Die gesamte emotionale Bandbreite haben sie binnen kurzer Zeit zu spüren bekommen. Zwischen überbordendem Jubel und sportlicher Tristesse lagen gerade einmal acht Wochen. Dem 2:1 gegen Augsburg am 14. September folgten sieben Niederlagen in Serie. Und so stellte der FC St. Pauli nach dem besten Saisonstart überhaupt im Oberhaus des Fußballs durch das 1:2 in Freiburg am vergangenen Bundesliga-Spieltag den Vereinsnegativrekord aus den Jahren 1997 und 2011 ein. 

Bei der Suche nach den Ursachen für den Wandel vom Anwärter auf die Europapokalteilnahme zum Abstiegskandidaten rücken die Grundlagen der Sportart in den Fokus: Teamgeist, Zusammenhalt, Mentalität – all das gehörte immer zur natürlichen DNA dieses Vereins. Doch im sukzessiven Absturz sind jene Grundtugenden inzwischen abhandengekommen. Der Klub befindet sich auf der Suche nach seiner Identität. Und noch ist nicht klar, wie lange die andauern wird.

Andreas Bornemann ist schon lange im Geschäft. Doch an vergleichbare Flauten auf seinen Stationen kann er sich nicht ad hoc erinnern. „Das ist natürlich keine schöne Phase gerade. Trotzdem müssen wir im gesamten Kontext auch betrachten, was es für einen Verein wie St. Pauli überhaupt heißt, in der Bundesliga zu spielen“, sagt der Sportchef im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Diese Liga stellt für uns auch und insbesondere im zweiten Jahr eine große Herausforderung dar. Wir haben mit dem guten Start auch Erwartungshaltungen verändert. Aber weil wir einmal die Liga gehalten haben, sind wir noch lange kein etablierter Bundesligist.“

Im harten Wettbewerb muss der Hamburger Stadtteilklub nun damit klarkommen, dass der vor dem Saisonstart bewusst vollzogene personelle Umbruch im Sturm offenbar noch etwas länger negativ nachhallt. Johannes Eggestein, Morgan Guilavogui und Elias Saad wurden abgegeben und durch Angreifer ersetzt, die zumeist über stärkere Sprintfähigkeiten als ihre Vorgänger verfügen. Andreas Hountondji traf auch als erster Pauli-Stürmer überhaupt an den ersten drei Bundesligaspieltagen jeweils ins Tor. Danach aber fiel der Zugang vom FC Burnley parallel zu etlichen Mitspielern in ein Leistungsloch und wartet seither auf weitere persönliche Erfolgserlebnisse.

Der von Stade Brest verpflichtete Mathias Pereira Lage ist ebenso wie Rekordeinkauf Martijn Kaars (für vier Millionen Euro Ablöse aus Magdeburg nach Hamburg gekommen) sogar noch gänzlich ohne eigenen Treffer. Nun gilt es für Hountondji und Co., rund um das wegweisende Heimspiel gegen Union Berlin am Sonntag (17.30 Uhr, DAZN und im WELT-Liveticker) rasch wieder zur alten Stärke zurückzufinden.

„Gute Typen in unserer Mannschaft“

Die Herbstflaute im Sturm hat auch Bornemann aus nächster Nähe schmerzlich vernehmen müssen, findet aber bei der Einordnung realistische Worte. „Wir dachten eigentlich, dass wir zum Saisonstart einen etwas längeren Anlauf brauchen, weil wir im Sommer einen Umbruch im Kader hatten. Dann haben wir sieben Punkte aus drei Spielen geholt, aber danach eben keine weiteren. Mit jeder Niederlage erhöht sich dann der Druck“, erzählt der 54-Jährige. „Wir müssen es schaffen, dass wir nicht alles Negative an uns heranlassen. Wir haben gute Charaktere und gute Typen in unserer Mannschaft.“

In den Augen von Bornemann – immerhin seit 2019 auf Pauli aktiv und vorher in ähnlichen Funktionen beim 1. FC Nürnberg, bei Holstein Kiel, Alemannia Aachen und dem SC Freiburg tätig – ist ein Verlust der Grundtugenden innerhalb des Teams allenfalls eine temporäre Erscheinung. „Intensität ist unsere Identität. Wir müssen jeden Tag hart arbeiten und in jedem Spiel an unser Maximum kommen. Nur so können wir in der Liga konkurrenzfähig bleiben“, sagt er.

Allerdings muss der Verein weiter damit kämpfen, dass er in der Beletage des deutschen Fußballs in Sachen Finanzen noch immer zu den Leichtgewichten zählt – auch im zweiten Jahr seit dem Aufstieg 2024. „Was die Möglichkeiten angeht, sind wir auf einem vergleichbaren Niveau wie Heidenheim. Die Unterschiede in der Liga sind gravierend“, hat der Sportchef festgestellt. „Wir haben in dieser Saison kein Kiel oder Bochum mehr dabei, sondern diese beiden Klubs wurden gegen den HSV und Köln ausgetauscht. Wir befinden uns damit in einem stärkeren Wettbewerbsumfeld.“

Wo die branchenüblichen Reflexe nicht greifen

Was den Verein aber von anderen, chronisch unruhigen Standorten unterscheidet, ist die Treue zum Trainer. Wo an vielen Schauplätzen nach sieben Niederlagen in der Liga, die der Klub nur durch ein 10:9 nach Elfmeterschießen über Hoffenheim im DFB-Pokal zu unterbrechen vermochte, längst eine hartnäckige Debatte um einen Rauswurf des Übungsleiters am Laufen wäre, herrscht auf Pauli Ruhe.

Dort wissen sie ganz genau, was sie an Coach Alexander Blessin haben. Der gebürtige Stuttgarter trat im Sommer 2024 die schwierige Nachfolge von Aufstiegscoach Fabian Hürzeler an, den es zu Brighton & Hove Albion in die Premier League gezogen hatte. Aber entgegen vielen Expertenmeinungen benötigte Blessin nicht lange, um am neuen Standort zu funktionieren.

Im ersten Jahr verhinderte er mit der Mannschaft den Abstieg und landete am Ende auf Platz 14. Vor allem defensive Stabilität war dafür verantwortlich: Pauli kassierte nur 41 Tore – weniger musste nur Meister FC Bayern hinnehmen (32). Nun sind es in der aktuellen Saison schon 20 nach zehn Spielen. Auch darin liegt der dramatische Absturz von Platz vier auf Rang 16 innerhalb von zwei Monaten begründet. 

Eine defensive Verwundbarkeit, die auch etablierte Spieler zunehmend nervt. Innenverteidiger Hauke Wahl etwa monierte nach dem 0:4 daheim gegen Borussia Mönchengladbach einen Mangel an Pauli-typischen Tugenden. „Wir haben gedacht, dass wir jetzt wieder über die Details reden können, aber jetzt müssen wir wieder über die Basics reden: über das bessere Verteidigen, tiefe Verteidigen. Wir müssen uns gegenseitig helfen, Zweikämpfe annehmen, Zweikämpfe gewinnen“, sagte er. Und Abwehrchef Eric Smith ergänzte: „Es fühlt sich schrecklich an. Mit einer Performance wie heute haben wir nichts in der Bundesliga verloren.“

Noch bleibt genug Zeit, um den Verlust an Identität wieder rückgängig zu machen. Nach dem Heimspiel gegen Union ist gerade einmal ein Drittel der Saison absolviert.

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