Wo der Genfer See zur Bühne wird – Spiel ohne Grenzen in Montreux
Am frühen Abend ist es immer noch so drückend heiß, dass man aus der Zuschauermenge ins Wasser springen möchte – am liebsten kopfüber hinein in den vom Sonnenuntergang orange gefärbten Genfer See. Der ist bevölkert von Segelbooten und Stand-up-Paddlern. Die Landschaft der Schweizer Riviera mit den Savoyer Alpen, die sich an der Südseite des Sees auftürmen, bietet dazu eine atemberaubende Kulisse für das Konzert an diesem Abend.
Ein Natur-Panorama als Teil der Performance. Zwar können all jene, die gerade auf dem See schippern, den Sänger gar nicht sehen, weil die Bühne am Ufer nur zur Landseite hin offen ist. Dafür mussten sie keinen Eintritt zahlen, und sie können ihn zumindest hören, wie er gerade einen seiner größten Hits singt, von der „Message In A Bottle“, der Flaschenpost, von der er hofft, jemand möge sie finden.
Sting steht auf der Seebühne des Jazz-Festivals in Montreux, blickt auf die 5000 Zuschauer auf dem Marktplatz und grüßt auch all jene, die ihm von den überfüllten Balkonen der umliegenden Häuser zuschauen. Für sie muss es so wirken, als spielte da gerade ein Weltstar in ihrem Vorgarten. „Entschuldigt bitte, wenn es etwas lauter wird“, flachst er an die Balkon-Gäste gerichtet und spielt dann einen ruhigen Song, die Ballade „Shape Of My Heart“, die er seinem „lieben Freund Claude“ widmet.
Mit Claude ist Claude Nobs gemeint, der Schweizer Kulturmanager, Mitbegründer und langjährige Leiter des legendären Festivals, der 2013 an den Folgen eines Skiunfalls verstorben ist. Dass ihn Weltstars wie Sting und viele andere auch mehr als zwölf Jahre nach seinem Tod öffentlich würdigen, zeigt, welche Strahlkraft Nobs und vor allem das von ihm geschaffene Festival nach wie vor weltweit haben.
Eine Viertelmillion Menschen war im vergangenen Sommer an den zwei Wochen, die das Musik-Happening dauert, nach Montreux gereist, um neben Sting, Lenny Kravitz, Kraftwerk, Dionne Warwick auch junge Stars wie Rag ’n’ Bone Man oder die Soul-Pop-Sängerin Raye zu sehen. In diesem Jahr kommen vom 4. bis 19. Juli Neil Young, Santana, Grace Jones, Chaka Khan und jüngere Stars wie Noah Kahan, Finneas oder Sam Fender nach Montreux.
Nobs hatte Koch gelernt und besaß einen Abschluss von der Hotelfachschule in Lausanne. Vor allem aber war er ein leidenschaftlicher Musik-Kenner und -Liebhaber. 1967 hatte er das Jazz-Festival mitgegründet und in den ersten Jahren die Größen des Genres wie Miles Davis, Keith Jarrett, Ella Fitzgerald nach Montreux geholt. Später wurde das musikalische Programm vielschichtiger, umfasste neben Jazz auch Rock, Pop, Soul oder Hip-Hop. Bob Dylan, Prince, Kendrick Lamar, aber auch Ed Sheeran oder Dua Lipa traten hier auf.
Nobs wollte sowohl jungen Talenten eine Startrampe bieten und die ganz Großen in einem vergleichsweise kleinen Rahmen auftreten lassen. Viele bekochte er in seinem Chalet, lud sie zu einem längeren Aufenthalt in den Schweizer Bergen ein und schuf so eine kreative Wohlfühloase.
„Das ist gewissermaßen unsere DNA: außergewöhnliche Gastfreundschaft“, sagt Mathieu Jaton, 50, seit 2013 Chef des Jazz-Festivals. Wir treffen ihn in der Lobby des Luxus-Hotels „Fairmont Montreux Palace“. Das Jugendstil-Gebäude thront wie ein Schloss oberhalb der Uferpromenade. Hier war Kaiserin Sisi zu Gast, Vladimir Nabokov schrieb auf dem Balkon seinen Roman „Lolita“. Oft residierte dort auch Freddie Mercury, in Zeiten, als er mit seiner Band Queen ein Studio in Montreux besaß.
Jaton ist kein Lautsprecher, kein Selbstdarsteller, wie viele andere Manager seiner Zunft. Der Mann mit dem Pilotenbrillengestell wirkt eher wie ein sympathisch-unaufgeregter Dienstleiter für die Musiker wie auch für die Touristen, die wegen der Musik nach Montreux kommen. Jaton wurde in Vevey in der Nähe von Montreux geboren, 1999 holte ihn Claude Nobs zum Festival.
Wie sein Mentor hat auch er eine Ausbildung als Hotelier, spielte lange Zeit Gitarre in Bands und sang. Viele Jahre war er die rechte Hand des Festivalchefs, lernte von der Pike auf, was „außergewöhnliche Gastfreundschaft“ bedeutete. Eine Zeit lang war er beispielsweise dafür zuständig, Gästen wie Quincy Jones den berühmten Balik-Lachs, den Lieblingsfisch von Zar Nikolai I., in ein Zentimeter dicken Scheiben zu kredenzen.
Viele Musiker zog es immer wieder nach Montreux. Lenny Kravitz spielte dreimal dort, Sting siebenmal, Deep Purple sogar zehnmal. Deep Purple waren es auch, die Claude Nobs 1971 in ihrem Rock-Klassiker „Smoke On The Water“ weltberühmt machten. Die Hardrock-Band wollte damals im Casino der Stadt ein neues Album aufnehmen.
Als das Gebäude bei einem Konzert von Frank Zappa abbrannte, nachdem ein Zuschauer eine Leuchtpistole abgefeuert hatte, half „Funky Claude“, der etwas irre Claude, wie er in dem Song liebevoll genannt wird, zunächst, die Zuschauer in Sicherheit zu bringen.
Und später bewies er Improvisationstalent, als er Deep Purple kurzerhand in das „Grand Hotel“ verfrachtete und ihnen half, im Erdgeschoss ein provisorisches Aufnahmestudio einzurichten. Dort entstand ihr legendäres Album „Machine Head“, dessen berühmtester Song von dem Casino-Brand und seinen Folgen erzählte: „Smoke on the water, a fire in the sky“ – Rauch über dem Wasser des Genfer Sees und Feuer am Himmel. Die inoffizielle Hymne von Montreux.
In den Souvenirshops an der Grand Rue kann man heute T-Shirts mit dem kompletten Text des Songs kaufen. Gelegentlich sieht man die Besucher darin auf der 13 Kilometer langen Uferpromenade flanieren. Wie ein Laufsteg liegt sie zwischen dem See und der Stadt mit ihren prachtvollen Belle-Époque-Villen – gesäumt von Palmen, Zypressen und Blumen. Diese Flaniermeile ist das pulsierende Herz von Montreux, besonders während des Festivals.
Wer dem Trubel entfliehen möchte, spaziert vom Marktplatz aus zum Château de Chillon – entlang am Uferweg, der in etwa 40 Minuten zu dem gewaltigen Wasserschloss führt, das wie aus dem See gewachsen scheint. Auf dem Rückweg lädt die kleine Plage de Chillon zum Baden ein – eine kurze Abkühlung mit Blick zurück auf das Schloss.
Höher hinaus führt die Zahnradbahn von Montreux auf den Rochers-de-Naye Berg. Auf 2042 Metern schweift der Blick bis zum Mont Blanc in den französischen Alpen. Hier oben versteht man, warum Queen „This could be heaven for everyone“, einen der letzten gemeinsamen Songs mit Freddie Mercury, hier in Montreux aufnahmen.
Und unten, am See, lebt das Festival weiter – auf zwei Kilometern Uferstrecke mit elf Bühnen, Essensständen, Bars und viel Musik in der Luft. Eine Bühne steht sogar auf Stelzen im Wasser. Während man die großen Stars am Ende der Promenade entweder auf der Seebühne oder im Casino zu Ticketpreisen ab 102,94 Euro (Celeste und Noah Kahan) oder ab 174,34 Euro (Neil Young) erleben kann, werden auf der Festival-Flanier-Meile in den gut zwei Wochen an die 500 Gratiskonzerte von DJs und Bands geboten. Ein musikalischer Gemischtwarenladen, ganz Montreux ist Musik.
Im Schatten der Bäume bewegt sich der Besucherstrom am Ufer an heißen Sommertagen in einem entspannten, fast trancehaften Flow. Man sieht 17- und 70-Jährige, mit und ohne Tattoos. Sie schlendern vorbei an Jazz- und Blues-Bands, Hip-Hop-Acts und DJs, genießen dieses Spiel ohne Grenzen und dabei immer wieder die grandiose Aussicht.
Wer sich ausruhen will, legt sich auf den Rasen, setzt sich in eine der Bars oder steigt eine der Treppen zum See hinab, um seine Füße im Seewasser abzukühlen. Und steigt man wieder hoch, kann man auf Straßenmusiker wie Walking Francis treffen. Ein Australier mit Vollbart und sehr langen Haaren, der ein wenig so aussieht wie Deep-Purple-Sänger Ian Gillan in jungen Jahren. Ausgestattet nur mit kleinem Verstärker, Mikroständer und E-Gitarre steht er da, singt eigene Folk-Songs. Ein paar Besucher werfen ihm Münzen in den aufgeklappten Gitarrenkoffer.
Am Ende bekommt der bärtige Barde viel Applaus und weist freundlich auf ein Schild hin, wonach man seine Songs auch auf YouTube, Spotify und Instagram hören kann. Dann spielt er einen Publikumsliebling, „The Boxer“ von Simon & Garfunkel. Einige summen mit, andere filmen ihn mit ihren Smartphones, hinter ihm glitzert der See im Sonnenlicht. Es ist eine surreale, kitschig-schöne Szene, man kommt sich vor, als würde man selbst in einem Video-Clip mitspielen – und gleichzeitig Urlaub an der Côte d’Azur machen.
Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass Montreux der größte anzunehmende Kontrast zum Heavy-Metal-Festival in Wacken mit seinen oft schlammbadenden Fans ist. Denn das Jazz-Fest am Genfer See ist – sauber.
Keine Getränkedosen, keine Plastikbecher oder Flaschen, die im See schwimmen oder auf dem Rasen liegen. Kein Müll, nirgends. „Hey, wir sind Schweizer, sauber können wir“, lacht Mathieu Janton und erzählt, jetzt doch mit einem gewissen Stolz, dass sich während des Musik-Happenings ein größeres Team um nichts anderes kümmert. Es gehe nicht nur darum, den Müll aufzusammeln, sondern die Besucher zu sensibilisieren, Abfälle nicht einfach irgendwo hinzuwerfen. Das gehöre ebenso zur DNA des Festivals wie die Gratiskonzerte.
Eine der Attraktionen vom vergangenen Jahr, die Seebühne am Marktplatz, wird zwar auch in diesem Jahr noch einmal Spielfeld für besondere Momente sein. Das Ganze war jedoch von Anfang an nur als Notlösung gedacht, solange das Kongresszentrum, bisher der Hauptveranstaltungsort für die großen Konzerte, für 80 Millionen Franken umgebaut wird.
2026 soll die Halle wieder eröffnet werden und dann soll auch das Gros der Top-Acts wieder dort auftreten. Weil nun aber gerade die Open-Air-Konzerte der Stars vor grandioser Alpenkulisse bei Musikern wie Fans enorm beliebt waren, überlegt Jaton, ob er künftig nicht doch zumindest ein paar Open-Air-Events auf den Marktplatz verlegt. Ihm und seinem Team werde schon etwas einfallen
2026 nun wird das geschichtsträchtige Festival 60 Jahre alt. Hat Jaton Träume, besondere Wünsche für diesen Festakt? Hat er. Er möchte gerne das erste Mal überhaupt die Rolling Stones zum Jazz-Festival holen. Das wäre doch was. Es gibt Verbindungen zwischen der Band und der 27.000 Einwohner-Stadt. 1964 spielten die Stones schon einmal in Montreux, bei dem damaligen Fernsehfestival „Rose d’Or“, und 1972 probten sie am Genfer See für ihre bevorstehende USA-Tournee.
Aber auf dem Jazz-Festival spielten sie bisher noch nie. Dass die Band gewöhnlich nur noch in Stadien vor mindestens 60.000 Menschen spielt, 2006 in Rio waren es sogar 1,5 Millionen Zuschauer, dürfte die Verhandlungen nicht gerade erleichtern. Gerüchten zufolge arbeitet die Band derzeit an einem neuen Album, eine neue Tournee im kommenden Jahr wäre also nicht ausgeschlossen.
Aber wie realistisch ist es, den dann 83-jährigen Mick Jagger, auf seiner womöglich diesmal jetzt aber wirklich allerletzten Tournee, zum Jazz-Festival nach Montreux zu holen? „Ich werde es versuchen. Ich schätze die Chance, dass es klappt, auf ein Prozent ein. Wenn sie ,Nein‘ sagen, dann ist es eben so. Aber versuchen werde ich es“, lacht Jaton und fügt hinzu, „Claude Nobs hat immer gesagt: ,Nichts ist unmöglich.‘ Das glaube ich bis heute.“
Vielleicht kommt es ja auch für Montreux so, wie Mick Jagger es in einem seiner berühmtesten Songs besungen hat: „You can’t always get what you want, but if you try sometimes, you might find, you get what you need.“
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Lufthansa, Easyjet und Swiss fliegen von mehreren deutschen Flughäfen aus nach Genf, weiter mit dem Zug in rund einer Stunde nach Montreux.
Wo wohnt man gut? „Modern Times Hotel“ in Vevey, zehn Autominuten vom Stadtzentrum Montreux entfernt. Das Hotel ist den Filmen Charlie Chaplins gewidmet, der mit seiner Familie viele Jahre am Genfer See gelebt hat, DZ ab 147 Euro, moderntimeshotel.ch. „Hotel de Chailly“, familiengeführtes Hotel oberhalb von Montreux, zwei Kilometer vom See entfernt, DZ ab 154 Euro, hdc.ch/fr
Festival-Tipps: Das Montreux Jazz Festival 2025 findet vom 4. bis 19. Juli auf mehreren Bühnen an der Uferpromenade am Genfer See statt. Highlights sind die Auftritte von Neil Young am 6. Juli, von Diana Ross am 11. Juli und von Grace Jones am 12. Juli. Programm und Tickets montreuxjazzfestival.com/de/
Weitere Infos: montreuxriviera.com/de/, myswitzerland.com
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von der Fondation du Festival de Jazz de Montreux und von Montreux-Vevey Tourisme. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
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