Die Saison in der Handball-Bundesliga biegt auf die Zielgerade ein. Die Füchse Berlin führen die Tabelle derzeit an. Sechs Spiele trennen den Verein noch von der Meisterschaft. Im Interview spricht Stefan Kretzschmar, seit 2020 Sportvorstand der Berliner, über den nervenaufreibenden Schlussspurt in der Bundesliga.

Frage: Herr Kretzschmar, wir haben vor unserem Gespräch mit Bob Hanning – Ihrem Chef bei den Füchsen Berlin – gesprochen und wollten von ihm wissen, welche Frage er Ihnen gern mal stellen würde.

Stefan Kretzschmar: Oh, Gott!

Frage: Seine Frage an Sie: „Wann war der Zeitpunkt, an dem Sie überzeugt waren, dass das Konzept, mit vielen jungen Leuten bei den Füchsen zu spielen, wirklich funktioniert?“

Kretzschmar: Das ist ja harmlos (lacht). Ich fühle mich wohl mit der Zusammensetzung der Mannschaft. Die jungen Spieler haben große Schritte nach vorn gemacht. Da bin ich ehrlich: Das habe ich in der Qualität und Schnelligkeit nicht immer für möglich gehalten. Und Bobs Passion ist: die jungen Spieler zu fördern. Wir werden uns schon etwas breiter aufstellen müssen. Wir hatten oft strittige Gespräche, ob es nötig ist, noch zwei, drei externe Spieler dazuzuholen. Wann genau die Erkenntnis kam, dass es auch mit dem eigenen Nachwuchs geht, kann ich nicht sagen, weil wir uns in einem dynamischen Prozess befinden. Der Glaube an diese Mannschaft, auch an die jungen Spieler, wird immer größer. Wir werden den Weg mit vielen jungen Spielern weitergehen, auch wenn es ein Risiko ist. Weil es nicht der Weg ist, mit dem du jedes Jahr dominant um Titel spielst. Das ist in Magdeburg anders, wo man alles auf den Erfolg setzt und in der Einkaufspolitik kein Risiko eingeht und keine Fehler macht.

Frage: Wann holen Sie Ihren 17-jährigen Sohn Elvis zu den Füchsen, der zurzeit im Nachwuchs des SC Magdeburg für Furore sorgt?

Kretzschmar: Elvis ist ein guter Junge und hat in Magdeburg ein gutes Umfeld. Er macht dort jetzt seine Berufsausbildung mit Abitur. Das soll er mal ganz in Ruhe tun.

Frage: Viele wundern sich, dass mit Mathias Gidsel der beste Handballer der Welt bei den Füchsen spielt – und nicht bei wesentlich finanzstärkeren Vereinen wie Veszprem, Kielce oder Barcelona. Können Sie uns das erklären?

Kretzschmar: In erster Linie glaube ich, dass er sich sehr wohlfühlt und an unsere Entwicklungsmöglichkeiten glaubt. Außerdem ist die Bundesliga für die absoluten Wettkämpfer der reizvollste Wettbewerb. Der größte Basketballspieler der Welt käme wohl nicht auf die Idee, außerhalb der NBA zu spielen. Ebenso wenig käme der beste Handballer der Welt, Mathias Gidsel, momentan auf die Idee, außerhalb der Bundesliga zu spielen und sich nicht mehr mit den Besten der Welt Woche für Woche zu messen. Von seinem Charakter reizt es ihn mehr, den vermeintlich Größeren zu schlagen, als beim vermeintlich Größeren zu spielen.

Frage: Wie meinen Sie das?

Kretzschmar: Er ist auf einer Mission, in einem Tunnel. Er genießt es, mit den Füchsen Berlin zum ersten Mal in der Geschichte dieses Vereins etwas ganz Großes erreichen zu können. Und nicht Titel Nummer 45 mit Verein XY zu holen. In Berlin fühlt sich Gidsel unheimlich wohl, er genießt die Anonymität der Hauptstadt. Wenn man einmal mit ihm in Dänemark war, sieht man, was für ein Superstar er ist.

Frage: Und wie haben Sie es geschafft, dass Gidsel vorzeitig bis 2029 verlängert hat?

Kretzschmar: Bei allem Respekt vor den großen Vereinen in Europa, aber wir müssen uns nicht verstecken. Wir haben uns in den letzten Jahren entwickelt und sind eine gute Adresse im Welthandball geworden. Er glaubt an uns, und dafür sind wir ihm sehr dankbar. Durch die Verlängerung wollte er einfach ein Zeichen setzen und für sich persönlich Ruhe haben. Wir mussten ihn gar nicht groß überreden.

Frage: Der Ex-Handballer und Journalist Rasmus Boysen hat kürzlich bei X folgende Frage gestellt: „Ist die Verpflichtung von Mathias Gidsel die beste Neuverpflichtung des Handballs? Gemessen an der Entwicklung, die die Füchse seither genommen haben, gibt es kaum eine Verpflichtung, die da mithalten kann.“

Kretzschmar: Das kann man so sagen, aber es gab schon einige großartige Verpflichtungen im europäischen Handball. Unser Erfolg der vergangenen Jahre geht natürlich eindeutig einher mit Mathias Gidsel. Um Boysens Frage zu beantworten: Ja, Gidsel ist wohl eine der wichtigsten Neuverpflichtungen in der Geschichte des Handballs.

Frage: Der SC Magdeburg könnte sowohl in der Bundesliga als auch in der Champions League der Endgegner der Füchse werden: Wenn Sie Film-Regisseur wären – wie sähe das Drehbuch fürs Saisonende aus?

Kretzschmar: Der SC Magdeburg ist eine der besten europäischen Mannschaften. Sie sind ein absolutes Top-Team. Sie leisten tolle Arbeit und sind zum dritten Mal in Folge beim Final Four in Köln. Respekt! Wir sind nach 13 Jahren das erste Mal überhaupt wieder in der Champions League und haben auf Anhieb das Final Four erreicht. Und jetzt fahren wir dorthin, um zu gewinnen. In der Meisterschaft sind wir in der Poleposition und wollen sie bis zum Schluss verteidigen. Mein Motto und Drehbuchtitel ist seit einiger Zeit: „Keep going, keep growing!“

Frage: Wenn heute Nacht die gute Fee bei Ihnen vor der Tür steht und Ihnen einen Titel sicher zusagt. Welchen würden Sie nehmen: Deutsche Meisterschaft oder Champions League?

Kretzschmar: Deutscher Meister! Weil es der schwerste Titel ist. Weil es die brutalste und härteste Liga ist. Über eine gesamte Saison das beste Team zu sein bedeutet im Handball am allermeisten.

Frage: Neben Ihrem Vorstands-Job bei den Füchsen sind Sie auch Experte bei Dyn. Im Liga-Endspurt kommentieren Sie kein Spiel Ihrer direkten Konkurrenten im Titelkampf. Eine bewusste Entscheidung?

Kretzschmar: Ja. Da wir mit den Füchsen zurzeit nicht gerade im Niemandsland der Tabelle stehen, habe ich das für mich so entschieden.

Frage: Wie lange werden Sie die Doppel-Herausforderung Füchse-Vorstand und Dyn-Experte noch annehmen?

Kretzschmar: Ich empfinde aktuell sehr viel Spaß an beidem. Den Vertrag bei Dyn habe ich gerade verlängert. Dyn ist eine überragende Plattform und ein echtes Zuhause für alle Handballfans. Der Vertrag bei den Füchsen geht noch ein Jahr. Ich werde im Sommer mal die Saison Revue passieren lassen und mir Zeit nehmen, um über meine Zukunft nachzudenken.

Frage: Wenn Sie so viel Spaß empfinden, können Sie ja ohne Bedenken bei den Füchsen verlängern.

Kretzschmar: Das werden wir sehen. Die Entwicklung der letzten Jahre ist beeindruckend. In der öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung machen wir einen großen Schritt nach vorn, die Schmeling-Halle ist ständig ausverkauft. Der Weg ist gut, aber nicht immer der leichteste, weil man sich mit mehr Geld sicheren Erfolg schneller kaufen könnte. Ist unser Weg am Ende der sympathischere? Wahrscheinlich ja. Bob Hanning hat großen Anteil an diesem Weg und diesem Erfolg, und wir werden uns dann zu gegebener Zeit zusammensetzen. Ganz klar.

Frage: Wenn man Sie während der Füchse-Spiele auf der Tribüne beobachtet, sieht man Sie vor allem still mitfiebern und leiden. Wie halten Sie die Anspannung aus? Würden Sie am liebsten einmal während der Partie in der Halle eine rauchen, um Dampf abzulassen?

Kretzschmar: Ich bin in der Tat sehr nervös. Das gebe ich offen zu. Während eines Spiels darf man mich eigentlich nicht ansprechen. Es ist brutal, wenn du nicht eingreifen und nur zuschauen kannst. Momentan macht es mir die Mannschaft allerdings einfach und uns alle sehr glücklich. Zudem habe ich meine Rituale am Spieltag.

Frage: Welche Rituale sind das?

Kretzschmar: Am Spieltag muss ich nach dem Aufstehen Kaffee aus meiner Füchse-Tasse trinken. Dann steige ich für 45 Minuten aufs Ergometer, damit ich auch meinen sportlichen Teil erledigt habe. Dann ziehe ich nach dem Duschen die Füchse-Socken an, lege die Apple Watch an, wo auf dem Bildschirm der Fuchs aufleuchtet. In der Halle habe ich einen Glücksstein von meiner Frau, den ich während des Spiels in der Hand halte.

Frage: Die gesamte Zeit?

Kretzschmar: Die gesamte Zeit. In der linken Hand, wenn der Angriff des Gegners läuft – in der rechten, wenn unser Angriff läuft. Bei über 70 Toren pro Spiel wechselt der Stein ganz schön oft die Hand.

Frage: Wann planen Sie Ihr nächstes Tattoo?

Kretzschmar: Ich glaube, mit dem Thema Tätowierungen habe ich abgeschlossen. Es ist alles verarbeitet und dargestellt. Mit 52 muss ich mich diesen Schmerzen nicht mehr aussetzen. Obwohl: Im Fall eines Titelgewinns könnte vielleicht noch eine kleine Stelle freiwerden.

Frage: Dann suchen Sie sich schon mal ein hübsches Motiv aus. Schließlich hat Bob Hanning gesagt, dass er an den Gewinn der Champions League glaubt – und nach den Siegen in Kiel und gegen Hannover zuletzt sogar ans Double.

Kretzschmar: Als er das gesagt hat, vor dem Viertelfinale gegen Aalborg, bin ich nicht mitgegangen. Wenn man nun für das Final Four in der Champions League qualifiziert ist, fährst du nicht dahin, um Dritter zu werden. Da hat sich das Mindset geändert. Aber wir sind die gesamte Saison gut damit gefahren, uns immer nur aufs nächste Spiel zu konzentrieren.

Frage: Schöne Floskel.

Kretzschmar: Aber wahr. Wir sind zwar Erster, aber punktgleich mit Melsungen. Dahinter steht der SC Magdeburg mit einem Punkt Rückstand. Es sind noch sechs Spiele für uns, hinter jeder Ecke lauert Gefahr. Also immer schön die Nerven behalten.

Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.

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