„Darf nicht zu Patientenstau in überlasteten Hausarztpraxen führen“
Der neuen Bundesgesundheitsministerin scheint bewusst zu sein, wie heikel ihr erstes großes Vorhaben werden könnte. Man müsse Sorge tragen, betonte Nina Warken (CDU) bei ihrer Rede auf dem Deutschen Ärztetag in dieser Woche, dass es bei den Patienten „keine Irritationen oder Unklarheiten“ geben werde. Die Menschen müssten mitgenommen werden, eine gute Kommunikation sei daher entscheidend, so die Ministerin.
Die Rede ist vom sogenannten Primärarztsystem, auf das sich Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt haben. Was zunächst sperrig klingt, dürfte für die Patienten eine der spürbarsten Veränderungen in ihrem Versorgungsalltag seit vielen Jahren werden.
Konkret geht es darum, dass Besuche beim Facharzt künftig nur noch mit einer Überweisung vom Hausarzt möglich sein sollen. Ziel ist es, medizinisch nicht notwendige Facharztbesuche zu reduzieren und so die Wartezeit für alle Patienten zu verkürzen. Ausnahmen sollen bei Augenärzten, Gynäkologen und Zahnärzten gelten. Für chronisch kranke Patienten werden dem Koalitionsvertrag zufolge „geeignete Lösungen“ erarbeitet, etwa Jahresüberweisungen, die zwölf Monate lang gültig sind.
Die Maßnahme soll mit einem entscheidenden Vorteil für Patienten garniert werden: Die Primärärzte oder die von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) betriebene Hotline 116117 sollen einen Zeitkorridor festlegen, innerhalb dessen der Termin stattfinden muss – beispielsweise vier Wochen. Die KVen sollen verpflichtet werden, diese Termine zu vermitteln.
Wie es der unterfinanzierten und überlasteten Hotline der KVen gelingen soll, diese Vermittlung in der Breite zu ermöglichen, ist bisher unklar. Auch ist offen, mit welchen Konsequenzen Ärzte rechnen müssen, wenn sie die Termine nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen. Bisher ist nur vorgesehen, dass die Behandlung notfalls auch ambulant im Krankenhaus ermöglicht werden muss.
In Deutschland fehlen 5000 Hausärzte
Die größte unbeantwortete Frage des Reformvorhabens ist jedoch, ob Hausärzte überhaupt die Kapazitäten haben, um Patienten vor jedem Facharztbesuch zu beraten und zu steuern. Aktuell fehlen 5000 Hausärzte in Deutschland, insbesondere in ländlichen Gebieten. Die Entwicklung dürfte sich in den kommenden Jahren dramatisch verschärfen: Mehr als jeder dritte Hausarzt ist über 60 Jahre alt. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung hat berechnet, dass es je nach Ausgestaltung des Primärarztsystems bis zu 2000 zusätzliche Kontakte pro Jahr pro Hausarztpraxis geben könnte.
Ministerin Warken versucht bereits, die Bedenken zu entkräften. Bei Medienauftritten betont sie regelmäßig, dass die Vertreter der Ärzteschaft, insbesondere der Hausärzte, klar hinter dem Vorschlag stünden. Auch verspricht sie, die Ärzte an anderer Stelle zu entlasten, etwa durch weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung.
Doch wird das ausreichen? Die Grünen widersprechen. „Ein verpflichtendes Primärarztsystem darf nicht zu einem Patientenstau in überlasteten Hausarztpraxen führen“, warnt Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Bundestag. „Gerade auf dem Land fehlen schon heute Hausärztinnen und Hausärzte – wer dort eine Pflicht einführt, ohne tragfähige Lösungen zu schaffen, riskiert echte Unterversorgung.“
Praxen müssen unterstützt werden
Die Hausarztpraxen müssten zunächst mit Maßnahmen gestärkt werden, die tatsächlich Wirkung entfalten. „Das heißt: mehr Zeit durch Vorhaltepauschalen statt Quartalsabrechnung, mehr Unterstützung durch eigenständig arbeitendes nichtärztliches Praxispersonal und ein vernetztes, digitales Terminmanagement – also ein System, das Ärztinnen und Ärzte nicht zu Facharzttürstehern und Überweisungsautomaten macht.“
Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, könne ein Primärarztsystem „sehr sinnvoll“ sein, so Dahmen. Die Erfahrungen aus Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden zeigten: „Eine kluge hausärztliche Steuerung verbessert Qualität, Wirtschaftlichkeit und schützt vor medizinisch nicht notwendigen Behandlungen.“
Die angekündigte Termingarantie bewertet Dahmen hingegen skeptisch: „Das klingt nach einem unseriösen Heilversprechen, das sich kaum einlösen lässt.“ Ambulanter Klinikzugang sei gut – aber keine Garantie für rechtzeitige Versorgung. „Hier drohen politische Erwartungen, die das System in der Realität nicht halten kann.“
Für Ministerin Warken dürfte das geplante Primärarztsystem zu einer harten Bewährungsprobe werden. Das komplexe Reformvorhaben ist keines, womit sich zu Beginn einer Amtszeit leicht Sympathiepunkte in der Bevölkerung sammeln lassen. Schafft Warken es, die Reform durchdacht und ohne größere negative Effekte in die Tat umzusetzen, hätte sie schon Beträchtliches erreicht.
Kaja Klapsa berichtet für WELT seit der Corona-Pandemie über Gesundheitspolitik.
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