Die 6 Verlierer in der Nationalmannschaft – und die wenigen Gewinner
Die durchwachsene Woche endete mit einer späten Heimreise. Im Anschluss an das 3:1 (1:1) der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Nordirland versammelten sich die Spieler am Ausgang des Kölner Stadions und stiegen – zum Teil mit ihren Frauen – in die Shuttles des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). In ihren Mienen war Erleichterung zu erkennen. Doch der Sieg kann die Zweifel rund um die Auswahl nicht wegdrücken.
Die Spieler, DFB-Sportdirektor Rudi Völler und Julian Nagelsmann verließen Köln in dem Wissen, dass in den kommenden Monaten viel Arbeit auf sie wartet. Das Problem des Bundestrainers und seiner Mannschaft: Die vergangenen Tage schürten mehr Sorgen als WM-Vorfreude. Es war eine Reise mit wenigen Gewinnern und mehr Verlierern.
Der Bundestrainer formulierte die zentrale Erkenntnis der ersten Reise in der WM-Qualifikation wie folgt: „Wir haben viele Schritte noch zu gehen.“ Ein überraschendes und peinliches 0:2 in der Slowakei (Weltranglisten-52.) und ein mühsamer Sieg gegen Nordirland (Weltranglisten-71.) – das ist die Bilanz. Das 3:1 war nicht mehr als Pflichtsieg und Schadensbegrenzung. Um von einem Wendepunkt zu sprechen oder zu schreiben, reichte es nicht. Es war ein erster, kleiner Schritt zur direkten Qualifikation als Erster der Gruppe A. Aber Nagelsmanns neue Marschroute ist es, nicht mehr weit nach vorn zu schauen.
„Wir fahren gut damit, dass wir jetzt einfach auf das Momentum schauen und uns auf die Spiele konzentrieren“, betonte der 38-Jährige. „Ich finde es vermessen, nach Donnerstag (0:2 in Bratislava, d. Red.), wo alles in Schutt und Asche lag, jetzt, weil wir gewonnen haben, wieder alles himmelhochjauchzend zu machen.“
Neun Monate vor dem XXL-Turnier in den USA, Kanada und Mexiko hat die Mannschaft viele Baustellen und Probleme. Andere Mannschaften sind deutlich souveräner. Spanien, einer der Turnier-Favoriten, siegte Sonntag 6:0 in der Türkei. „Es bleibt die Hoffnung, dass wir uns an unseren Gegner steigern“, so Rekordnationalspieler Lothar Matthäus. „Und es ist nach wie vor so: Keine große Mannschaft will bei einem Turnier gerne gegen Deutschland spielen.“
Mehr als Taktik, Aufstellung und Chancenverwertung
Nagelsmann wird nun viel und intensiv analysieren. Das 3:1 war sein 25. Länderspiel. Zur Halbzeitpause gegen Nordirland pfiffen viele Fans. Der Trainer zeigte einerseits Verständnis und sagte: „Die Tickets für das Spiel sind teuer. Die Leute erwarten von uns Spielern und Trainern eine gute Performance. Sie gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Stadion. Dass ein 1:1 das nicht ist, wie zu hören war, kann ich nachvollziehen.“
Er machte aber auch deutlich, dass er es sich anders wünsche: „Ich glaube, wenn wir alle im Land eine Energie haben für alles, wird es einfach besser. Wenn wir alle wie Hyänen im Busch sind und warten, bis ich endlich wieder einen beißen und sagen kann, wie schlecht er ist und wie beschissen er alles macht, weiß ich nicht, ob man sich super entwickelt als Land.“
Die Qualifikations-Reise und seine Worte zeigten, dass es bei der Nationalelf derzeit um viel mehr als Taktik, Aufstellung und Chancenverwertung geht. Es geht um Emotionen. Um das Gefühl der Fans für die Mannschaft, die Verbindung zwischen Publikum und dem Team. Bei der EM 2024 war nach Jahren der Entfremdung vieles gekittet worden. Doch die jüngste Entwicklung sorgt offenbar dafür, dass die Geduld und der Kritik bei den Fans wieder weniger geworden ist.
In der letzten halben Stunde spielte Deutschland gegen die Nordiren mit mehr Energie. Nach der frühen Führung von Serge Gnabry (7. Spielminute) trafen der eingewechselte Nadiem Amiri (69.) und Florian Wirtz (72.), für Nordirland hatte Isaac Prince ausgeglichen (34.). Ohne die fehlenden Jamal Musiala und Kai Havertz war Jamie Leweling vom VfB Stuttgart einer der Besten. Und einer der Gewinner dieser Reise. Leweling habe „immer was probiert“ und die Mannschaft „mit seiner Lust mitgerissen“, so Nagelsmann.
Matchwinner war der 28 Jahre alte Amiri vom 1. FSV Mainz 05, der sein erstes Länderspieltor feierte. „Nadiem ist immer auf dem Gaspedal, manchmal einen Tick zu viel“, so Nagelsmann. „Er hat immer Lust, Spiele zu gewinnen. Er kam rein und hatte einfach Bock.“ Auch der nachnominierte und eingewechselte Maximilian Beier von Borussia Dortmund überzeugte. „Es war ein ekliges Spiel, aber am Ende war das Einzige, was zählt, der Sieg“, so Amiri.
Die „superdelikate“ Torwartposition
Torwart Oliver Baumann von der TSG Hoffenheim bekam zwar drei Gegentore in zwei Spielen. Dennoch etablierte er sich auf dieser Reise als Nummer eins, solange Marc-André ter Stegen verletzt ist. Und eine Rückkehr von Manuel Neuer zwar öffentlich diskutiert wird, aber nicht Realität ist. „Dieses Jahr erwarte ich keine Rückkehr“, sagte Nagelsmann über den Zeitplan in der Personalie ter Stegen. Die DFB-Auswahl bestreitet bis November noch vier Partien. Ter Stegen hatte sich im Juli am Rücken operieren lassen. Er befindet sich aktuell in der Reha-Phase. Beim FC Barcelona war er unabhängig von der Blessur von Trainer Hansi Flick nicht mehr als Stammkraft eingeplant worden.
Nagelsmann pocht allerdings auch beim 33-Jährigen auf regelmäßige Einsätze im Klub. „Er ist dann die Nummer eins, wenn er spielt“, sagte der Bundestrainer. „Die Reha läuft gut und ich glaube auch, dass er ein bisschen früher wieder einsteigen kann als anfangs vermutet.“ Ter Stegen selbst hatte nach der Operation von einer dreimonatigen Ausfallzeit gesprochen.
Die Torwartposition bezeichnete Nagelsmann Sonntagabend in Köln als „superdelikat“. Man brauche schon Rhythmus. „Wir haben für zwei Spiele auch gesehen, dass Olli ein guter Torwart ist“, so Nagelsmann über Baumann. „Also muss auch keiner hektisch werden. Marc soll sich die Zeit nehmen, die er braucht.“
Der Dortmunder Waldemar Anton durfte gegen Nordirland von Anfang an spielen. Und stabilisierte die Abwehr. Enttäuschend hingegen war die Leistung Antonio Rüdigers. Dem Abwehrstar Real Madrids fehlt offensichtlich nach seiner Knie-Operation noch der Rhythmus. Jonathan Tah und Maximilian Mittelstädt ließ Nagelsmann gegen Nordirland lange draußen. Mittelfeldprofi Robert Andrich spielte in beiden Partien nicht. Obwohl der Kapitän Bayer Leverkusens in die Kategorie „emotionaler Arbeiter“ fällt. Eine Spielerkategorie, die nach der Blamage in Bratislava mitunter gefordert wurde.
Wirtz mit genialem Freistoß – sonst aber ohne Akzente
Auch der kürzlich für bis zu 90 Millionen Euro zu Newcastle United transferierte Nick Woltemade spielte wie gegen die Slowakei auch gegen die Nordiren schwach. Im Sturm ist Deutschland aktuell zu harmlos, Niclas Füllkrug hat mit Verletzungen zu kämpfen. Und der gerade zum FC Liverpool gewechselte Wirtz schoss zwar einen genialen Freistoß, konnte in beiden Spielen aber nicht die erhofften Akzente setzen. „Für ihn ist es wichtig, dass in Liverpool der Knoten platzt. Ich hoffe, dass er ein Tor schießt und mal eins vorlegt“, sagte der Bundestrainer.
Wirtz hatte beim englischen Meister keinen einfachen Start in der Premier League. Seine Leistungen für Liverpool waren bisher eher durchschnittlich, gegen den FC Arsenal (1:0) wurde er von Krämpfen geplagt ausgewechselt. „Wenn du bei einem Klub ankommst, ist es wichtig, dass dann auch gute Momente kommen“, so Nagelsmann. „Ich finde, er hat sich in jedem Spiel gesteigert. Deswegen habe ich ihm auch gesagt, er soll etwas probieren, er soll etwas riskieren, er soll eins gegen eins gehen und darf auch mal den Ball verlieren.“
In Abwesenheit von Musiala und Havertz müsse Wirtz „das Heft des Handelns in die Hand nehmen“, sagte Nagelsmann zur Führungsrolle des 22-Jährigen in der Offensive der Nationalelf. „Wenn Kai fehlt, wenn Jamal fehlt, ist Flo unser wichtigster Offensivspieler.“
Das nächste Mal hat Nagelsmann seine Mannschaft im Oktober um sich. Dann stehen das Heimspiel gegen Luxemburg in Sinsheim sowie das Rückspiel gegen Nordirland in Belfast an. Nagelsmann könnte Neulinge nominieren. Entscheidend für ihn und die Mannschaft wird sein, Überzeugung und Glaube zu vermitteln. Sein Ziel bleibt es, im kommenden Jahr Weltmeister zu werden. Die Nationalelf braucht einen Trainer, der nach dem höchsten strebt. Und Nagelsmann braucht Spiele, die zeigen, dass dieses Ziel realistisch sein kann. Trotz allem.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Er war bei den Spielen in Bratislava und Köln im Stadion.
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