Wenn Ilse Mesch in einer Woche den Rasen der Fußball-Arena in Leipzig betreten wird, auf den Rängen 40.000 Zuschauer applaudieren und erwartungsvoll ihren Blick auf die Protagonisten im Rampenlicht richten werden, dann ist die 87-Jährige ganz in ihrem Element. Und die Nervosität verschwindet. Denn langsam kommt sie auf. Auch nach all den Show-Vorführungen, bei denen Mesch Teil eines Gesamtkunstwerks war, bleibt es aufregend. „Ich bin immer noch nervös“, sagt die Lemgoerin. „Und dann ist ja auch die Frage: Vertut sich einer, geht irgendetwas schief? Letzten Endes ist es aber nicht schlimm, wenn du einen Fehler machst. Dafür sind wir Amateure.“ Amateure mit Leidenschaft für Bewegung.

Ilse Mesch ist das schon, solange sie denken kann. „Ich habe mein Leben lang Sport gemacht“, sagt sie. Mit 87 Jahren wird sie nun bei der großen Stadiongala des Internationalen Deutschen Turnfestes am kommenden Samstag die älteste Teilnehmerin sein. Wie alt sie sich fühlt? Mesch überlegt. „Deutlich jünger. Vielleicht 20 Jahre“, sagt sie. Bewegung – das ist für die pensionierte Lehrerin ein Lebenselixier. Immer gewesen. Und damit ist sie nicht weniger als der Inbegriff dessen, was in Leipzig gefeiert wird: Fitness und Freude an Bewegung in allen Facetten.

„Mit 87“, sagt Darja Varfolomeev, 18 Jahre alte Olympiasieger der Rhythmischen Sportgymnastik, „wäre ich auch gern noch so fit. Ich kann Frau Mesch nur gratulieren und hoffe, in ihrem Alter auch noch so fit zu sein. Man sieht an ihr: Bewegung ist die Basis des Lebens.“ Die beiden werden sich in Leipzig womöglich begegnen, denn auch Varfolomeev, Deutschlands Sportlerin des Jahres 2025, wird an jenem Abend in der Red Bull Arena auftreten.

Wenn Leipzig vom 28. Mai bis zum 1. Juni 80.000 Aktive und Hunderttausende Besucher zur weltweit größten Wettkampf- und Breitensportveranstaltung empfängt, ist die Stadiongala so etwas wie das Herzstück. 3500 Menschen aller Altersgruppen präsentieren dann die Vielfalt des Turnsports. Großgruppengestaltungen wie ein Fitness-Bild, bei dem Mesch mitmachen wird, Shows internationaler Gruppen, artistische Acts sowie Weltklasse-Athleten wie Varfolomeev und Barren-Weltmeister Lukas Dauer werden dabei sein. Spitzen- trifft auf Breitensport. Außerdem treten Die Prinzen und Kamrad auf.

Eine Zeit ohne Sport, ohne Bewegung? Gab es nie

Mesch selbst stand nie der Sinn, nach nationalen oder internationalen Erfolgen zu streben. Leistungssport war nicht ihr Ding. „Ich habe früher mal eine Zeit lang Leichtathletik-Wettkämpfe gemacht“, erzählt sie, „aber das war nicht mein Weg. Ich habe es immer mehr als Freizeitsport gesehen.“ Das aber durchgängig. Eine Sportpause – wie sie so viele Menschen irgendwann im Leben machen, weil sich Rahmenbedingungen ändern oder die Gesundheit es erfordert – hatte die 87-Jährige nie. Während des Lehramtsstudiums in Hamburg (Deutsch und Ökotrophologie) schloss sie sich sogar einer Männergruppe an, die Faustball spielte.

Während der Uni-Zeit lernte Mesch auch ihren Mann Werner kennen, was sie Mitte der 1960-Jahre schließlich nach Lemgo führte. „Hier fing ich mit Gymnastik und Joggen an. Im Laufe der Zeit kam Schwimmen hinzu“, erzählt sie. Heute ist der Donnerstagabend in Meschs Kalender fest reserviert für Sport in der Gymnastikgruppe von Übungsleiterin Inge Range beim TV Lemgo. Mal mit Bändern, mal mit Stangen, Keulen, Softbällen oder auch dem Stepper.

„Eine wirklich nette Gruppe“, sagt Mesch. „Und Inge Range hat dazu beigetragen, dass wir bei der Stange bleiben, sie leitet diese Gruppe schon lange.“ Mesch betont das explizit, denn diese Gemeinschaft, der soziale Aspekt des Sporttreibens ist ihr wichtig. War es immer schon.

Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch alleine etwas tut. „Ein paar Übungen, aber das dauert nur fünf bis zehn Minuten“, sagt sie und winkt ab. Fünf bis zehn Minuten allerdings täglich morgens oder abends. Kräftigungsübungen zum Beispiel für den Rumpf, dazu Beweglichkeit. „Manchmal muss ich aber auch den Schweinehund überwinden“, sagt sie lachend.

Um morgens ins Schwimmbad zu gehen, muss sie dies jedoch nicht. Zwei- bis dreimal in der Woche zieht Mesch eine Dreiviertelstunde um sechs Uhr in der Frühe ihre Bahnen. „Ich kann nicht lange schlafen, da kann ich auch morgens schwimmen“, sagt die Lemgoerin pragmatisch. Sie täte das allerdings nicht, würde sie das Element Wasser nicht so genießen. Sich tragen lassen, gleiten, bewegen. Während manch einer Schwimmen als Kampf oder Krampf empfindet, sagt Mesch: „Im Wasser zu sein, ist ein uriges Gefühl, ich kann es nicht anders beschreiben.“

„Ich kann auch gar nicht lange still sitzen“

Bewegung gehört für Ilse Mesch zum Leben dazu; bei ihrem knapp ein Jahr älteren Mann ist das nicht anders. Seine Gymnastikgruppe findet direkt vor ihrer statt, Joggen machen die Knie nicht mehr mit, aber zu Hause absolviert er zusätzlich zum Gruppensport sein eigenes kleines Programm. „Liegestütze und was ihm gerade einfällt“, sagt Mesch wie selbstverständlich, dabei ist es für einen 88-Jährigen alles andere als das. „Wir versuchen einfach“, sagt sie, „uns ein wenig fit zu halten.“ Mit Erfolg.

Und vor allem mit Freude. Letzteres ist ein wesentlicher Aspekt, weshalb sie stets dabeigeblieben ist. Nicht, weil ein Arzt, ein Trainer oder ein Ratgeber-Buch dies empfohlen habe, es kommt direkt aus ihr – die ganz reine intrinsische Motivation. „Ich habe einfach Freude an Bewegung und kann auch gar nicht lange still sitzen“, sagt sie.

Ihr zweiter, nicht minder wichtige Grund für ein Leben in Bewegung war und ist bis heute der soziale Aspekt, die Gemeinschaft. „Es waren immer nette Menschen, mit denen ich zusammen Sport gemacht habe. Und diese Menschen sind dann auch wieder Motivation, dranzubleiben.“ Nicht nur, aber auch wegen dieser Facetten des Sports war die Pensionierung und damit der Schritt in einen neuen Lebensabschnitt für Mesch kein Problem. Es brach nichts weg, was eine nicht zu füllende Leere hinterließ. „Ich bin in kein Loch gefallen“, erzählt die 87-Jährige. „Ich habe ja auch immer was zu tun.“ Im Garten zum Beispiel. Zudem leben beide Töchter mit ihren Familien nicht weit entfernt, die Enkel sind mittlerweile erwachsen. Langeweile? „Gab es nie.“

Zur Freude und Gemeinschaft bietet ihr der Sport bis heute auch Erlebnisse, die prägen, die tragen, auf die es sich zu freuen und an die es sich zu erinnern lohnt. Etwa zehn Internationale Deutsche Turnfeste hat sie als Teilnehmerin erlebt und ausschließlich gute Erinnerungen daran. „Selbst als es furchtbar gegossen hat, war die Stimmung gut“, erzählt sie. „Dann hat man sich halt ein Regencape übergestülpt.“ Ilse Mesch ist keine, die sich davon die Laune vermiesen lässt.

Choreografien für Turnfeste und Weltgymnaestrada

Jetzt also Leipzig. Insgesamt zählen vier Großgruppengestaltungen zum Programm der Stadiongala, die vom Fernsehen live übertragen wird. Großgruppengestaltungen – das sind Bilder, die mit vielen Mitwirkenden auf dem Rasen kreiert werden. Mit 942 Aktiven ist das Akrobatik-Bild bei der Gala das größte, hinzu kommt ein Tanz-, ein Kinder- und ein Fitness-Bild. Bei Letzterem ist Ilse Mesch ein Teil der gigantischen Choreografie, die in vielen Vereinen Deutschlands separat geprobt wurde. In Neu-Isenburg kamen einmal alle zusammen, um die einzelnen Puzzleteile in einer Generalprobe zusammenfügen.

Es muss für Mesch aber gar nicht die große Bühne sein, nicht das Spektakel oder die weite Reise. Mit den richtigen Menschen Erlebnisse zu teilen – das macht es für sie aus. Und ihre Gymnastik-Clique aus Lemgo ist genau das. „Es ist alleine schon wunderschön“, sagt sie, „wenn man gemeinsam irgendwo hinfährt, sich freut und darüber redet.“ Dass sie dabei viel herumkommt, sieht Mesch als schönen Nebeneffekt, zumal Reisen auch gemeinsam mit ihrem Mann bis heute eine Leidenschaft ist.

Sportlich hat sie die Weltgymnaestrada, ein nur alle vier Jahre stattfindendes Breitensportevent, am weitesten von zu Hause weggeführt: Helsinki 2015, Amsterdam 2019, Dornbirn in Österreich 2023. In Amsterdam wohnten sie direkt an einer Gracht im fünften Stock eines Hauses mit schmalen Stiegen. „Ich habe das ganz wunderbar in Erinnerung“, sagt sie. „Aber Helsinki hat mir am besten gefallen.“

Die zwei Träume der Ilse Mesch

Um solche Reisen unternehmen und auch genießen zu können, muss die Gesundheit mitspielen. Mesch ist dankbar, dass es ihr gutgeht, dass sie so fit ist. „Ich versuche auch, unsere Ernährung ein wenig vernünftig zu gestalten“, sagt sie. Morgens gibt es immer etwas mit Obst – ihr Mann mit Müsli, sie mit Joghurt. Generell kommt viel Frischkost und Gemüse auf den Teller. „Das heißt aber nicht, dass wir keine Nudeln oder keine Kartoffeln essen“, schiebt sie ein, „natürlich!“ Ihr im wahrsten Sinne bewegtes Leben wird ebenfalls einen großen Teil zu ihrer Fitness im hohen Alter beigetragen haben. Schließlich sind umgekehrt zu wenig Sport sowie zu viel und ungesundes Essen Risikofaktoren für einen beschleunigten Alterungsprozess. Vor allem mit fortschreitendem Alter, das ist längst wissenschaftlich bewiesen, wird eine starke Muskulatur immer wichtiger.

„Ich denke“, sagt Mesch zurückhaltend, „meine Bewegung hat mir etwas dazu verholfen, relativ alt zu werden. Für mein Alter bin ich zudem noch recht beweglich.“ Sie hofft, dass es noch lange so bleibt. Ziele und Träume jedenfalls gehen der 87-Jährigen nicht aus. Da ist zum einen die Weltgymnaestrada in zwei Jahren in Lissabon, an der sie teilnehmen möchte. „Das habe ich fest vor“, sagt Mesch. „Ob ich es gesundheitlich noch schaffe, weiß ich nicht. Aber es ist mein Ziel.“ Es wäre nicht ihre erste Reise nach Lissabon – gemeinsam mit ihrem Mann unternahm sie früher lange Wanderungen mit Alpinschulen, die sie einmal auch nach Portugal führten. Und von dort im Anschluss auf einen Besuch nach Lissabon.

Ganz oben auf ihrer Wunschliste steht eine weitere Reise: die Hurtigrouten erleben, die traditionelle norwegische Postschifflinie an der Westküste zwischen Bergen und Kirkenes. Erst mal aber wird sie nun ihre Reisetasche für Leipzig packen.

Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, Extremsport sowie über Themen aus dem Fitness- und Gesundheitsbereich. Hier finden Sie ihre Artikel.

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