Nachdem sie eine halbe Stunde erzählt hat über ihren Temporausch und die PS-Schlacht, sagt Jndia Erbacher: „Keine Frage, ich bin nicht ganz dicht.“

Was sie tut, findet selbst sie nicht normal. Drag Racing nennt sich ihre Leidenschaft, es ist die schnellste, lauteste, extremste und gewiss auch schrägste Klasse im Motorsport. Von 0 auf 100? Vergehen 0,6 Sekunden. Der Motor im Nacken? Droht ständig zu explodieren. Ihr Maximaltempo? 513 km/h. In Worten: fünfhundertdreizehn!

Erbacher ist 30 und die amtierende Europameisterin im Geradeausblochen. Wobei sie nicht nur die schnellste Frau ist auf dem Kontinent: In der Gesamtwertung ließ sie auch sämtliche Männer hinter sich, geschlechtergetrennte Meisterschaften gibt es nicht. In England, Schweden und Deutschland finden pro Saison fünf Rennen statt, gefahren wird im 1-gegen-1-Format. Stellt die Ampel auf Grün, geht es in so gewaltiger Manier los, dass der Zuschauer dem Geschehen kaum folgen kann – in weniger als 4 Sekunden ist die 1000 Fuß (304 Meter) lange Strecke absolviert. Unvorstellbar sei das, sagt die Schweizerin. „Die Reifen sind konstant leicht am Durchdrehen. Es fühlt sich an, als würde ich auf Eis fahren und dabei enorm beschleunigen.“

Erbacher brach sich wegen der Beschleunigung einen Lendenwirbel

Ultrakurze Rennen, keine Kurven, so schwierig kann das doch nicht sein – es sind Annahmen, mit denen Erbacher immer wieder konfrontiert wird. Die Baslerin bietet in solchen Fällen immer eine Fahrt im Boliden an, „aber da traut sich dann doch nie einer“. Die größte Herausforderung sei denn auch, sich zu überwinden. „So blöd es aus meinem Mund klingt, aber es braucht Eier, um in dieses Auto zu sitzen und aufs Gas zu drücken.“

Es sei ein ständiger Kampf gegen das Ausbrechen des Hecks und den Kontrollverlust, „mache ich einen Fehler, könnte ich in der Mauer landen“, sagt Erbacher. In der Beschleunigungsphase wirken Kräfte von bis zu 6 g, die für Menschen nur eine kurze Zeit auszuhalten sind, nach dem Bremsen werden daraus innerhalb von Sekundenbruchteilen minus 4 g. Was der Körper erst mal aushalten muss. Erbacher brach sich deswegen einmal einen Lendenwirbel.

Von gravierenden Unfällen ist sie bisher verschont geblieben. Den Zusatz bisher scheint es zu brauchen, wenn es um Drag Racing geht, zu spektakulär sind die Aufnahmen von in die Luft fliegenden Autos oder in Flammen stehenden Motoren. Im vergangenen Jahr kam in einer tieferen Rennserie ein Fahrer ums Leben, trotz der horrenden Tempi ereignen sich aber erstaunlich wenige folgenschwere Crashs.

Sitzt Erbacher am Steuer, ist sie quasi gefesselt, „als würde ich in einer Zwangsjacke stecken“, sagt die Siegerin mehrerer EM-Rennen. Der Kopf wird fixiert, Hände und Beine werden festgeschnallt, 30 Minuten lang kann sie sich kaum bewegen. Sollte sich das Auto mehrfach überschlagen, ist sie zumindest vor dem Rausfliegen geschützt.

Angetrieben wird die 11 Meter lange Maschine von Nitromethan, flüssigem Sprengstoff also, der auch für Raketentreibstoff verwendet wird. Explodierende Motoren seien an der Tagesordnung, sagt Erbacher, „es wird sehr heiß, und ich spüre, wie die Flammen von hinten ins Cockpit drängen und dann wieder zurückgehen“. Von der Unterwäsche über Schuhe bis zum Helm ist alles feuerfest, der Rennanzug besteht aus acht Lagen, Handschuhe braucht sie zwei Paar. Das Anziehen sei eine Tortur, sagt Erbacher, „und wenn es wie an gewissen Rennen fast 40 Grad ist, hält man es kaum aus“.

Selbst die stärksten Bremsen der Welt reichen nicht

Der pfeilschnelle Dragster lässt sich nur mit Fallschirmen bremsen, diese löst Erbacher selbst aus. Mit normalen Bremsen allein würde es nicht funktionieren, „müssten sie die ganze Last tragen, würden sie verglühen, auch wenn es die stärksten Bremsen der Welt sind“, sagt die Rennfahrerin.

Bis zu 15 Helferinnen und Helfer begleiten Erbacher an einem Rennen, es sind alles Freiwillige, denn so professionell das Team auch arbeitet, Geld verdient es keines damit. Im Gegenteil: Ein Rennwochenende kostet Erbacher und ihre Entourage rund 53.000 Euro. Und es wird weitaus mehr, wenn ein Motor explodiert.

Ende Mai beginnt in England die neue Europameisterschaft. Unterwegs ist das Team mit einem riesigen Lastwagen und einem Vorzelt, das zur improvisierten Werkstatt wird. Übernachtet wird im Lastwagen, 15 Leute in Stockbetten, auf engstem Raum. Von Lagerfeueratmosphäre spricht die aus Basel stammende Frau, die bis vor kurzem jeweils sogar fürs ganze Team kochte. „Privatsphäre gibt es an den Rennen keine. Aber das verbindet auch.“

Ohne große Unterstützung ginge es nicht, zumal das Auto nach jedem Kurzeinsatz völlig auseinandergebaut wird. Einige Kolben halten nur eine Fahrt aus, die Kupplung muss optimiert und die Ölwanne entfernt werden. „Würden wir nicht alles neu zusammensetzen und gleich weiterfahren, wäre eine Explosion fast schon garantiert“, sagt Erbacher.

Allein wegen des Teams hat Erbacher überhaupt erst mit der waghalsigen Tempojagd begonnen. Lange saß Vater Urs, eine Legende im Drag Racing, am Steuer des Boliden, als er seinen Rücktritt ankündigte, fürchtete sich die Tochter davor, dass die Clique auseinanderbrechen könnte. „Meine Cousins gehören zum Team, meine beste Freundin auch, sie hat sogar gelernt, wie man an einer Kupplung herumschraubt. Wäre es vorbei gewesen, hätten wir keinen Grund mehr gehabt, uns einmal pro Woche am Abend zu treffen und eine gute Zeit zu haben.“ Der Vater wollte ihr das Fahren erst verbieten, dank eines Spenders aber hatte Erbacher, die als Jugendliche über Hindernisse ritt, die Lizenz bereits in der Tasche. Aus einer Pferdestärke sind rund 11.000 geworden.

Den Klimaaktivisten geht Erbacher aus dem Weg

Mittlerweile ist Erbacher auch die Managerin des Rennstalls, der sich mit Showveranstaltungen sowie dank Gönner- und Sponsoringbeiträgen finanziert. Es ist eine Herausforderung, an Partner zu gelangen, gerade in der heutigen Zeit mit den Nachhaltigkeitsvereinbarungen. Vorwürfe hört Erbacher immer wieder, „aber die Klimaaktivisten sind nicht die Leute, mit denen ich verkehre – diese Art von Menschen meide ich“, sagt sie nur. Ihr ökologischer Fußabdruck sei nicht der beste, „aber andere bestellen ihre Unterhosen dafür bei Temu. Ich kann nach wie vor in den Spiegel schauen“.

Beschrieben wird Erbacher als Rebellin, dass sie sich einst fürs Männermagazin „Playboy“ ablichten ließ, passt ganz gut dazu. Sie habe damit einiges klarstellen wollen, sagt Erbacher. „Viele denken, im Motorsport könnten nur eher maskuline Frauen bestehen. Ich hingegen trage, wann immer möglich High Heels, mache mir die Nägel, lege viel Wert auf Kleidung. Damit verkörpere ich das Gegenteil. Wenn man so will, beweise ich, dass auch die blonde Tussi so etwas im Griff haben kann.“

Eine zierliche Frau neben dem 11-Meter-Boliden – das Bild passt an und für sich ganz gut. Denn so brachial Drag Racing auch sein mag, so fragil und feinfühlig ist das Ganze auch. Erbacher sagt: „Ist die kleinste Schraube falsch angezogen oder mache ich eine minimale Fehllenkung, kann es böse enden.“ Daher nimmt sie auch mal den Fuß vom Gas, wenn sich beim Fahren etwas seltsam anfühlt. „Der Wunsch zu überleben, ist definitiv größer als der Ehrgeiz.“

Erbacher arbeitet als stellvertretende Leiterin im Lehrbetriebsverbund und als Ausbildungscoach, der Bürojob ist der Ausgleich zum Nervenkitzel auf der Rennstrecke. Einen gewaltigen Adrenalinschub erlebt sie jeweils, wenn sie losrast, „ich habe nie Drogen konsumiert, aber so muss sich ein Rausch anfühlen“. Nach diesem Kick sei sie süchtig, sagt Erbacher. Sie weiß: Dieses Gefühl ist alles andere als normal.

Dieser Text erschien zuerst in der Schweizer Zeitung „Tages-Anzeiger“, die wie WELT zur Leading European Newspaper Alliance gehört.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke