Kimmich jagt seine allerletzte Chance
Beim FC Bayern kann Joshua Kimmich die Spielzeiten, die er ohne Titel abgeschlossen hat, an einer Hand abzählen. Bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist die Aussicht schwieriger, nach dem Dämpfer im Sommer wartet das große Ziel.
Es gibt einen Satz, der beschreibt den Fußballer Joshua Kimmich erstaunlich gut. Er fiel in den Katakomben des Budapester Stadions, im vergangenen November. Die DFB-Elf hatte sich gerade mit einem fürchterlich schwerfälligen 1:1-Remis gegen Ungarn in die Winterpause verabschiedet. Das Ergebnis war egal, alle wollten nur möglichst unverletzt in den Weihnachtsurlaub huschen. Und während man sich im Keller der Arena wieder aufwärmte und von der fußballerischen Nicht-Leistung erholte, erinnerte Kimmich direkt an den Ernst der Lage. "Die WM-Vorbereitung beginnt auch nicht erst zwei Wochen davor, sondern sie ist schon gestartet", sagte er.
Das Schöne ist, dass in diesem Satz gleich zwei Aussagen stecken, die immer noch gültig sind. Zum einen: Jedes Spiel ist wichtig, damit ist das Duell am Abend in Bratislava gegen die ersatzgeschwächte Slowakei (20.45 Uhr/ARD und im Liveticker bei ntv.de) nicht irgendein WM-Qualispiel, sondern der Auftakt in die WM-Saison. Im komplizierten Kalender der Nationalteams, in dem es dank der Nationenliga mittlerweile jährlich einen Titel gibt, strahlt schließlich ein Fixpunkt über allen anderen: die WM in den USA, Kanada und Mexiko.
Zum anderen: Es gibt einen Grund, weshalb Kimmich dieses Turnier so wichtig ist. Denn Weltmeisterschaften und er - bislang liefert das wenig Stoff für Heldengeschichten. Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kann zwar mittlerweile mehr als 100 Länderspiele vorweisen. Jedoch ist er das einzige Mitglied des elitären Klubs um Lothar Matthäus, Rudi Völler, Philipp Lahm und Co., das keine Nachbildung des WM-Pokals in seinem Trophäenschrank stehen hat. Mit seinen mittlerweile 30 Jahren ist die Reise über den großen Teich womöglich auch die letzte Chance, um das zu ändern.
"Viele Dinge sehr schlecht"
Schon im Juni, ein halbes Jahr später, musste er seine Kollegen an die Worte aus Budapest erinnern. Die DFB-Elf hatte das Halbfinale der Nations League mit 1:2 gegen Portugal verloren. Viel schlimmer als das Ergebnis war aber die Leistung. "Wir waren zu weit weg von unserem Limit", sagte der ernüchterte Kimmich, diesmal im Bauch der Münchner Arena. "Ich habe nicht gemerkt, dass wir eine Siegermentalität haben, dass wir eine gewisse Gier haben, dass wir ins Finale wollen." Selbst nach der 1:0-Führung habe es sich für ihn nicht danach angefühlt, als wolle man ins Endspiel einziehen. "Ich glaube, da waren viele Dinge heute sehr schlecht."
Die Sensoren sind beim DFB-Kapitän nicht ohne Grund feiner kalibriert. Kimmich wartet immer noch darauf, mal eine dauerhaft erfolgreiche Phase mit dem Nationalteam zu haben. "Bisher habe ich viele Tiefen und Höhen mit dem DFB-Team erlebt", sagte er vor ein paar Wochen, die Floskel "Höhen und Tiefen" ist dabei bewusst verdreht. Denn die Tiefpunkte überwiegen ganz klar die Jubelmomente. "Als deutsche Nationalmannschaft geht man in jedes Turnier, um den Titel zu gewinnen. Wir müssen uns aber auf die Dinge konzentrieren, die wir beeinflussen können."
In der jüngeren Historie liefen die Dinge jedoch eher gegen die DFB-Elf - egal, ob sie diese beeinflussen konnten oder nicht. Die Geschichte ist oft erzählt. Kimmich, der Ehrgeizling, der zum DFB-Team kam und mit ihm nichts mehr gewann. Er kommt zur Nationalelf (übrigens mit einer Niederlage gegen die Slowakei vor neun Jahren), als die Ära von Joachim Löw ihren Höhepunkt überschritten hat. Bei der EM 2016 erlebt er aus nächster Nähe, wie das DFB-Team das (vorerst) letzte Mal erfolgreichen Fußball spielt - aber im Halbfinale gegen Frankreich ausscheidet.
Die Aussichten werden danach deutlich trüber. "Wir hatten zuletzt einige Turniere, die nicht erfolgreich waren. Besonders die Weltmeisterschaften waren nicht erfolgreich. Wir möchten nun versuchen, es besser zu machen", sagte Kimmich zuletzt. Bei der Weltmeisterschaft 2018 steht er jede Spielminute auf dem Feld. Hier erfährt er genau das Gegenteil der EM 2016: Nämlich wie das DFB-Team nicht nur schlecht spielt, sondern auch erstmals in seiner langen Geschichte schon in der WM-Gruppenphase ausscheidet.
Damals tragen die Weltmeister von 2014 noch die Verantwortung, das ändert sich vier Jahre später. Löw verabschiedet sich mit der Corona-EM 2021, sein ehemaliger Co-Trainer Hansi Flick übernimmt. Der Versuch, die Schmach von Russland vergessen zu machen, scheitert jedoch krachend. Jahre später setzt sich vor allem eine Erzählung durch: In der Wüste von Katar verheddert sich die DFB-Elf in Debatten - und vergisst dabei das Fußballspielen.
Kimmich und die K-Frage
Besonders einem hängt das Turnier lange nach: Kimmich nimmt das Ausscheiden persönlich. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet damals, dass er sich nicht mal mehr zum Bäcker getraut habe. Seine eigentliche Stärke, der Ehrgeiz, wurde zu seiner Schwäche. Kimmich verkrampfte, wollte zu viel, fühlte sich für Niederlagen alleinverantwortlich. Das Nicht-Verlieren-Können, berichtet er später dem "Stern", habe ihn nicht mehr losgelassen.
Heute ist das anders. Es schimmert auch im Presseraum der Arena in Bratislava durch, dass dieser Kimmich ein anderer ist als noch vor fünf Jahren: deutlich reifer, aber immer noch Kimmich. "Man kann nicht alles beeinflussen", sagt er, "aber unsere Einstellung, diese Gier, diesen Hunger: Das können wir schon beeinflussen." Nicht nur er hat sich verändert, auch seine Rolle innerhalb des DFB-Teams, nicht allein wegen des Kapitänsamtes.
Die K-Frage (Wo spielt Kimmich?) beschäftigt jahrelang Fußballdeutschland. Er selbst sieht sich im Mittelfeldzentrum, so wie er es beim FC Bayern spielt. Trotzdem weist ihn die Aufstellung beim DFB-Team überraschend häufig als Rechtsverteidiger aus. Bundestrainer suchten lange nach tragfähigen Lösungen, fanden aber keine. Für die Heim-EM verbannte ihn Julian Nagelsmann dann endgültig aus dem Zentrum. Schließlich war ja Toni Kroos extra für das Turnier zurückgekehrt.
Nun gibt es wieder die Rolle rückwärts: Kimmich kehrt ins Zentrum zurück. Die Verschieberei macht ihm nichts aus, sagt er in Bratislava. "Generell freue ich mich, dass es wieder losgeht, unabhängig von der Position." Klar, er genießt die Rückkehr ins Zentrum. Dort könne er seine Stärken besser einbringen, sagt er. Gleichwohl betont er, während er lachend Nagelsmann anschaut, der neben ihm sitzt: "Ich hoffe und glaube, dass ich auch hinten rechts Freude ausgestrahlt habe."
Denn auch das ist der neue Kimmich. Trotz all des Ehrgeizes sagt er heute Sachen wie: "Für mich ist es egal, auf welcher Position, ich versuche, für mich immer das Positive rauszuziehen." Und, das ist ein weiterer Vorteil der Position, im Mittelfeld ist er näher dran an seinen Kollegen. Da kann er sie auch einfacher an seinen Satz aus Budapest erinnern.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke