Wann kommt die Flut? Mir doch egal!
Es gibt nicht mehr viel, was mir aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben ist. Ja, ich weiß noch, welche Leistungskurse ich hatte, kann Namen von Mitschülern und Lehrern nennen und natürlich auch ein paar Pausenhof-Anekdoten erzählen. Über Unterrichtsinhalte aber hat sich 28 Jahre nach dem Abitur dichter Nebel gelegt. Es überlebte nur ein einziger Satz meines Klassenlehrers Hans-Dieter Thomas, der damals natürlich nur Herr Thomas hieß.
Am letzten Sonntagmorgen im August stehe ich um 8 Uhr auf dem Deich in Cuxhaven-Duhnen, blicke nervös auf die Nordsee und muss an Herrn Thomas denken. Ich hatte den Satz in den vergangenen Jahren immer mal wieder grundlos im Ohr. Nun aber erhält er seine Bestimmung. Ich trage eine dünne Laufjacke, kurze Hose, und meine mit Vaseline eingeschmierten Füße stecken in Laufschuhen. Ich bin einer von 650 angemeldeten Teilnehmern des 1. Red Bull Wattlaufs: Über 24,6 Kilometer geht es durch eines der dynamischsten Ökosysteme Europas auf die Insel Neuwerk und zurück.
Ich mag sportliche Herausforderungen, habe in den vergangenen Jahren vieles ausprobiert, manchmal sogar darüber geschrieben. 2022 wanderte ich beim Megamarsch in Köln 100 Kilometer, in diesem Jahr fuhr ich in weniger als zehn Stunden 300 Kilometer mit dem Fahrrad. Nein, ich bin keiner von diesen durchgestylten Ausdauer-Asketen, keine Maschine, habe weder rasierte Beine noch ein 10.000-Euro-Bike und widme mich in meiner Freizeit auch sehr gern weniger anstrengenden Dingen. Ich rauche Zigaretten, esse Fastfood und Süßigkeiten. Doch mich treiben Neugier und die Lust, meine körperlichen Limits zu suchen und zu verschieben, Ängste und Zweifel zu besiegen. Der weltweit erste Watt-Wettkampf kam da gerade recht. Ein Lauf gegen die Flut. Wie geil!
Von der Deichkrone aus kann man der Ebbe dabei zusehen, wie sie das Wasser mal mehr, mal weniger gründlich von der Küste zieht. Gut für den Lauf, der um 9.10 Uhr beginnen soll. Schlecht nur, dass es ja irgendwann auch wiederkommt, wie ich einem älteren Mann augenzwinkernd erkläre, der mich mit der Frage, was denn heute all die Sportler hier so früh machen, in ein Gespräch verwickelt hatte. „Tja. Der Gang der Gezeiten“, sagt er lapidar und zuckt mit den Schultern. Eine Aussage, die ihn ausweist, niemals eine Erdkundestunde von Herrn Thomas besucht zu haben.
Ich spüre Herrn Thomas erhobenen Zeigefinger in meinem Gesicht
In der 6b des Franziskusgymnasiums in Lingen (Ems) stand Anfang der Neunziger „Deutsches Wattenmeer“ auf dem Lehrplan. Herr Thomas eröffnete das neue Thema mit einem Schweigen, bis auch der letzte von seinem Diercke Weltatlas aufgeschaut hatte. „Vor Feuer …“, sagte er und unterstrich die Bedeutung mit wiederholtem Nicken und doppelt so lauter Wiederholung: „Vor Feuer … kann man weglaufen.“ Dann, mit zusammengekniffenen Augen und betont leise die Punchline: „Vor Wasser: nicht.“
35 Jahre später spüre ich Herrn Thomas erhobenen Zeigefinger in meinem Gesicht. Ob er noch lebt? Und was, wenn das alles hier wirklich keine so gute Idee war? Zumal bei mir nach mehr als 20 Kilometern wahrscheinlich eh nicht mehr viel mit Weglaufen wäre.
„Aufgrund der Gezeiten ist es möglich, eine Strecke, also nur Hin- oder Rückweg, zu Fuß zu bewältigen. Die jeweils andere Strecke muss mit der MS Flipper zurückgelegt werden“, las ich am Vorabend in der Touristen-Broschüre „Weite, Watt und Wunderbares“, die im Foyer meines Hotels auslag. Eine Strecke. Eine. Nicht zwei. Ich sehe Herrn Thomas mit verschränkten Armen kopfschüttelnd vor mir.
Doch der Inhalt des Werbeblättchens wurde auch vom Veranstalter des Rennens gespiegelt. Jedenfalls muss beim Wattlauf mit der Fähre zurückfahren, wer länger als 90 Minuten bis zum Wendepunkt am Leuchtturm benötigt. Das Problem: Die MS Flipper legt erst um 18 Uhr ab. Fehlende Fitness und Form wird also mit rund sechs Stunden Wartezeit auf der zu Hamburg gehörenden Insel bestraft. Wer auf dem Rückweg durchs Watt von der Flut eingeholt wird, kann sich immerhin auf einen der Traktoren retten, die alle zwei Kilometer samt Sanitätern an der Strecke stehen.
Als ich mich verzweifelt an eine Schwimmboje klammerte
Alles Informationen, die meine Zweifel nährten, mich aber ebenso wenig zur Abmeldung bewegen konnten, wie eine plötzliche Prophezeiung am späten Samstagabend: Als ich vor dem Schlafengehen unter die Dusche stieg, fiel mein Blick auf das Hotel-Shampoo. Die Marke: „Roads“, der Name: „Bitter End“.
Und das könnte bereits recht früh auf mich warten, womit wir bei meinem größten Problem wären: offenes Gewässer. Ob See, Ozean oder Fluss – ich kann mich keine 15 Meter vom Ufer entfernen. Einen Triathlon in Hamburg hätte ich beinahe abgebrochen, weil ich kurz nach dem Schwimmstart in der Binnenalster Panik verspürte und mich verzweifelt an eine Schwimmboje klammerte. In der Binnenalster! Nun soll ich zwölf Kilometer hinaus gen Horizont laufen. Die Frage, die mich während der Tage vor dem Rennen beschäftigte: Werden meine Ängste die Nordsee immer noch als diese identifizieren, auch wenn jemand den Stöpsel gezogen hat und ich mich laufend statt schwimmend durch das Gelände fortbewege?
„Das hier ist mit einem Straßenlauf überhaupt nicht vergleichbar“, erklärt mir Florian Neuschwander, den ich vor Laufbeginn treffe. Der 44-Jährige ist ein Guru der Laufszene, seine Instagram-Gemeinde zählt 175.000 Jünger, und am ersten Septemberwochenende will er den Bodensee umlaufen und über die 200 Kilometer eine Bestmarke aufstellen. Den Weltrekord über 100 Kilometer auf dem Laufband (6:26:06) hält er bereits.
Neuschwander erzählt von reichlich Wasser, das auch bei Ebbe noch zu durchwaten sei. Für den Veranstalter hatte er den Wattlauf bereits in einem Test absolviert. Vor allem auf dem Hinweg nach Neuwerk gebe es auf der Strecke Priele und wassergefüllte Löcher mit bis zu einem Meter Tiefe. „Das kostet eine Menge Kraft. Spare dir also viele Körner für den Rückweg. Von der Belastung her fühlt sich der Lauf am Ende an wie ein Marathon auf der Straße.“
Je länger ich mich mit ihm unterhalte, desto deutlicher wird mir meine Ahnungslosigkeit. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was mich hier erwartet, stelle im Startbereich aber schnell fest, dass ich damit in bester Gesellschaft bin. Alle sind aufgeregt, und die Gespräche speisen sich bis zum Startsignal aus allerlei Mutmaßungen, was da wohl gleich kommen mag.
Die Akustik der größte Unterschied zu einem Straßenlauf
Es dauert keine zehn Schritte, da sind die Füße in den Schuhen nass. Ein seltsames Gefühl. Überraschend für mich aber auch, dass es das Laufen überhaupt nicht beeinträchtigt. Okay, bei jedem Schritt ist mehr Gewicht zu heben, und das Augenmerk gilt stärker als sonst dem ungewohnten Untergrund. Ansonsten aber ist die Akustik der größte Unterschied zu einem Straßenlauf.
Wie eine Herde pflügen wir auf einem 15 Meter breiten Korridor durch das Watt, Seite an Seite, pitsch-patsch. Matchspritzer zeichnen sich auf Kleidung und Gesichtern ab, und auch beim Laufen stellt sich schnell ein Rhythmus ein.
Nach etwa drei Kilometern ist das Feld deutlich auseinandergezogen. Weitere 1000 Meter später schiebt es sich aber schon wieder enger zusammen. Am Duhner Loch, dem tiefsten Punkt auf der Strecke, wird die Geschwindigkeit gedrosselt. Spätestens, als das – deutlich wärmer als befürchtete – Wasser bis zur Hüfte steht, läuft hier niemand mehr. Etwa 100 Meter geht es durch das Loch, die Strömung ist stark. Doch statt Panik spüre ich ein wohliges Gefühl in mir aufsteigen. Es macht Spaß, ich kann dieses Abenteuer genießen, zumal ich auch zeitlich voll im Soll liege.
Die ersten Kilometer habe ich mit einem Schnitt von unter 5:30 km hinter mich gebracht und mich vom Ende des Felds konsequent ins Mittelfeld vorgearbeitet. Der Untergrund ist mit zahlreichen Mulden und Senken zwar uneben und rutschig, aber mir gefällt es. Während immer wieder Läufer ausrutschen und stürzen, fühle ich mich so trittsicher wie die Pferde, die um uns herum Touristen auf hohen Wattwagen durch die einzigartige Kulisse ziehen. Einige der Fahrgäste feuern uns an, andere schauen uns etwas verständnislos nach. Mich motiviert beides.
Die Touri-Touren und der stete Wechsel aus Wasserquerungen und Schlick prägt die weitere Strecke bis nach Neuwerk. Kurz waten, lange laufen, lange laufen und wieder waten. Auch wenn ich mich am Ende der Priele jedes Mal grazil wie ein afrikanischer 3000-Meter-Hindernisläufer beim Schritt aus dem Wassergraben fühle, muss ich feststellen, dass das Laufen im waden- oder kniehohen Wasser nicht meine Disziplin ist. Immer wieder werde ich dort von Läufern überholt, an denen ich dann nach ein paar hundert Metern auf dem Schlick meist wieder vorbeiziehe.
Und einer kommt mir nun sogar entgegen: Neuschwander hat den Leuchtturm auf Neuwerk bereits umrundet und ist auf dem Rückweg. Ich schaue auf meine Uhr: 9,67 Kilometer habe ich nach 1:01 Stunden geschafft, er bereits 15. Herr Thomas wird seinen Satz einschränken müssen, denke ich und klatsche im Vorbeilaufen mit dem 44-Jährigen ab. „Du siehst gut aus“, ruft er, „die Insel ist gleich geschafft“.
Das Zurücklassen von Müll führt zur direkten Qualifikation
Auf Neuwerk erreiche ich den einzigen Verpflegungspunkt der Strecke. Zum Schutz des Unesco-Weltkulturerbes waren die Teilnehmer angewiesen, die üblichen Riegel, Bananen und Gele ausschließlich in Mehrwegverpackungen mitzunehmen. Das Zurücklassen von Müll führt zur direkten Qualifikation. Viele haben Rucksäcke oder Gürtel umgeschnallt, ich dagegen hatte mich für eine 0,75-Liter-Sportflasche entschieden, die ich während des Rennens in der Hand hielt und darin zwei in vier Stücke geteilte Energieriegel und drei Magnesiumtabletten transportierte. Den ersten Riegel hatte ich auf dem Hinweg gegessen, den zweiten stecke ich mir an der Verpflegungsstation unverpackt in die Jackentasche und löse die Tabletten in der Flasche mit Wasser auf.
Die Karenzzeit am unmittelbar folgenden Cut-off-Punkt unterschreite ich um zwölf Minuten, feiere mich innerlich auch für meine Logistik und darüber, den Riegel noch als Joker zu haben. Denn das Queren des ablaufenden Wassers in den Prielen hat Kraft gekostet. Für einige offenbar zu viel. Selbst nach Kilometer 14 kommen mir noch Läufer entgegen, ganz am Ende der „Lumpensammler“ mit der orangefarbenen Weste. Wer von ihm überholt wird, scheidet aus. Später erfahre ich: Vier Teilnehmer werden den Rückweg erst mit der Fähre antreten können, acht weitere schaffen den kompletten Rückweg nur mit motorisierter Hilfe eines Traktors.
Zurück im Watt werden auch die Laufgruppen kleiner, die Abstände größer. Ich habe nun die Ruhe und den Platz, um die Fauna mit Vögeln und Krebsen wahrzunehmen und kann auch Joachim Witts Frage beantworten: Wann kommt die Flut? – Mir doch egal!
Ich bin schnell genug, der Rhythmus passt, die Positionen im Rennen verändern sich kaum noch. Bei Kilometer 16 kommt Strand in Sicht und Neuschwander, wie ich später nachrechne, nach 1:40:45 Stunden ins Ziel.
Ich dagegen habe noch ein Drittel vor mir, genieße aber jeden Meter und bin sogar enttäuscht, dass einige der Priele vom Hinweg zu Pfützen geschrumpft sind. Der anfangs böige Wind hat sich etwas gelegt, und auch der Sand, den das Wasser unentwegt in die Socken spült, verursacht dank eingeschmierter Füße keine Blasen. Hier laufen zu dürfen, entpuppt sich als großes Geschenk. Weite, Stille und Meeresluft schaffen ein Gefühl der Freiheit.
Einzig ein paar Social-Media-Sklaven, die sich wie Kitesurfer von ihren in die Luft gestreckten Selfiesticks ziehen lassen und immer dasselbe in ihr Smartphone am Ende der Stange brabbeln, stören: „Hey Leute, ich bin gerade beim Wattlauf, ultrakrass … mega … superanstrengend … macht mal alle Lärm … Woohoo…blablabla … dann schreibts in die Kommentare.“ Watt soll das?
Im Ziel erhalte ich eine Holzmedaille
Als ich den Halbmarathon vollende, nehme ich noch mal einen tiefen Schluck aus meiner halbleeren Flasche. Ich spüre, dass ich noch Reserven habe und erhöhe euphorisch das Tempo. Knapp zwei Kilometer vor dem Ziel weht der Wind den Bass und die Stimme der Animateurin aus dem Zielbereich herüber. Ich lege nun alles, was ich noch habe, in den letzten langen Sprint. Berauscht von der eigenen Stärke und einigen Überholungen, überlege ich, Herrn Thomas eine Modifikation seiner Watt-Warnung vorzuschlagen: Vor Feuer kann man weglaufen, vor Wöckener nicht.
Im Ziel nach 24,6 Kilometern und 2:40 Stunden erhalte ich eine Holzmedaille, Glückwünsche und die Erkenntnis, dass sich 236 Teilnehmer nicht an meine vermeintliche Gesetzmäßigkeit gehalten haben und vor mir das Ziel erreichten. Vielleicht lassen wir das Thomassche Gesetz doch besser stehen. Es hat seine Einprägsamkeit und Wirkung schließlich bewiesen. Auch wenn ich beim Gedanken daran demnächst immer ein bisschen Stolz spüren werde.
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch Abseitiges wie Fußball.
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