„Bundestag ist es allen Menschen schuldig, die auf ein Spenderorgan warten“
Die Gesundheitsminister der Länder fordern gemeinsam mit der Bundesärztekammer erneut die Widerspruchslösung bei der Organspende. Das bedeutet: Jeder Bürger ist Organspender – bis er dem aktiv widerspricht.
Bislang gilt in Deutschland seit 1. November 2012 die sogenannte Entscheidungslösung: Bei dieser Abwandlung der Zustimmungslösung werden ebenso nur die Menschen zu Organspendern, die dem aktiv zustimmen – das Besondere an der Entscheidungslösung ist eine breite Aufklärung der Bevölkerung, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Unter anderem Krankenkassen sind hierdurch dazu verpflichtet, regelmäßig über Möglichkeiten der Organspende zu informieren.
Im vergangenen Jahr hatten Abgeordnete von SPD, Union, Grünen, FDP und Linken einen Gesetzentwurf eingebracht, durch den die Widerspruchsregelung ins Transplantationsgesetz eingeführt werden sollte. Bevor allerdings über den Entwurf abgestimmt werden konnte, zerbrach die damalige Ampel-Koalition.
Die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Katharina Schenk (SPD) aus Thüringen, schlug nun vor, den fraktionsübergreifenden Entwurf erneut ins Parlament einzubringen. Ein entsprechendes Schreiben solle der Bundesgesundheitsministerin, Nina Warken (CDU), bei der Gesundheitsministerkonferenz am 11. und 12. Juni vorgelegt werden.
Der Vorstand der Deutschen Transplantationsgesellschaft, Felix Braun, begrüßt Schenks Vorstoß auf WELT-Anfrage: „Die Politik muss sich dem Thema Organspende dringend annehmen und die Gesetzesinitiativen erfolgreich und zügig vorantreiben, um den fortwährenden Organmangel in Deutschland zu beheben.“ Die Einführung der Widerspruchsregelung spiele hierbei eine wesentliche Rolle.
„Im seltenen Fall eines nachgewiesenen irreversiblen Hirnfunktionsausfalles kann eine Organspende in Betracht kommen, wenn hierzu eine Einwilligung vorliegt“, fährt Braun fort. Oftmals sei den trauernden Angehörigen diese Entscheidung aber nicht bekannt – und sie lehnten ab. Aber: „Seit Einführung des Organspenderegisters besteht die Option einen dokumentierten Widerspruch jederzeit abzurufen, sodass die Voraussetzungen für eine Widerspruchslösung nunmehr gegeben sind und diese zur Entlastung der Angehörigen zeitnah umgesetzt werden sollte.“
In den meisten anderen europäischen Ländern gilt bereits die Widerspruchslösung, unter anderem in Spanien, das als Spitzenreiter unter den Organspendern gilt: Während in Deutschland laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation lediglich 11,2 Organspender auf eine Million Einwohner kommen, sind es in Spanien 43,1.
„Trotz aller Bemühungen konnten die Spenderzahlen in der Vergangenheit nicht substanziell gesteigert werden“, sagt Stefan Schwartze, der für das Thema zuständige Berichterstatter der SPD-Fraktion. Spanien sei ein gutes Beispiel dafür, dass die Widerspruchslösung ein wesentlicher Baustein sei, um diese Zahl zu erhöhen. Deswegen befürworte er die Einführung der Widerspruchsregelung. Die interfraktionelle Arbeitsgruppe habe sich zu diesem Zweck bereits getroffen.
Auch Misbah Khan, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion findet: „Jeden Tag sterben Menschen, weil bislang der politische Mut zur Widerspruchslösung fehlt. Der Bundestag ist es allen Menschen, die auf ein Spenderorgan warten und deren Angehörigen schuldig, sich mit dem Thema erneut zu befassen.“ Der große Vorteil einer Widerspruchslösung liege darin, dass sich alle Bürger mit ihrer Entscheidung für oder gegen eine Organspende auseinandersetzen müssten. „Das wird die Zahl der Spenderinnen und Spender spürbar erhöhen, davon bin ich überzeugt.“
Hohe Bereitschaft – geringe Dokumentation
Der Marburger Bund, ein Berufsverbund von angestellten und beamteten Ärzten in Deutschland, schreibt in einer Pressemitteilung: „Wir erhalten überproportional viele Organe aus Ländern, in denen die Widerspruchslösung längst gilt. Wie lange soll diese Diskrepanz noch fortbestehen? Wie lange wollen wir noch Organ-Importland sein?“ Teil des Problems sei, dass eine große Mehrheit der Deutschen zwar ihre Bereitschaft zur Organspende bekunde – aber weniger als die Hälfte der Bevölkerung ihre Entscheidung tatsächlich dokumentiere.
Laut Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit war im Jahr 2024 die positive Einstellung zu einer Organ- und Gewebespende so hoch wie nie zuvor: bei 85 Prozent. Aber: Lediglich 45 Prozent der Befragten gaben an, ihre Entscheidung durch einen Organspendeausweis oder eine Patientenverfügung dokumentiert zu haben.
Die Unionsfraktion vertritt eine andere Position als der Koalitionspartner SPD und die Grünen: Die Frage nach einer möglichen Einführung der Widerspruchslösung bei der Organspende sei „zutiefst ethisch, gesellschaftlich und persönlich“, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin Simone Borchardt (CDU). „Die Organspende ist ein Akt der Solidarität – aber sie muss freiwillig bleiben.“ Eine informierte und bewusste Zustimmung schaffe Rechtssicherheit und Vertrauen bei Spendern, Angehörigen und medizinischem Personal. Für sie als Gesundheitspolitikerin stehe fest: „Der Staat darf nicht stillschweigend über so etwas Intimes wie die letzte Entscheidung über den eigenen Körper verfügen.“
Die Antwort auf fehlende Spenderorgane könne kein Automatismus sein, sondern eine „Kultur der Verantwortung und Aufklärung“. Notwendig seien bessere Strukturen in der Transplantationsmedizin, eine zentrale Patientensteuerung, mehr öffentliche Information und vor allem: „Respekt vor jeder individuellen Entscheidung“.
Der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Martin Sichert, sagt: „In einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft muss der Körper dem Individuum gehören.“ Die Widerspruchslösung deutet er als Ausdruck von Ideologie: „Es ist ein Zeichen sozialistischer und kommunistischer Systeme, dass der Körper nicht dem Menschen gehört, sondern als Teil eines Volkskörpers angesehen wird“, so Sichert. Er befindet: „Wir von der AfD verteidigen bei der Organspende – wie schon in der Coronazeit – mit aller Kraft das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wie es Artikel 2 Grundgesetz vorsieht und setzen uns daher mit aller Kraft gegen die Widerspruchslösung ein.“
Die Linksfraktion habe sich bisher nicht auf eine Position verständigt, heißt es von einem Sprecher. Da es sich bei dem Widerspruch zur Organspende um eine sehr persönliche Frage handele, gebe es selbstverständlich auch innerhalb der Fraktion unterschiedliche Positionen.
Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.
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