„Warum die Narben abdecken, die einem das Leben gerettet haben?“
Louise Bernadette Butcher (52) zieht die Blicke auf sich. Die Engländerin ist die erste Frau weltweit, die einen Marathon „oben ohne“ lief. Und das ganz bewusst. Nach einer Krebserkrankung wurden ihr beide Brüste abgenommen, die Narben will sie nicht verstecken.
Im Frühjahr 2022 wurde bei Louise Bernadette Butcher lobulärer Brustkrebs diagnostiziert. In der Folge der Erkrankung mussten der ehemaligen Musikerin bei einer Mastektomie die Brüste abgenommen werden. Und nur sechs Wochen nach der Abnahme der zweiten Brust lief sie im Oktober ihren ersten virtuellen Marathon. „Es war so hart, aber nicht so hart wie eine Krebserkrankung“, sagt Butcher WELT über ihre ersten 41,195 Kilometer. „Manchmal musste ich einfach auf dem Boden liegen, weil ich am Brustkorb so starke Schmerzen hatte. Meine Muskeln waren wirklich schwach. Es war, als hätte mich ein Pferd getreten.“
Dennoch zog die Sportlerin durch. Sie erinnert sich: „Ich hatte es mir vorgenommen, bevor ich die Diagnose bekam. Und es war das Einzige, was ich noch unter Kontrolle hatte. Denn Krebs nimmt einem jede Kontrolle. Es ist, als hätte man die Kontrolle über sein Leben verloren. Er nimmt einem die Brüste, und dabei muss man all diese verschiedenen Dinge über sich ergehen lassen, wie die Strahlentherapie und Mastektomie. Der Marathon und das Laufen waren alles, was mir blieb. Es fühlte sich an, als müsste ich es tun. Es war ein Gefühl, das ich noch nie hatte. Als wäre es das, wofür ich hier war.“
Vorbild für andere Sportlerinnen
Und das war nur der Anfang. Innerhalb der vergangenen zweieinhalb Jahre lief Butcher fünf Marathons und zwei Halbmarathons. Allein das beeindruckt. Aus ihrem Schicksalsschlag schöpfte die Engländerin jedoch zusätzlich eine ganz neue, andere Stärke, die anderen Menschen nun Mut macht und Kraft schenken soll. Butcher läuft seit ihrem zweiten Marathon oben ohne – und zeigt dabei der ganzen Welt voller Selbstverständnis und Natürlichkeit, dass sie keine Brüste mehr hat. „Ich habe nicht verstanden, warum man Narben, die einem das Leben gerettet hatten, abdecken sollte. Wenn man an einer anderen Stelle eine Narbe hat, hat man auch nicht das Bedürfnis, diese zu verdecken.“
Eine Pause zur Erholung nahm sie sich nie. Sie hatte stattdessen das Gefühl, dass der Sport ihr half. Half zu heilen und weiterzumachen. „Ich denke, die Übungen haben mir geholfen, mich schneller zu erholen, denn durch meine Läufe und die Bewegung ist das ganze Blut durch meinen Körper geflossen, und die Nährstoffe sind in jeden Bereich gelangt“, erzählt Butcher.
In dieser Zeit informierte sie sich über andere Fälle und Probleme anderer Patientinnen. Viele Frauen hätten sieben, acht Wochen Probleme damit gehabt, sich zu bewegen oder im Bett zu schlafen, meint die Läuferin. „Aber mir hat die Bewegung während und nach der Behandlung einfach nur geholfen.“ Statt extremer Müdigkeit, Übelkeit oder starken Hautausschlag bekam sie von der Bestrahlung nur leichten Ausschlag.
Mit der Therapie und vor allem der Mastektomie aber veränderte sich nicht nur ihr Körper. Sie wurde auch ein anderer Mensch, wie sie selbst erzählt: „Es ist, als würde man mit seinen Brüsten auch seine Identität verlieren. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, weil meine Brüste zu mir gehörten, mein Leben lang ein Teil von mir waren. Ich habe etwa sechs Monate gebraucht, um mich wirklich an mich ohne sie zu gewöhnen.“
Starke Zeiten und ein großes Ziel
Heute hat Butcher keinerlei Schmerzen mehr. „Ich bin zu etwas Besserem, zu etwas Stärkerem geworden“, erzählt sie. „Ich laufe jetzt viel, mein Körper ist muskulöser, und ich tue damit viel für wohltätige Zwecke. So versuche ich, andere Frauen oder Männer zu ermutigen.“ Auch mit ihrem Buch „Going topless“, das Ende Juni erschienen ist und ihre Reise nacherzählt und anderen Menschen Hoffnung geben soll. Die Engländerin sagt: „Ich wusste, dass Marathonläufer Widerstandskraft, Entschlossenheit, Kraft und Stärke besitzen. Und beim Laufen strahle auch ich diese kraftvolle, starke Frau aus.“
Genau das kann jeder sehen. Obwohl sie erzählt, dass sie noch immer angestarrt wird, zeigt sie ihre Muskeln, ihre Narben, ihr Leben. Ihre schnellste Marathonzeit war 4:42 Stunden, den Halbmarathon schaffte sie in 2:03 Stunden.
Auf die Idee, ohne Shirt zu laufen und die Startnummer an der Hose zu tragen, kam sie bei Dreharbeiten für einen Film, der auf einem Krebsforum für Frauen mit Mastektomie erschien. „Ich holte die künstliche Brust aus meiner Tasche. Und in diesem Moment, als ich in den Spiegel schaute und überall Leute waren, die mich beobachteten – es war das erste Mal, dass ich mich ohne meine Brüste fremden Leuten zeigte – wurde mir klar, dass es daran lag, dass sie mich anstarrten, weil ich keine Brüste hatte. Und ich bekam eine Panikattacke“ erklärt die Sportlerin.
„Es war wirklich sehr schwierig. Ich hatte das Gefühl, als hätten alle Mitleid mit mir. Aber sie sagten: ‚Nein, wir haben kein Mitleid. Wir bewundern deinen Mut und deine Tapferkeit.‘ Und diese Worte ließen mich meine Einstellung zu mir selbst überdenken und ändern“, so die mutige Frau. „Das war es, was in mir die Idee reifen ließ, einen Lauf oben ohne zu versuchen. Und mir dann den Lauf ohne ein Top leicht machte.“
Laut Butcher ist es „die beste Entscheidung meines Lebens.“ Doch wie kam die Entscheidung bei ihrer Familie an? Sie erzählte niemandem vor ihrem ersten Marathon oben ohne von ihrer Idee: „Mein Mann war einfach mit allem zufrieden, was mich glücklich machte, und mich meinen Körper akzeptieren ließ.“ Die Familie ihres Mannes warnte anfangs jedoch, als sie ihre Schwiegertochter ohne Shirt laufen sahen. Louise erinnert sich: „Sie sagten, ich müsse aufhören und meine Kinder würden gemobbt werden. Zum Glück lagen sie völlig falsch. Und es ist jetzt wirklich schön, dass ihre Prophezeiung überhaupt nicht stimmt.“ Tochter Polly (8) ist stolz. „Sie denkt nur: Meine Mutter ist Läuferin. Meine Mutter ist eine Oben-ohne-Frau. Auch mein Sohn Oliver (14, d. Red.) ist stolz. Er hat früher Videos für meine Social-Media-Kanäle für mich gemacht.“
„Wenn sie es schafft, kann ich es auch“
Und nicht nur Louises Familie weiß den Weg der Läuferin zu schätzen. Vielen helfe sie dank ihres Auftretens, sich besser zu fühlen, erzählt die Sportlerin. „Auch von Männern bekomme ich so viele Nachrichten, dass es ihnen im Umgang mit ihren erkrankten Frauen und Müttern hilft.“
Aber auch an Krebs erkrankten Männern selbst hilft sie: „Sie kommen auf der Straße auf mich zu und sagen: ‚Was Sie tun, ist großartig. Wissen Sie, Sie haben mir geholfen.‘ Ich glaube, das bringt die Leute dazu, sich zu akzeptieren und zu denken: Wenn sie es schafft, kann ich es auch.“
Mit ihren Läufen sammelt sie heute Spenden, arbeitet als Botschafterin für eine lokale Wohltätigkeitsorganisation. Bei einem Oben-Ohne-Schwimmen kamen 50.000 Pfund (rund 58.000 Euro) für die Brustkrebsstation eines Krankenhauses zusammen. Was will sie nun noch erreichen? Louise möchte gern einen Marathon in Paris und einen in Boston laufen. Und: Über die zehn Kilometer außerdem die schnellste Frau in ihrer Altersklasse werden. „Ich habe mich noch nie in einem Job, für den ich bezahlt wurde, so erfüllt gefühlt wie in dem, den ich jetzt mache.“
Außerdem verrät sie mit einem leichten Lächeln ein Geheimnis: „Es ist so viel besser. Ich bin ohne Brüste tatsächlich schneller. Das Gleichgewicht und meine Haltung beim Laufen sind anders. Es ist, als wüsste ich, wie es sich anfühlt, wenn ein Mann läuft. Ich liebe es. Ich denke, wenn mir jemand anbieten würde ein Paar Brüste anzuziehen – ich würde sagen, dass ich sie nicht haben will.“
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