In Netanja, einer rund 250.000-Einwohner Stadt rund 30 Kilometer nördlich von Tel Aviv, hat bisher keine iranische Rakete den israelischen Verteidigungsschirm durchbrochen. Trotzdem haben die Menschen hier große Angst. Seit Freitag werden sie jede Nacht, manchmal auch tagsüber, von den Sirenen in die Schutzräume gejagt.

Was der Beschuss aus dem Iran bedeutet, sehen sie tagtäglich in den Nachrichten: massive Zerstörung, ganze Häuserblöcke, die in Schutt und Asche liegen. Babys und alte Menschen, die aus Trümmern geborgen werden. Viele Verletzte, und auch Tote. Die Israelis stehen unter Schock.

Roni Nagar, die mit Mann und vier Kindern in Netanja lebt, ist besorgt: „Wir haben schon seit anderthalb Jahren Krieg, aber das hier ist eine andere Dimension. Bei jedem Angriff spüre ich, dass ich in Lebensgefahr bin. Und als Mutter habe ich das Gefühl, meine Kinder nicht mehr richtig beschützen zu können.“

Seit Freitag sind Kitas, Schulen und Arbeitsplätze geschlossen. Nagars Kinder, zwei, vier, neun und zehn Jahre alt, haben seitdem das Haus nicht mehr verlassen, schlafen nachts alle zusammen in Schutzraum.

Die ballistischen Raketen aus dem Iran haben Schätzungen zufolge 500-Kilogramm-Sprengköpfe. Die Chancen, einen solchen Einschlag zu überleben, sind im Schutzraum am größten. „Haltet euch in der Nähe von Schutzräumen auf, geht bei einem Angriff hinein“, beten Vertreter des Heimatschutzkommandos jeden Tag in den Nachrichten herunter. Wer bei bisherigem Beschuss mit leichteren Raketen aus Gaza oder von den Huthis keine Lust hatte, nachts um vier im Pyjama sieben Etagen in den Keller zu rennen, macht das jetzt.

Nagar ist regionale Vize-Leiterin einer großen Gesundheitsorganisation in Israel, und im Gegensatz zu anderen Eltern muss sie täglich zu ihrer Arbeitsstätte fahren. „Die vier Kids sind von morgens bis abends mit ihrem Vater, der auch arbeiten muss, Zuhause. Ich komme oft nicht vor sieben Uhr heim“, erzählt sie. Es gebe unglaublich viel zu tun. „Nach dem ersten Angriff letzte Woche bekamen wir die Anweisung, alle Außenkliniken zu schließen. Ein Tag später wurde das geändert. Die Anweisungen ändern sich manchmal alle paar Stunden. In dieser unübersichtlichen Situation muss ich hunderte Mitarbeiter managen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben, obwohl ich selbst unsicher und besorgt bin.“

Wenn Nagar morgens das Haus verlässt, hat sie kein gutes Gefühl. Die Kinder seien zwar größtenteils mehr gelangweilt als ängstlich, so Roni – aber wenn die Sirenen ertönen, fürchten sie sich und wollen Mutter und Vater bei sich haben. Wenigstens ist ihr Schutzraum in der Wohnung, und nicht, wie bei vielen anderen Israelis, im Gemeinschaftskeller: „Ich selbst habe zwar seitdem jede Nacht nur zwei, drei Stunden geschlafen. Aber dass unsere Kinder halbwegs schlafen können, ist ein Segen.“

Im Herzen von Netanja liegt der Markt – der Shuk. Dort ist es dieser Tage ruhig. Die ersten Tage, erzählt Metzger Reuven Shalom, war es hier totenstill. „Inzwischen haben die Menschen sich ein wenig mit der neuen Situation arrangiert, kommen morgens, wenn meistens keine Sirenen sind, aus ihren Häusern heraus und kaufen ein.“ Aber natürlich läuft das Geschäft viel langsamer als sonst. Die engen Gassen des Shuk, die unter der Woche sonst immer gut besucht sind, sind fast leer.

Den israelischen Angriff auf den Iran hält Shalom für gerechtfertigt: „Man kann Israel nicht andauernd bedrohen. Es muss ein für alle Mal enden. Von allen Seiten wollen sie uns auslöschen. Warum um alles in der Welt? Wir werden siegen, mit der Hilfe Gottes.“ Die meisten Verkäufer auf dem Markt haben nordafrikanische Wurzeln, stammen mehrheitlich aus dem libyschen Tripolis. Viele von ihnen sind gläubig und halten sich an jüdische Traditionen.

Shalom fügt hinzu: „Ich will, dass die Rechte in Israel die Oberhand behält.“ Damit meint er die Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu, und alles rechts davon. Ein Kunde meint: „Reuven, darum geht es nicht. Wir haben genug davon, dass die Radikalen hier den Ton angeben. Genug von dem Hass. So können wir nicht mehr weiterleben.“ Shalom erwidert: „Ich gebe dir völlig recht, ich will einfach nur meinen Seelenfrieden. Lasst uns einfach in Frieden!“

Auch das Geschäft von Fischverkäufer Amiram Miyara, der libyisch-marokkanische Wurzeln hat, läuft schleppend: „Die Leute haben Angst.“ Vor allem die Älteren fürchten, es bei einem Alarm nicht schnell genug in einen Schutzraum zu schaffen.

Aber auch Miyara hält Israels Angriff auf den Iran für richtig: „Das Regime dort ist eine Bedrohung für die ganze Welt. Das verstehen viele nicht. Es geht hier nicht nur um Israel. Heute ist es Israel, morgen ist es ein anderes Land, die Vereinigten Staaten oder anderswo.“ Was er macht, wenn ein Raketenangriff kommt? „Hier habe ich keinen Schutzraum, aber ich habe keine Angst. Ich stehe hier und warte, bis es vorbei ist. Wenn mich eine Rakete treffen soll, so Gott will, dann sei es so.“

140 Kilometer weiter südlich, in Be’er Sheva, sitzt die US-Journalistin Yardena Schwartz mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern bei ihrer Schwiegermutter fest. Freitag hätten sie abfliegen sollen, aber genau an diesem Tag wurden sämtliche Flüge gestrichen: „Es ist völliger Irrsinn, dass dieser große Krieg zwischen Israel und Iran, auf den alle gewartet haben, ausgerechnet an dem Tag begann, an dem wir abfliegen sollten.“

Ein paar Monate vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 war Schwartz mit ihrem israelischen Mann und den Kindern in die USA zurückgezogen. Zehn Jahre hatte sie als freiberufliche Journalistin für wichtige US-Medien aus dem Nahen Osten berichtet und mehrere Kriege miterlebt. „Diesmal ist es wirklich furchterregend. Noch nie hatte ich solche Angst, nicht im Krieg mit der Hamas 2014, und auch nicht während anderer Konflikte, die es danach gab“, sagt Schwartz.

„Mein Mann, der hier aufgewachsen ist, erinnert sich noch an die Gasmasken aus dem Golfkrieg. Aber auch für ihn hat es so etwas noch nicht gegeben. Es bricht mir das Herz, wenn ich mit meiner fünfjährigen Tochter auf den Spielplatz gehen will und sie mich fragt: Mama, was ist, wenn ein Alarm kommt?“, erzählt sie.

Schwartz hat kürzlich ein von der Kritik sehr gelobtes Buch über die Ursprünge des israelisch-palästinensischen Konfliktes veröffentlicht („Ghosts of a Holy War“). Im Buch geht es um das Massaker an Juden in Hebron im Jahr 1929. Durch den 7. Oktober gewann es plötzlich an trauriger Aktualität. Und nun ist sie, ausgerechnet während der Vorstellung ihres Buches in Israel, vom Krieg betroffen.

„Es gibt keine sichere Option, Israel zu verlassen“

„Es ist eine sehr stressige Situation. Anfangs dachte ich ständig, warum sind wir nicht einen Tag früher abgeflogen? Wir sind alle Optionen durchgegangen, um das Land zu verlassen. Mit einem Boot nach Zypern, über die Grenze nach Jordanien, sogar durch den Sinai nach Kairo. Aber keine von ihnen ist wirklich sicher. Das Sicherste ist es, einfach in der Nähe vom Schutzraum zu bleiben“, sagt Schwartz.

Sie sieht den Krieg als unausweichlich an. Iran habe so viele Gelegenheiten gehabt, einen anderen, friedlichen Weg zu wählen und sich wiederholt, über all die Jahre hinweg, geweigert. Inklusive der letzten zwei Monate, in denen mit US-Präsident Donald Trump verhandelt wurde. Auch da habe der Iran klargemacht, dass er nicht ernsthaft an Verhandlungen interessiert war und es mit der Urananreicherung weitergehen würde, sagt die Journalistin.

„Und sie haben es sehr deutlich gemacht, dass sie den jüdischen Staat eliminieren wollen“, sagt Schwartz. In Teheran gebe es sogar eine Uhr, die den Countdown bis zur Vernichtung Israels herunterzählen würde und Plakatwände auf Hebräisch, die ein Ende Israels androhen. „Es macht mich traurig, dass Menschen hier und im Iran getötet werden, aber nicht wir haben uns das ausgesucht. Es waren die Mullahs.“

Obwohl für sie klar ist, dass auch Netanjahu oft im Interesse seines eigenen Machterhalts handelt, glaubt sie nicht, dass das jetzt der Fall ist. Aus dem neuen Bericht der Internationalen Atomenergieorganisation gehe schließlich hervor, dass Iran kurz davor war, in den Besitz von Nuklearwaffen zu gelangen. „Schau, was für Schäden sie mit ihren Raketen anrichten. Stell dir vor, sie hätten nur eine einzige Atombombe!“

Auch der kanadische Stand-up-Comedian und Influencer Daniel-Ryan Spaulding ist zurzeit in Israel. Er sagt: „Ich stecke nicht fest, ich habe es mir so ausgesucht. Auch wenn es beängstigend ist, habe ich das Gefühl, dass ich gerade hier sein muss.“ In seinen Videos wendet sich der Israel-Unterstützer lautstark und lustig gegen den Antisemitismus großer Teile der propalästinensischen Linken.

Er hat hunderttausende Follower in den sozialen Medien, seine Reels über Israel, Iran, Hamas und Antisemitismus gehen seit dem 7. Oktober 2023 viral. Zuletzt postete er eins aus dem Schutzraum mit einer Gruppe homosexueller Freunde, während eines Raketenangriffs.

In dem Post heißt es: „Power Gay im Bunker mit sexy Tel Aviv Power Gays. Was denkt ihr, Jungs? Wo in der Welt wärt ihr jetzt am liebsten? Also ich will am liebsten hier sein.“ Die Tel Aviver Pride Parade musste wegen des Krieges abgesagt werden, aber für ihn ist klar, dass „die Vernichtung der iranischen Revolutionsgarde wichtiger ist“.

Spaulding pendelt zwischen New York City und Tel Aviv. Davor lebte er in Berlin, wo er viele Israelis kennenlernte. Jüdisch ist er nicht, aber seine Affinität zum Land ist groß. In New York empfand er es zuletzt als psychisch sehr belastend, von so viel Antisemitismus und Menschen mit einer völlig verzerrten Wahrnehmung des Konfliktes umgeben zu sein. Der Informationskrieg sei einfach überwältigend gewesen.

Die derzeitige Situation empfindet er als einen historischen Wendepunkt. Er spüre, dass Israelis in einer existenziellen Frage zusammenrücken. Der Konflikt mit dem Iran, die Bedrohung durch das iranische Atomprogramm, das jahrzehntelange Narrativ vom „Tod für Israel“, „Tod für Amerika“ – all das verdichtet sich inmitten von Alarmen, Angst und politischer Unsicherheit zu einem Moment, der das Land trotz aller Spaltung und Spannungen ungewohnt eint.

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