Es ist ruhig um ihn geworden. Und das schon seit Jahren. Dabei ist Andreas Wecker der erfolgreichste Kunstturner der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er gewann die meisten Medaillen bei Sommerspielen und Weltmeisterschaften und ist der Einzige in seiner Sportart, der sich sowohl für die DDR als auch die Bundesrepublik mit olympischem Edelmetall schmücken konnte. Sein Leben nach der Sportkarriere hingegen verlief lange alles andere als glorreich. Zwei Scheidungen, Verschuldung und Privatinsolvenz ließen den Olympiasieger am Reck von 1996 derart verzweifeln, dass er sich das Leben nehmen wollte.

Später litt er an der schweren Darmkrankheit Morbus Crohn, erst nachdem ihm ein Freund geraten hatte, als Ergänzung zu den Medikamenten Leinsamenöl einzunehmen, hätten sich seine Beschwerden gebessert, sagt er. Vor 17 Jahren wanderte Wecker in die USA aus, kappte danach fast alle Kontakte in seine Heimat. Der Neustart in Los Angeles mit seiner Vision, dort gesundheitsfördernde Pflanzensamenöle herzustellen und zu vertreiben, begann zunächst wenig vielversprechend. Erst nachdem er auf Online-Versand umgestellt hatte, stiegen die Umsätze seiner Firma „Andreas Seed Oils“ im ersten Jahr auf 1,5 Millionen Dollar. Wecker wohnt im beschaulichen Bend, dem Wintersportzentrum im Bundesstaat Oregon, sein Unternehmen liegt nur knapp fünf Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt.

„Ich bin stolz auf das, was ich mir geschaffen habe“, sagt er und zeigt das auch gern, als er durch sein sonnenlichtdurchflutetes Büro, die beiden großflächigen Produktionshallen und sein Privatanwesen mit vier Schlafzimmern und drei Bädern führt. Es ist ein großes Zuhause, in dem er seit der Trennung von seiner zweiten Ehefrau allein lebt. Memorabilia, die an seine Ära als Turnstar erinnern, sucht man hier jedoch vergebens. Davon trennte er sich notgedrungen vor dem Abflug nach Übersee, als er WM- und Olympiamedaillen wegen seiner finanziellen Probleme versteigerte. Eine besondere Ehrung will er demnächst aber doch in seinem Haus zeigen: Am 17. Mai wird er in Oklahoma City in die „International Gymnastics Hall Of Fame“ aufgenommen. „Und diese Trophäe“, versichert Wecker, „behalte ich auf jeden Fall.“

WELT AM SONNTAG: Herr Wecker, Sie sind schon lange nicht mehr als Leistungssportler aktiv. Was bedeutet es Ihnen, nach vielen Jahren jetzt in den Turnolymp, die „Hall Of Fame“, aufgenommen zu werden?

Andreas Wecker: (holt tief Luft) Wissen Sie, ich kann diese Würdigung noch immer nicht richtig fassen, obwohl ich nun schon seit sieben Wochen davon weiß. Als Bart Conner mich anrief …

WELT AM SONNTAG: … der Megastar des amerikanischen Turnsports …

Wecker: Ja, als er mir von dieser bevorstehenden Ehrung erzählte, musste ich mich erst einmal hinsetzen. Ich bekam feuchte Augen, musste weinen. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. Mein letzter großer Erfolg, der Olympiasieg von Atlanta, liegt fast 30 Jahre zurück. Ich dachte, man hätte mich längst vergessen, zumal ich seit Ewigkeiten nichts mehr mit dem Turnen zu tun habe. Und auch sonst bin ich, von ein, zwei Ausnahmen abgesehen, nur von Menschen umgeben, die gar keine Beziehung zum Turnen haben. Ich freue mich riesig und fühle mich unheimlich geehrt durch meine Aufnahme in die Ruhmeshalle. Diese Auszeichnung beweist mir, dass ich doch noch nicht in der Versenkung verschwunden bin und als Sportler tatsächlich etwas Außergewöhnliches geleistet habe.

WELT AM SONNTAG: Hatten Sie daran gezweifelt?

Wecker: Das nicht. Aber die vielen Jahre, die mittlerweile vergangen sind, lassen Erinnerungen verblassen – auch bei mir. Zumal ich mich nach der Leistungssportzeit vielen Herausforderungen stellen musste, die wesentlich schwieriger zu meistern waren als das Erlernen eines Turnelements oder das erfolgreiche Bestreiten eines Wettkampfes. Sie glauben gar nicht, wie oft ich durch die Hölle gegangen bin. Was auch daran lag, dass ich immer sehr direkt bin, und das bin ich noch immer. Ich sage, was mir auf der Zunge brennt, was mir am Herzen liegt, was aus meinem Gehirn rausmuss. Warum sollte ich mich auch zurückhalten? Ich habe ja nie etwas Böses oder Unrechtes getan. Ich kann auch partout nicht lügen, ich hasse das, sie würden es mir sofort anmerken, wenn ich das täte.

WELT AM SONNTAG: Am 3. September 2007 reisten Sie mit Ihrer zweiten Ehefrau und Tochter in die USA aus und brachen alle Kontakte nach Deutschland ab. Warum taten Sie das?

Wecker: Es war reiner Selbstschutz. Ich sah keine andere Möglichkeit, um negative Einflüsse von mir fernzuhalten. Wäre ich in Deutschland geblieben, wäre ich definitiv über kurz oder lang vor die Hunde gegangen. Ich war fertig mit Deutschland und Deutschland mit mir. Ich hatte nichts mehr, bin mit einem Koffer über den großen Teich geflogen. Ich hatte schon die Olympiamedaillen und alle anderen Sportutensilien veräußert. All diese Dinge, die ich in der Vergangenheit errungen hatte, waren mir nichts wert in dem Moment, wo ich alles verlor, wo mir niemand mehr half. Die erste Scheidung kostete mich ein Vermögen. Es gab Wochen, in denen ich täglich überlegen musste, wo ich Geld zum Essen kaufen herbekomme.

WELT AM SONNTAG: Das hört sich dramatisch an.

Wecker: Das war es auch. Ich konnte keinen Unterhalt für meine erste Tochter zahlen, keine Wohnungsmiete, befand mich in der Privatinsolvenz. Alles, was ich versucht hatte, aufzubauen, wie das Wellness-Center in Wandlitz, funktionierte nicht. Heute ist mir bewusst, dass ich mir mein Berufsleben aufgrund meiner sportlichen Erfolge und meines manifestierten Glaubens an das Gute im Menschen zu einfach vorgestellt hatte. So wurde ich leider auf brutale Art eines Besseren belehrt. Durch meine Gutmütigkeit bin ich oft übers Ohr gehauen worden.

WELT AM SONNTAG: Was Ihnen in Ihrer Ausweglosigkeit um ein Haar Ihr Leben gekostet hätte. Am späten Vormittag des 5. März 2004 rasten Sie mit Ihrem Opel Omega kurz nach dem Autobahndreieck Oranienburg auf der A 10 mit über 200 Stundenkilometer in eine Baustelle. Als Sie direkt auf einen Brückenpfeiler zusteuern wollten, ließ sich das Lenkrad nicht bewegen.

Wecker: Ja. Ich fuhr anschließend auf den nächsten Parkplatz, schaute in den Himmel und sagte: „Gott, wenn du existierst, dann musst du zu mir kommen.“

WELT AM SONNTAG: Seitdem empfinden Sie eine sehr enge Verbindung zu Gott, eine Zeit lang waren Sie sogar als Wunderheiler im Namen des Herrn unterwegs. Welche Bedeutung hat diese Beinahe-Katastrophe auf der Autobahn für Ihr heutiges Leben?

Wecker: Diese Situation habe ich eigentlich immer vor Augen in Form von Dankbarkeit. Es war nun einmal der Moment, der mein Leben grundlegend verändert hat. Durch die göttliche Fügung wurde mir bewusst, dass man im Chaos nichts kreieren kann. Es stimmt, dass in der Ruhe die Kraft liegt. Bevor ich in den sozialen Abgrund schlitterte, brach ich körperlich komplett zusammen, danach wurde ich zum Psychosomatiker, heute bin ich ein vollkommen ausgeglichener Mensch. Ich bin erwachsen geworden.

WELT AM SONNTAG: Ein Erwachsener, der zwei Jahre nach diesem traumatischen Erlebnis mit seinem Leben rang. Die Ärzte diagnostizierten bei Ihnen die Darmerkrankung Morbus Crohn, gaben Ihnen zehn, maximal 15 Jahre Lebenszeit. Sie verloren binnen sechs Wochen 20 Kilogramm, hatten Haarausfall und Knochenschwund. In der ersten Nacht Ihres siebenwöchigen Krankenhausaufenthalts bekamen Sie acht Bluttransfusionen.

Wecker: Und täglich 33 Tabletten. Was aber keine wirkliche Heilung brachte. Die Ärzte sahen als letzten Ausweg nur eine Operation, bei der ein großer Teil meines Verdauungstrakts entfernt werden sollte. Für mich war das keine Option, deshalb habe ich mich auch selbst entlassen. Ein Freund riet mir, täglich frisch gepresstes Leinsamenöl als Ergänzung zur Behandlung einzunehmen. Sehr schnell fühlte ich mich besser und konnte die Tabletten absetzen. Dabei entstand auch die Vision, in Amerika mit eigenen Ölpressen Gesundheitsöle zu produzieren. Am Anfang zahlte ich sehr viel Lehrgeld. Zwischenzeitlich arbeitete ich in Los Angeles als Gärtner, schlief mit der Familie im Wohnwagen auf einem Parkplatz. Mein Vorhaben verlor ich aber nie aus den Augen.

WELT AM SONNTAG: Erst die Umstellung auf den Online-Versand brachte Millionen-Umsätze. Leben Sie seitdem den amerikanischen Traum?

Wecker: So kann man es formulieren.

WELT AM SONNTAG: Und dieser Traum ist auch durch die viel kritisierte, chaotische Wirtschaftspolitik von US-Präsident Trump nicht bedroht?

Wecker: Warum sollte er? Die Firma gehört mir seit fünf Jahren allein, sie steht auf solidem Fundament. Immer wieder bekomme ich Angebote, sie für sehr viel Geld zu verkaufen, oder dass Investoren mit einsteigen wollen, doch ich werde einen Teufel tun. Mit meinen sechs Mitarbeitern stelle ich durch ein von mir entwickeltes Pressverfahren 15 verschiedene, hochwertigste Gesundheits-Samenöle her, die es sonst nirgendwo zu kaufen gibt. Sie werden in 200-Milliliter-Flaschen aus einem speziellen Glas abgefüllt, die ich in Deutschland fertigen ließ, damit die organischen Inhaltsstoffe länger haltbar sind. Ich besitze auch mehrere Patente für die Technologie meiner Saatpressmaschinen. Meine Anlage ist biozertifiziert. Wir haben über 8000 feste Kunden, darunter viele aus Hollywood, deren Namen ich aber nicht preisgeben darf.

WELT AM SONNTAG: Wie hoch ist Ihr aktueller Jahresumsatz?

Wecker: Über Geld möchte ich nicht reden. Und, um noch einmal auf Trump zurückzukommen, den Sie angesprochen haben: Ich verfolge natürlich, was er fabriziert, und bin gespannt, wohin das führt. Ich möchte das aber jetzt noch nicht werten, sondern konzentriere mich auf das, was ich zu tun habe, damit es weiter so gut läuft.

WELT: Verfolgen Sie auch, was in Deutschland politisch passiert?

Wecker: Ein wenig schon. Mein Eindruck ist, dass sich Deutschland immer mehr selbst abschafft. Aber ich bin zu weit weg, um mir ein Urteil erlauben zu können. Ich habe auch keinen Plan, mal wieder in die alte Heimat zu reisen. Warum sollte ich das auch tun? Amerika ist für mich lebenswerter als Deutschland. Mir geht es gut hier.

WELT AM SONNTAG: Sie wirken auf jeden Fall sehr durchtrainiert und gut in Form. Man könnte fast meinen, Sie wollten ein sportliches Comeback starten.

Wecker: Möglich ist alles … Ich bringe inzwischen wieder mein Wettkampfgewicht von 64 Kilogramm auf die Waage. Jeden Tag, wenn ich nachmittags aus der Firma komme, trainiere ich mindestens zwei Stunden intensiv im Gym. Ich mache vor allem viel Kraftausdauer in Form von Klimmzügen am Reck, Beugestütze am Barren, Handstanddrücker, Kniebeuge oder arbeite mit Gewichten. Ich bin richtig fit. Im Gym staunen sie immer nur, manchmal erhalte ich sogar Applaus.

WELT AM SONNTAG: Bekamen Sie denn jetzt auch aus Ihrer alten Heimat Anerkennung für Ihre Aufnahme in die Hall Of Fame?

Wecker: Von den früheren Sportlern hat sich einer gemeldet, um mir zu sagen, wie sehr er sich für mich freut. Es war Holger Behrendt, …

WELT AM SONNTAG: … der DDR-Olympiasieger von 1988 an den Ringen, der mit Ihnen in der Mannschaftswertung auch noch olympisches Silber gewann.

Wecker: Holger meinte es immer ehrlich mit mir. Er ist ein wahrer Freund und das nun schon seit fast 40 Jahren. Leider bekam er nie die Wertschätzung, die er verdient hat.

WELT AM SONNTAG: Sind Sie heute ein glücklicher Mensch?

Wecker: Ja, aber nicht, weil ich keine finanziellen Sorgen mehr habe, sondern weil ich anderen Menschen helfen kann, ihr Leben lebenswerter zu machen.

Zur Person

Als Kind des DDR-Sports durchlief er ab dem siebten Lebensjahr das dortige Sichtungs- und Auswahlsystem. 1979 kam er zur Kinder- und Jugendsportschule nach Berlin. Als erster deutscher Kunstturner nahm der am 2. Januar 1970 in Staßfurt geborene Athlet an vier Olympischen Spielen teil. Der 13-malige Landesmeister gewann 21 Medaillen bei Sommerspielen, Welt- und EM-Championaten. Am Reck siegte er bei der EM 1989 und 1992 sowie bei der WM 1995 und den Sommerspielen 1996. Vergeblich versuchte er nach dem Karriereende im Herbst 2000 ohne Berufsabschluss als Anlageberater, Partyturner, Autoverkäufer, Geschäftsführer eines Fitness-Centers und Zirkus-Artist eine Existenz aufzubauen. Sein Haus wurde zwangsversteigert. Er verkaufte seine Olympiamedaillen, meldete Privatinsolvenz an, wollte sich das Leben nehmen. 2007 ging er in die USA, gründete eine Firma als Produzent von Pflanzenkeimölen. Seit 2013 lebt er in Bend im US-Bundesstaat Oregon, ist zweimal geschieden und hat zwei Töchter.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke