„Die große Mehrheit der Bevölkerung will das Regime loswerden“
Nasrin Sotoudeh, 63, ist eine der bekanntesten Menschenrechtsverteidigerinnen des Iran. Sie wurde unter anderem mit dem sogenannten Alternativen Nobelpreis und dem Sacharow-Preis des Europaparlaments geehrt. Als Rechtsanwältin verteidigte sie die spätere Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und immer wieder Frauen, die sich gegen den Kopftuchzwang gewehrt hatten.
Ihr Engagement trug Sotoudeh mehrere Haftstrafen ein. So wurde sie zu 38,5 Jahren im Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt. Derzeit ist ihr Ehemann Reza Khandan in Teheran inhaftiert, weil er ebenfalls gegen den Kopftuchzwang protestiert hatte. Wir erreichen Sotoudeh während einer einstweiligen Entlassung aus der Haft. Sie hat sich gerade vor der Bombardierung Teherans in Sicherheit gebracht.
WELT: Frau Sotoudeh, wie ist die Lage im Iran seit Beginn der israelischen Angriffe?
Nasrin Sotoudeh: Ich war bis heute Morgen in Teheran. Der Stadtteil, in dem wir leben, ist in der Nacht zweimal bombardiert worden. Die lauten Explosionen haben meinen Sohn Nima sehr erschreckt. Meine Tochter, die in den Niederlanden studiert, rief panisch an. Da haben wir beschlossen, Teheran zu verlassen. Die Stimmung in der Hauptstadt ist widersprüchlich. Viele Menschen freuen sich grundsätzlich über die Angriffe, weil sie diese Diktatur schon seit Jahrzehnten ertragen müssen. Aber zugleich ist das Gefühl sehr verbreitet, dass wir von einem äußeren Feind angegriffen werden. Wir stehen zwischen diesem Feind und dem Feind im Innern, der Diktatur, die seit fast einem halben Jahrhundert unserem Land alle Werte raubt. Dieser Krieg ist nicht unser Krieg.
WELT: Welches Gefühl überwiegt bei Ihnen?
Sotoudeh: Ich bin genauso zerrissen wie viele andere. Seit fast einem halben Jahrhundert verbreitet die iranische Führung ununterbrochen diese Parolen, „Tod Amerika!“, „Tod Israel!“, „Tod diesem! Tod jenem!“, gegen alle möglichen Länder. Zugleich opfert sie seit 20 Jahren unsere wirtschaftliche Entwicklung, unsere Freiheitsrechte, unser Recht auf Bildung und Gesundheit für das Atomprogramm. Obwohl die Menschen im Land das gar nicht wollten. Aber ich kann auch die Politik Israels nicht akzeptieren. Wenn die israelischen Streitkräfte so hoch entwickelt sind, wieso müssen dann so viele Unbeteiligte sterben, so viele Kinder in Gaza, im Libanon und auch jetzt im Iran?
WELT: Die israelischen Streitkräfte betonen ja, dass sie Zivilisten schonen wollen, und veröffentlichen immer wieder Warnungen vor Angriffen.
Sotoudeh: Am Montag hat Israel aufgefordert, bestimmt Stadtteile im Norden Teherans zu verlassen – unter anderem die Gegend, wo mein Mann Reza Khandan derzeit im Evin-Gefängnis einsitzt. Man hat ihn inhaftiert, weil er wie viele andere Menschen gegen den Kopftuchzwang protestiert hat. Nachdem diese Evakuierungs-Aufforderung der Israelis kam, hat meine Tochter bei Instagram ein Video gepostet: „Mein Vater sitzt im Gefängnis – wie soll er Teheran verlassen?“, fragt sie da weinend. Übrigens wäre es die Pflicht der iranischen Regierung, auch Häftlinge vor den Bombardements zu schützen. Sie sollte jetzt alle freilassen, damit sie sich in Sicherheit bringen können.
WELT: Glauben Sie, angesichts der Angriffe besteht die Chance, dass die Iranerinnen und Iraner ihre Führung stürzen?
Sotoudeh: Ich habe keinen Zweifel, dass die große Mehrheit der Bevölkerung das Regime loswerden will. Das hat man schon bei den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten gesehen. Aber ob diese Menschen jetzt in Aktion treten, kann ich nicht vorhersagen. Ein Sturz des Regimes wäre jetzt sicherlich eher möglich. Die Führung hat sehr viel Einfluss verloren und derzeit scheint sie völlig machtlos. Doch das kann täuschen. Und wenn ein Umsturz nicht gelingt und das Regime sich wieder stabilisiert, dann könnte jede Tat des Widerstands schlimmere Folgen haben als zu anderen Zeiten. Schon jetzt werden einige kritische Geister besonders hart verfolgt. Irgendwie müssen wir dieses Regime stürzen. Und militärischer Druck kann ein Herrschaftssystem schwächen. Aber andererseits: Folgt auf den Sturz einer Diktatur automatisch ein demokratisches System? Eines haben wir in den letzten Jahren in diesem Teil der Welt erlebt: Militärische Interventionen von außen schaffen noch lange keine Demokratie.
WELT: Fürchten Sie einen Bürgerkrieg im Iran, wenn die Herrschaft der Religionsgelehrten stürzt? Immerhin gehören Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Iraner regimetreuen Milizen wie den Bassidsch an.
Sotoudeh: Jeder Sturz einer Regierung kann einen Bürgerkrieg nach sich ziehen. Aber ich denke nicht, dass die Unterstützer des Regimes wirklich so zahlreich sind. Es muss keinen Bürgerkrieg geben.
WELT: Aber auch die Opposition ist gespalten. Gibt es eine Kraft oder eine Figur, auf die Sie besonders große Hoffnung setzen?
Sotoudeh: Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten.
WELT: Was kann das Ausland tun, um zur Freiheit der Iranerinnen und Iraner beizutragen?
Sotoudeh: Lassen Sie mich darauf als studierte Juristin antworten. Die internationalen Beziehungen sollten von völkerrechtlichen Regeln bestimmt sein. Diese Regeln bricht meine eigene Regierung, die der Islamischen Republik Iran, ständig oder ignoriert sie einfach – und Israel tut das auch immer wieder, wie auch viele andere Staaten. Wer denkt zum Beispiel jetzt noch an den internationalen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu? Im Moment hat nur die Macht das Wort. Wir müssen endlich zu den Regeln des Völkerrechts und zu den Menschenrechten zurückkehren. Vielleicht finden Sie es lächerlich, dass ich zum Respekt für internationale Normen aufrufe, aber ich glaube wirklich, dass nur sie uns retten können.
Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.
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