Wimbledon vor 40 Jahren: Boris Becker ignorierte jegliche Tradition
Sensationell feiert Boris Becker vor genau 40 Jahren seinen ersten Wimbledon-Titel. Als 17-Jähriger hechtet er sich in die Herzen der Tenniswelt, sein Sieg und sein Spiel trotzen der Logik. Doch dann wird's tragisch: Der riesige Hype in Deutschland erdrückt den Teenager.
Er reißt die Arme schnurgerade in die Höhe, als wolle er sie für immer in den Himmel recken. Anschließend küsst und streichelt er die goldene Trophäe zärtlich, lässt sie nicht mehr los. Boris Becker gewinnt vor genau 40 Jahren seinen ersten Titel beim Wimbledon-Turnier. Als 17-Jähriger. Die Tennis-Welt traut ihren Augen nicht. London ist begeistert, ganz Deutschland infiziert. Es ist ein Moment, der für Becker alles verändert.
Grün hinter den Ohren, rotblond auf dem Kopf: Wie aus dem Nichts springt Teenager Becker am 7. Juli 1985 auf den Tennis-Thron. Im Finale besiegt er in vier umkämpften Sätzen den US-Amerikaner Kevin Curren, der im besten Turnier seines Lebens vorher die John McEnroe und Jimmy Connors, die Legenden hatten die vorangegangenen vier Wimbledon-Titel gewonnen, ausgeschaltet hat. Becker selbst bezeichnet Tag anschließend immer wieder als seinen zweiten Geburtstag, als seine persönliche Mondlandung. Und als den Tag, an dem sich sein Leben für immer ändert. Allerdings nicht nur zum Guten, wie er jüngst verrät. Doch dazu später mehr.
Es ist damals unmöglich, sich von der Freude des neuen Wimbledon-Champions nicht anstecken zu lassen. Lange bevor Becker den Pokal von der Herzogin und dem Herzog von Kent entgegennimmt, hat das Londoner Publikum ihn wegen seines atemberaubenden Spiels auf dem Heiligen Rasen längst ins Herz geschlossen.
"Becker-Rolle" und "Bum Bum"
Mit seinen Sprüngen, die schnell "Becker-Hecht" oder "Becker-Rolle" getauft werden, mit seinen stets mit Schmutz und Grasflecken verdreckten Shirts und Hosen wird er zum absoluten Liebling beim Rasenklassiker. So etwas hat man in London noch nicht gesehen. Seine kraftvollen Aufschläge (im Endspiel schlägt er 21 Asse) bringen ihm den Spitznamen "Bum Bum Becker" ein. Ein angeborenes Gespür für theatralische Gesten, die "Becker-Faust" nach einem gewonnenen Punkt, oder auch das Schimpfen mit sich selbst: Der in Leimen in der Nähe von Heidelberg geborene Jungspund ist ein Event für sich.
Vor allem aber lieben die Massen Becker, weil er der Logik des gesamten Tennissports trotzt, die besagt, dass er viel zu jung sei, um Wimbledon zu gewinnen. Mit seinen 17 Jahren wird er zum jüngsten Sieger in der Geschichte des Herreneinzels beim ältesten und wichtigsten Turnier der Welt - ein Rekord, der bis heute anhält. Sogar der Junior-Champion in jenem Jahr, Leonardo Lavalle aus Mexiko, ist älter als Becker.
Zum Vergleich: Pete Sampras und Roger Federer, spätere Wimbledon-Legenden, waren in dem jungen Alter noch längst nicht so weit und verloren als 17-Jährige jeweils in der ersten Runde. Rekord-Grand-Slam-Champion Novak Djokovic gewann 2005 mit 18 Jahren zwar ein Match auf dem Heiligen Rasen, aber es sollte noch sechs Jahre bis zum ersten Titel im Wimbledon dauern.
"Flutwelle" als Traditionsbruch
Boris Becker ist 1985 das geborene Babyface mit Killerinstinkt. Mit der Unbekümmertheit der Jugend ignoriert er die lange Tennistradition des Rasenklassikers und schnappt sich als erster ungesetzter Spieler die Krone von London. Achtmal zuvor hatten ungesetzte Spieler das Wimbledon-Finale bestritten, aber keiner von ihnen hatte auch nur einen Satz gewonnen.
Doch keiner von ihnen hatte den waghalsigen und rücksichtslosen Spielstil, der Becker 1985 sofort zum Publikumsliebling macht. Ein weiterer Traditionsbruch. Er ist ein hechtender Draufgänger mit blutigen Knien und Ellenbogen. Ein 17-jähriger Freigeist. Spielt brachialen Serve und Volley, als hänge sein Leben davon ab, so schnell wie möglich den Punkt zu machen. Matt Anger, sein Gegner in der zweiten Runde, vergleicht Beckers Spiel mit einer "Flutwelle".
Doch trotz einiger Power in seinen Schlägen und bereits grandiosen Returns: Beckers Spiel ist damals bei Weitem nicht komplett. Er ist kein Carlos Alcaraz, der momentan als Youngster in London für Furore sorgt. Vor allem nicht am Netz. Aber Becker hat einen unbändigen Willen und enorme Mentalstärke, er ringt seine Gegner förmlich nieder.
Becker weiß nicht, wie viel Geld er gewonnen hat
Im englischen TV sagt damals John Newcombe, der 1967 den bis dato letzten Deutschen im Wimbledon-Finale, Wilhelm Bungert, besiegte, in seiner Funktion als Kommentator über Becker: "Ihm sind keine Grenzen gesetzt. Er hat eine enorme Fähigkeit, mit Druck umzugehen." In der vierten Runde gegen Tim Mayotte muss Becker wegen einer Fußverletzung beinahe aufgeben. Sein Manager, Ion Tiriac, eilt illegalerweise durch das Publikum auf den Platz und überredet ihn, es noch mal zu probieren. Der Jungspund kämpft sich durch.
Als Becker nach dem Endspiel vor die Presse tritt, brechen die Medienschaffenden in spontanen Applaus aus. Und der neue Star am Tennishimmel hat keine Ahnung, dass er gerade 130.000 Pfund gewonnen hat. "Das ist viel, oder?", sagt er wie ein kleiner Junge. "Es war mein erster Sieg in Wimbledon und ich hoffe, dass es nicht mein letzter sein wird", fügt er hinzu. Dass der Center-Court sein persönliches Wohnzimmer werden sollte, kann damals noch niemand ahnen. Von 1985 bis 1991 gewinnt Becker 40 von 44 Spielen in Wimbledon und holt sich drei Titel in sechs Finalteilnahmen.
Als erster deutscher Wimbledon-Sieger fügt er hinzu: "Vielleicht wird mein Sieg die Stellung des Tennissports in Deutschland verändern, denn wir hatten noch nie zuvor ein Idol in dieser Sportart." In der Tat löst Becker mit seinem Triumph einen Tennisboom in Deutschland aus. Tennisschulen bringen damals Kindern gar bei, waghalsig nach Volleys zu hechten.
Märchen mutiert zum Albtraum
Doch der riesige Hype bekommt dem Teenager nicht. Sein Märchen mutiert zum Albtraum. "Drei Wochen nach dem Wimbledon-Sieg habe ich in Hamburg Davis-Cup gespielt, gegen die USA", erzählt Becker von wenigen Tagen in einer Rückschau dem "Stern". "Was da los war am Rothenbaum, diese Menschenmassen, diese Euphorie - das kannte man höchstens vom Fußball. Fürs Tennis war das völlig neu. Das ganze Land hat mich umarmt. Das war sicherlich nett gemeint, aber man hat mich fast erdrückt und mir die Luft zum Atmen genommen. Ich war immer ein freiheitsliebender Mensch, und plötzlich war diese Freiheit weg."
Gänzlich unbekannt ist Becker 1985 zwar nicht mehr, schließlich gewinnt er das Turnier im Queens-Club kurz vor Wimbledon. Dennoch sieht niemand in ihm einen ernsthaften Titelanwärter. Die britische BBC nennt Becker gar einen "unbekannten Außenseiter". Wenig später ziert er das Titelblatt der renommierten "Sports Illustrated" mit der deutschen Überschrift: "Das Wunderkind".
"Das Leben auf der Überholspur ist gefährlich", warnt Becker nun im "Stern". "Mich hat man früh als Wunderkind bezeichnet. Wunderkinder werden nicht besonders alt, weil die Geschwindigkeit so hoch ist, die ihr Leben hat. Davon kommt man nicht mehr runter. Ich kann nicht sagen: Ich will kein Wunderkind mehr sein, ich will den ganzen Zirkus nicht. Diese Entscheidungsfreiheit gibt es für jemanden wie mich nicht."
Abendessen mit Eltern
Nicht alle von Beckers Erinnerungen an den ersten Wimbledon-Triumph sind also positiv. Als Teenager ist sein Charakter 1985 noch nicht gefestigt, er sucht noch seine Persönlichkeit und seine Identität. Auch wegen des großen Sieges, der so rasant wie wuchtig kam, hätten die vielen Fauxpas in seinem Leben stattgefunden, sagt Becker. Immerhin: Nach einer Haftstrafe samt Einreiseverbot nach England darf er 2025, 40 Jahre nach dem Sensationstitel, wieder zurück nach Wimbledon.
Damals - nach den ersten "Becker-Rollen", nach den verdreckten T-Shirts und den krachenden Aufschlägen, die ihm die Trophäe bringen - ist der 17-Jährige ganz oben. Er trotzt der Logik und macht sich unsterblich. Sein letzter Satz zur Presse ist aber der eines kleinen Jungen, der seinen Platz in der großen, schillernden Welt des Tennissports noch finden muss: "Ich habe ein sehr gutes Match gespielt und werde jetzt mit meinen Eltern zu Abend essen und vielleicht ein Glas Champagner trinken."
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