„Einstieg in eine neue Form der militärisch-industriellen Zusammenarbeit“
Friedrich Merz gibt sich am Mittwochmittag unter grauen Berliner Wolken sichtlich Mühe, Nähe zu seinem ukrainischen Staatsgast zu demonstrieren. Bei der feierlichen Begrüßung am Kanzleramt zieht er Wolodymyr Selenskyj energisch an sich, dreizehn Sekunden schüttelt er dessen Hand, kurz bevor das Stabsmusikkorps der Bundeswehr die ukrainische Nationalhymne spielt. Scharfschützen haben sich auf Dächern rundum platziert, Polizisten das Gelände weiträumig abgesperrt. „Wir stehen fest an der Seite der Ukraine“, sagt Merz bei der anschließenden Pressekonferenz. Und: „Wir werden den Druck auf Russland weiter erhöhen.“
Große Worte von Merz, mal wieder. Schon Mitte Mai hatte er bei seinem Besuch in Kiew angekündigt, „den Druck auf Russlands Kriegsmaschine“ erhöhen zu wollen. Der Kanzler und Europas „Koalition der Willigen“ hatten im ukrainischen Präsidentenpalast sogar ein Ultimatum an Wladimir Putin formuliert: entweder der Kreml stimme innerhalb von 48 Stunden einem Waffenstillstand zu — oder es würden massive Sanktionen gegen Russland und weitere Waffenlieferungen an die Ukraine folgen. „Ohne Wenn, ohne Aber“, wie der britische Premier Keir Starmer damals sagte.
Doch all dem europäischen Brusttrommeln, all den Drohungen folgte wenig. Auch, weil US-Präsident Donald Trump sich vom Kurs der europäischen Anführer distanzierte. Mehr als ein neues Sanktionspaket gegen Russlands Schattenflotte, das schon lange zuvor geplant war, bekam die Europäische Union zuletzt nicht zustande.
„Leider wird die Koalition der Willigen ihren Ankündigungen aus Kiew bislang nicht gerecht, denn es fehlen vor allem konsequente und glaubwürdige militärische Unterstützungsleistungen wie auch effektive und schmerzhafte Sanktionen gegen Russland“, sagt Außenpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) im Gespräch mit WELT.
Die Frage vor Selenskyjs Besuch in Berlin war also, wie viel Substanz hinter den Worten des Bundeskanzlers steckt — ob Deutschland mehr zu bieten als ein paar flotte Sprüche in Richtung Moskau.
Merz stellte vor versammelter Presse am Mittwochnachmittag klar, dass er derzeit „keine Bereitschaft Putins“ zu ernsthaften Friedensverhandlungen sehe. Europa hätte in den vergangenen Wochen diplomatisch so viel versucht wie noch nie seit Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine. Doch der Kreml spiele weiter auf Zeit. Darum würde Deutschland die militärische Unterstützung für die Ukraine fortsetzen „und wir werden sie ausbauen“, kündigte der Bundeskanzler an. Dann wurde Merz konkreter.
Deutschland zahlt Starlink-Kosten
Zum einen würde Deutschland „einen beträchtlichen Teil der Starlink-Abdeckung“ in der Ukraine finanzieren. Die tragbaren Terminals des Satellitennetzwerks von US-Unternehmer Elon Musk gehören zur kritischen Infrastruktur der ukrainischen Armee. Ein Großteil der Brigaden nutzt das Starlink-Internet an der Front, um von überall zu kommunizieren und zum Beispiel auch Drohnenflüge zu navigieren.
Zum anderen kündigte Merz die „Beschaffung weitreichender Waffensysteme aus ukrainischer Produktion, sogenannter ‚long-range-fires‘“ an. Für diese Waffen werde es „keine Reichweitenbeschränkungen“ geben. Eine entsprechende Absichtserklärung würden das deutsche und das ukrainische Verteidigungsministerium noch am Mittwoch unterzeichnen.
„Es ist der Einstieg in eine neue Form der militärisch-industriellen Zusammenarbeit unserer Länder, die großes Potenzial hat“, sagte Merz. Auf Nachfrage lehnte er es ab, über Details dieser deutsch-ukrainischen Waffenproduktion zu sprechen, stellte aber klar: „Wir wollen weitreichende Waffen (für die Ukraine, d. Red.) ermöglichen. Und wir wollen auch gemeinsame Produktion ermöglichen.“
Welche Art von weitreichenden Waffen gemeint sind, ließ der Bundeskanzler offen. Der konkreten Nachfrage zu einer möglichen Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine wich er erneut aus. Aus deutschen Sicherheitskreisen hatte es schon in den vergangenen Tagen das Signal gegeben, dass beim Selenskyj-Besuch keine Lieferung dieser Waffe angekündigt werde.
Tatsächlich entwickelt die Ukraine bereits eigene weitreichende Kamikaze-Drohnen, mit denen sie immer wieder wirtschaftliche und militärische Ziele tiefer in Russland attackiert. Und seit mehreren Jahren basteln ukrainische Ingenieure auch an eigenen Marschflugkörpern. WELT hatte 2023 in der Region Kiew eine Produktionsstätte der „Trembita“-Rakete besucht.
Dabei handelt es sich um einen Marschflugkörper, der in seiner besten Version knapp 150 Kilometer zurücklegen soll. Die billige Version der Trembita, die einen ohrenbetäubenden Lärm von sich gibt und an Hitlers V1-Rakete angelehnt ist, soll nur ein paar Tausend Euro kosten. Zuletzt hieß es aus der Ukraine, dass die Entwickler die Prototypen noch testen.
Arsenal der Marschflugkörper ist erschöpft
In den vergangenen Jahren hat Kiew bereits britische und französische Marschflugkörper erhalten, jedoch nur in begrenzter Stückzahl. Die ukrainische Armee hat mit diesen Waffen mehrfach Munitionsdepots und strategische Ziele der russischen Truppen attackiert. Die Vorräte dieser europäischen weitreichenden Waffen sind weitestgehend erschöpft.
Gleiches gilt für die aus den USA unter Joe Biden gelieferten Atacms-Raketen, die eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern haben. Um militärisch Druck auf Putin aufzubauen, ist die Ukraine also auf neue weitreichende Waffen mit hoher Sprengkraft angewiesen.
Selenskyj kündigte in Bezug auf die neue Waffenproduktion Gespräche mit deutschen Rüstungsunternehmen an. „Man muss auf Russland jeden möglichen Druck ausüben“, forderte der ukrainische Präsident. Die Verlängerung des Krieges müsse für Moskau „schmerzhaft“ werden.
Und Selenskyj, der sich explizit für die aus Deutschland gelieferten Flugabwehrsysteme bedankte, sprach auch Strafmaßnahmen gegen Russland an: Die bisherigen Sanktionen der EU gingen nicht weit genug. Es brauche weitere Sanktionen durch Europa sowie durch die USA.
Auch Merz hob die Vereinigten Staaten hervor. Er dankte Präsident Trump für seine Bemühungen und stellte mit Blick auf den Weg zu einem Waffenstillstand klar: „Wir zählen da auch auf die Unterstützung der USA.“ Das amerikanische Engagement sei „unverzichtbar“, sagte Merz. Mit der angekündigten Finanzierung der Starlink-Geräte versucht der Kanzler auch bei der Waffenhilfe eine Brücke zu bauen.
Auch weil aus den Waffen- und Munitionslagern im EU-Raum nur noch in begrenztem Umfang Hilfen an die Ukraine geliefert werden können, halten Militärexperten eine Stärkung der ukrainischen Rüstungsindustrie schon länger für sinnvoll. „Mit mehr finanziellen Mitteln kann die Ukraine in diesem Jahr vier bis fünf Millionen Drohnen produzieren – im Vergleich zu 1,5 Millionen im vergangenen Jahr. Sie rechnen mit 2,5 Millionen Drohnen für dieses Jahr“, sagte Ex-CIA-Chef David Petraeus kürzlich im Gespräch mit WELT.
Selenskyjs Besuch fällt in eine Zeit, in der Russland auf dem Schlachtfeld weiter langsam vorrückt. Während die russischen Truppen Ende des vergangenen Jahres noch knapp 700 Quadratkilometer pro Monat erobert haben, waren es in den ersten Monaten dieses Jahres weniger als die Hälfte davon.
Doch der Druck auf umkämpfte ukrainische Schlüsselorte im Osten wie Pokrowsk und Kostjantyniwka ist hoch. Militärisch stehen alle Zeichen auf einer weiteren russischen Eskalation. Die russische Armee hat im Osten und Nordosten der Ukraine bereits frische Kräfte für eine umfassende Sommeroffensive zusammengezogen.
„Der Abnutzungskrieg schreitet voran, wie im Ersten Weltkrieg“, sagt Markus Reisner. Er ist Leiter des Instituts für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wien. Schon seit einem Jahr habe Russland an der Front das Momentum, sagt der Militärexperte. „Der Einsatz von Drohnen lässt jeden Angriff und jede Verteidigung zu einem blutigen, elenden Kampf werden.“
Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke