Der Fußball braucht mehr Woltemades
Wo war Nick Woltemade? Die Spieler des VfB Stuttgart zelebrierten den Triumph im DFB-Pokalfinale in der Fankurve, ließen sich feiern, genossen die Ovationen. Man konnte sich groß fühlen als VfB-Profi in diesem Moment, übermächtig. 4:2 gegen Bielefeld, nicht über den Drittligisten gestolpert wie etwa zuvor Meister Leverkusen, Werder oder Freiburg. Im Gegenteil. Doch Nick Woltemade war nicht unter den Tollenden und Tobenden.
Er war auf dem Platz zu sehen, bei den geschlagenen und tief betrübten Bielefeldern. Ein paar warme Worte hier, eine herzliche Umarmung da, Händeschütteln, Abklatschen, ein mitfühlendes Lächeln – jeder Bielefelder Spieler bekam von Woltemade etwas Trost gespendet und Respekt bekundet.
Nick Woltemade ist 23 Jahre alt. Er hat die Saison seines bisherigen Lebens hinter sich, gerade gekrönt mit dem ersten großen Titel seiner Karriere. Er war kurz zuvor von Julian Nagelsmann zum ersten Mal in die Nationalmannschaft berufen worden. Und nun kümmerte er sich um das Seelenheil der Bielefelder Kollegen, spendete Zuspruch.
Dickes Plus auf Woltemades Karma-Karrierekonto
Den Weg der Bielefelder in dieses Pokal-Endspiel fand er „phänomenal“, sagte Woltemade, das habe er jedem Arminia-Spieler noch mal kurz sagen wollen. Er fand, „das gehört sich so“. Ist aber in dieser Form, mit dieser aufrichtigen Herzlichkeit eher selten in der Branche. Das darf Woltemade getrost als dickes Plus auf seinem Karma-Karrierekonto verbuchen.
Die Nationalmannschaft, die Liga, der VfB Stuttgart hat einen Spieler, der mehr und mehr hervorsticht. 1,98 Meter misst er, schon das ist eine Erscheinung. Treffsicher, technisch erstaunlich versiert – trotz seiner Größe. Er ist schlaksig, hat trotzdem sehr schnelle Beine, gute Ballführung, gutes Dribbling. Er ist auch in der Lage, Bälle festzumachen. So einen Stürmer würden sich viele gern backen wollen.
Diejenigen aber, die mit Woltemade eng zusammenarbeiten, loben im gleichen Atemzug auch immer seine Menschlichkeit, seine Bodenständigkeit. Ein normaler Kerl, der bereit ist zu arbeiten und zu lernen. Den man gern um sich und in der Mannschaft hat, weil sein Arbeitsethos und Charakter eine ziemlich Erfolg versprechende Kombination ist – für ihn selbst und nicht zuletzt für sein Team. Nick Woltemade würde man auch im Kreis der eigenen Freunde gern haben wollen.
Einfach tadellos und torsicher. Gegen Bielefeld bestritt er mit 22 Duellen die meisten Zweikämpfe. Bei seinem Treffer zum 1:0 hätte er auf dem Weg dahin dem Gegner auch nach einer Viertelstunde die Rote Karte einbrocken können.
Arminias Stefano Russo hatte Woltemade in seiner Not am Trikot festgehalten, viele wären in so einer Situation zu Boden gegangen. Platzverweis, Kontrahent geschwächt, gut ist. Woltemade aber griff nach hinten, löste sich so aus dem Trikotgriff und zog unbeirrt seine Bahn zum Tor. Das hatte Größe, das zeigt die Gier auf einen Treffer, die bei ihm größer war als die mögliche Theatralik.
Kein Zutrauen – VfB Stuttgart meldete ihn nicht für Champions League
Deutschland hat zweifelsohne wieder einen Vorzeigeprofi mit dem Potenzial zum Fanliebling. Einer, der von unten kommt, sich hochgearbeitet und nicht vergessen hat, wo er herkommt. Aus so einer Geschichte kann eine Saga entstehen.
Ausgebildet in der Jugendakademie von Werder Bremen, bis er 14 war auch ein sehr talentierter Handballspieler. Als junger Spieler wurde er zuweilen als „Stolpermade“ gehänselt. Von Werder dann im Sommer 2022 für eine Saison an den damaligen Drittligisten Elversberg ausgeliehen, im vergangenen Sommer ablösefrei vom VfB Stuttgart verpflichtet. Die Schwaben meldeten ihn nicht für die Champions League, das Vertrauen genossen andere. Und nun Deutschlands Hoffnung für die Nations League, voraussichtlich auch für die WM im nächsten Jahr.
Der Fußball, die Liga braucht mehr Woltemades. Für das Image und das Gefühl. Ein smarter Spieler, der gut spielen und reden kann, der Identifikationspotenzial und Vorbildfunktion hat, der Spielwitz besitzt und witzig ist, der mitreißen kann, weil er mitreißend ist. Vor allem aber: ein Mensch ist.
Bayerns Thomas Müller ist im deutschen Fußball nunmehr leider Geschichte. Mit Nick Woltemade aber hat ein ähnlicher Typ die Bühne betreten.
Patrick Krull ist Sportredakteur der WELT. Als Junge vom Dorf, wo besser keiner abhebt, damit es für ihn nicht ungemütlich wird, weiß er Bodenständigkeit wie die von Woltemade besonders zu schätzen.
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