Ein "Manifest" sorgt für Unruhe im politischen Berlin: Mehrere SPD-Politiker fordern eine sofortige Kehrtwende in der Außenpolitik – und gehen damit auch ihre Parteispitze offensiv an.

Es ist ein Angriff auf die schwarz-rote Bundesregierung und auf die eigene Parteiführung rund um Vizekanzler Lars Klingbeil: Prominente SPD-Politiker fordern in einem "Manifest" eine Abkehr von der Aufrüstungspolitik und direkte diplomatische Gespräche mit Russland. 

In ihrem Grundsatzpapier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt und über das zuerst der "Stern" berichtete, dringen die sogenannten SPD-Friedenskreise auf eine Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Von einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung sei Europa aktuell weit entfernt, beklagen sie und werben für Deeskalation und schrittweise Vertrauensbildung statt Rüstungswettlauf.

Brisanter Zeitpunkt

Unterzeichnet ist das Papier unter anderem von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans, Außenpolitiker Ralf Stegner sowie einzelnen Bundestags- sowie Landtagsabgeordneten. Ob alle der mehr als 100 Unterschriften von SPD-Mitgliedern stammen, wird nicht deutlich.

Brisant wird das "Manifest" auch durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung: Vor dem Parteitag Ende des Monats dürfte es für Unruhe in der SPD sorgen. Dann wollen die Sozialdemokraten nicht nur ihre Spitze neu wählen, sondern auch den Prozess für ein neues Parteiprogramm nach dem Debakel bei der Bundestagswahl beginnen. Kurz zuvor steht der Nato-Gipfel an, bei dem es um eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben gehen wird. 

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Diplomatische Kontakte zu Russland gefordert

Die Unterzeichner fordern, "nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa". Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen sei bereits eine behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte nötig. 

Dass der russische Präsident Wladimir Putin bisher kein Interesse an einem solchen Waffenstillstand zeigt, wird nicht erwähnt. Genauso wenig das folgenlose Telefonat des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz im November mit Putin. Oder dass dieser zuletzt immer wieder zeigte, wie wenig er von diplomatischen Vermittlungsversuchen unter anderem von US-Präsident Donald Trump hält.

Warnung vor "militärischer Alarmrhetorik"

Die SPD-Friedenskreise wenden sich zudem gegen eine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland und gegen die Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie beklagen, aktuell werde ein "Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg" beschworen, statt Verteidigungsfähigkeit mit Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen. 

Die Unterzeichner warnen: "Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen Nato und Russland." 

Politiker anderer Parteien zeigten sich entsetzt: "Wann wird begriffen, dass Russland nicht verhandeln und keinen Frieden will", schrieb der Unions-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter auf X. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann betonte: "Wir alle wünschen uns Frieden, und niemand sehnt ihn mehr herbei als die Menschen in der Ukraine. Leider wurden alle Versuche, einen Waffenstillstand zu erreichen oder Friedensgespräche zu führen, von Präsident Putin durchkreuzt und abgelehnt." Das Papier der SPD-Politiker blende ernste Realitäten aus und werde der wahren Bedrohung nicht gerecht. 

SPD ringt schon lange mit Aufarbeitung ihrer Russlandpolitik

Dass das "Manifest" nicht die Haltung der gesamten SPD widerspiegelt, zeigen die durchaus harschen Reaktionen. "Jetzt gerade? WTF?", fragte der Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler auf X. "Zusammenarbeit mit einem Kriegsverbrecher, der sich schon für die nächsten Ziele präpariert? Gute Nacht!" 

Fraktionschef Matthias Miersch distanzierte sich ebenfalls: Das Papier sei ein Debattenbeitrag, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile." Miersch sagte: "Natürlich bleibt Diplomatie oberstes Gebot. Aber wir müssen auch ehrlich sagen: Viele Gesprächsangebote – auch vom Bundeskanzler Olaf Scholz – sind ausgeschlagen worden. Wladimir Putin lässt bislang nicht mit sich reden."

Der ehemalige Abgeordnete Michael Roth kritisierte ebenfalls auf X: "Dieses „Manifest“ ist kein spannender Debattenbeitrag, sondern eine weinerliche Melange aus Rechthaberei, Geschichtsklitterung und intellektueller Wohlstandsverwahrlosung." Der frühere Abgeordnete Fritz Felgentreu kommentierte: "Die letzten sozialdemokratischen Protagonisten einer gescheiterten Politik und ehemalige Protagonisten, die sich hinter sie stellen, beschwören die Zauberformeln von 1982 - was in einer überalterten Partei durchaus Wirkung zeigen kann." Tatsächlich sind unter den Unterzeichnern auffällig wenig junge Politiker. Bei vielen, etwa Mützenich und Stegner, ist die Haltung bereits seit Jahren bekannt. 

Wie positioniert sich Parteichef Klingbeil?

Die SPD ringt schon seit langem mit der Aufarbeitung ihrer Russlandpolitik. Mit Spannung wird die Debatte beim Parteitag erwartet – denn auch im neuen Parteiprogramm dürften sich die Sozialdemokraten zu dem Thema positionieren. 

Die FDP-Europapolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte eine sofortige Erklärung der SPD-Spitze: "Das Schweigen von Lars Klingbeil und Matthias Miersch zum „Manifest“ ist ohrenbetäubend dröhnend", kritisierte sie auf X, bevor sich Miersch geäußert hatte. "Die SPD-Spitze muss sich sofort erklären, ob sie hinter der Außenpolitik der neuen Bundesregierung steht. Tut sie dies nicht, sollte der Bundeskanzler bereits jetzt über die Vertrauensfrage im Bundestag nachdenken."

dpa
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