdosierung?
Prof. Gießing: Wenn mehr konsumiert wird als benötigt, reduziert sich die körpereigene Kreatin-Synthese, übrigens passiert das auch bei sehr hohem Fleischkonsum. Höhere Dosierungen, etwa zehn Gramm oder mehr, können Nebenwirkungen wie Magenschmerzen oder Durchfall verursachen. Dies liegt daran, dass Kreatin die Zellhydratation fördert, was eigentlich grundsätzlich positiv ist. Bei Überdosierung kann jedoch zu viel Wasser in die Darmzellen gelangen, was diese wieder abgeben – ein Effekt, der Verdauungsbeschwerden wie Durchfall und Magenschmerzen auslöst.
WELT AM SONNTAG: Reguliert sich die Synthese nach einer fälschlichen Überdosierung?
Prof. Gießing: Ja, selbst bei sehr hohen Dosierungen von 20 bis 30 Gramm täglich, wie sie in frühen Studien zu Testzwecken verwendet wurden, springt die körpereigene Kreatin-Synthese innerhalb einiger Tage oder weniger Wochen nach dem Absetzen wieder an.
WELT AM SONNTAG: Wie viel Wasser sollte man trinken, wenn man Kreatin einnimmt?
Prof. Gießing: Es stimmt, dass die Einnahme von Kreatin den Flüssigkeitsbedarf erhöht, weil es die Zellhydratation verbessert. Als Faustregel gilt, pro Gramm Kreatin 100 ml Wasser zusätzlich zu trinken. Da Kreatin in der Regel ja ohnehin in Wasser oder einem anderen Getränk aufgelöst wird, lässt sich das leicht und praktisch umsetzen.
WELT AM SONNTAG: Wann sollte man Kreatin am besten einnehmen?
Prof. Gießing: Das spielt keine große Rolle, da Kreatin Monohydrat, die übliche Darreichungsform, zu 100 Prozent vom Körper aufgenommen wird. Sinnvolle Einnahmezeitpunkte für Kreatin sind morgens oder nach dem Training. Alternativ kann es auch täglich zu einem festen Zeitpunkt eingenommen werden, zum Beispiel zum Mittagessen. Für Personen, die intermittierendes Fasten praktizieren, ist es sinnvoll, das Kreatin mit der ersten Mahlzeit einzunehmen. Wichtig ist, dass es regelmäßig eingenommen wird. Bei all diesen positiven Nachrichten über Kreatin sollte aber ein Zusammenhang nicht vergessen werden: Kreatin wirkt positiv im Rahmen des anaeroben Zellstoffwechsels, daher kann es die genannten Wirkungen am besten entfalten, wenn der anaerobe Stoffwechsel auch trainiert wird, am besten in Form von regelmäßigem Krafttraining. Kreatin kann Trainingswirkungen sehr wirksam verstärken, aber nicht die Folgen von Bewegungsmangel ungeschehen machen.
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