„Ich hatte Geldprobleme, spielte viel E-Dart in Kneipen“
Zumindest für vier Tage ist Ricardo Pietreczko mal wieder nach Hause gekommen. Ein Umzug innerhalb seiner Wahlheimat Hannover steht an. Gemeinsam mit Lebensgefährtin Lena Welc gibt es diesbezüglich ein paar Dinge vorzubereiten. Das Paar ist viel unterwegs, hatte das vergangene Wochenende in Kiel verbracht. Bei der Baltic Sea Darts Open erreichte „Pikachu“ die zweite Runde. Am Montag ging es dann für einen beruflichen Termin nach Münster, abends spielte die Nummer 29 der Weltrangliste vor Ort noch ein lokales Amateurturnier, ehe es nachts wieder in die Landeshauptstadt zurückging.
Und der nächste Trip wartet schon am Samstag. Das World Matchplay, nach der Weltmeisterschaft das wichtigste Darts-Profiturnier, steht an, und der 30-Jährige hat sich zum zweiten Mal in seiner Karriere qualifizieren können. Am Montagabend (20 Uhr) trifft er in Blackpool auf den englischen WM-Halbfinalisten Chris Dobey. Übertragen wird das Turnier von DAZN und Pluto TV auf dem „DAZN Darts x Pluto TV“-Kanal.
WELT: Herr Pietreczko, Sie gelten als beispielloser Vielspieler, nehmen selbst kleinste Turniere im Amateurbereich mit. Erst vor zwei Wochen wurden Sie Hildesheimer Stadtmeister, sind zudem ständig bei Online-Turnieren dabei. An wie vielen Tagen im Monat werfen sie kompetitiv Pfeile?
Ricardo Pietreczko: Wenn das das Kriterium ist, mit Scolia-Turnieren (Online-System, d. Red.)und regionalen Events, dann spiele ich eigentlich immer. Ich bin jeden Tag am Zocken.
WELT: Langweilig wird Ihnen das nicht?
Pietreczko: Nein. Weshalb sollte mir etwas langweilig werden, das mir großen Spaß macht?
WELT: Nun ja. Die meisten Profis spielen außerhalb der Tour keine weiteren Turniere.
Pietreczko: Ja, das stimmt. Aber für mich kommt das einfach nicht infrage.
WELT: Seit wann ist das bei Ihnen so?
Pietreczko: Eine gute Frage. Vielleicht seit der Corona-Zeit. Wobei, nein, eigentlich schon vorher. So seit 2018 würde ich sagen. Damals ging es ja los mit den Online-Turnieren im E-Dart. Und seitdem habe ich eigentlich jeden Tag ein Turnier gespielt.
WELT: Ist Ihr Erfolg da manchmal sogar hinderlich, weil Sie durch die vielen Reisen nach England das eine oder andere lokale Turnier verpassen?
Pietreczko: Nein, das stört mich nicht. Mir ist völlig egal, wo ich Dart spiele.
WELT: Als Nächstes wartet das World Matchplay. Sind Sie mit der Auslosung zufrieden?
Pietreczko: Ich habe nicht Luke Humphries bekommen...
WELT: ...gegen den Sie bei Ihrem Debüt im vergangenen Jahr mit 4:10 ausschieden.
Pietreczko: Genau. Es war das Jahr, bei dem ich Luke Humphries in der dritten WM-Runde hatte, beim World Matchplay in der ersten und beim World Grand Prix in der zweiten – und jedes Mal verlor. Insofern bin ich mit der Auslosung zufrieden. Diesmal kann ich erst im Finale auf ihn treffen.
WELT: Die Erfolge der deutschen Spieler nehmen zu, Martin Schindler und Sie haben Turniere auf der European Tour gewonnen, Niko Springer feierte einen fabelhaften Einstand auf der Profitour. Wie nah ist der erste Sieg bei einem Major-Turnier?
Pietreczko: Ich hätte nichts dagegen, wenn Martin oder ich mal irgendwann das World Matchplay oder ein anderes Major gewinnen. Aber dieses deutsche Denken gibt es bei mir schon lange nicht mehr. Ich bin ich – als Einzelperson. Ich schaue natürlich auch auf die anderen Deutschen, aber letztlich sind sie mir egal. Ich schaue auf mich selbst und will mit meinem Beruf Geld verdienen. Würde ich jetzt das World Matchplay gewinnen, würde ich jedenfalls nicht gleich daran denken, dass ich der erste Deutsche wäre.
WELT: Beim World Cup traten Sie gemeinsam mit Schindler für Deutschland an und sorgten für einen echten Coup, als sie die hochfavorisierten Engländer Humphries und Luke Littler besiegten. Die Stimmung in der Halle erinnerte an ein Fußball-Länderspiel. Haben Sie das auf der Bühne auch so erlebt?
Pietreczko: Natürlich nimmt man das da oben wahr.
WELT: Zeigte es nicht auch, was mit Ihrem Sport in Sachen Reichweite und Begeisterung hierzulande noch alles möglich ist?
Pietreczko: Diesen Fußballcharakter wollen wir ja gerade nicht. Wir wollen, dass es weiter Dart bleibt. Die Pfiffe und das Buhen kommen vom Fußball zu unseren Turnieren rüber. Darauf können wir gern verzichten.
WELT: Dennoch kam insbesondere in Frankfurt auch viel positive Energie rüber. Oder sehen Sie das anders?
Pietreczko: Nein, das ist schon richtig. Die Stimmung war sehr gut, hatte aber jetzt auch nicht zwingend etwas mit Martin und mir zu tun. Auch die anderen Nationen, wie zum Beispiel Hongkong, wurden vom Publikum super unterstützt. Egal, wer da oben steht – gefeiert werden eigentlich alle.
WELT: Wie populär sind Sie aufgrund Ihrer Erfolge mittlerweile? Können Sie noch unerkannt einkaufen gehen?
Pietreczko: Wenn ich manchmal in der Stadt unterwegs bin, erkennen mich die Leute, wollen Fotos oder ein Autogramm. Aber das war auch schon vor dem World Cup so.
WELT: Gefällt Ihnen das, weil es eine Wertschätzung Ihrer Leistung ist? Oder stehen Sie nicht so gern im Rampenlicht?
Pietreczko: Ich habe nichts dagegen und mag grundsätzlich auch die Fannähe. Wenn ich jetzt nicht gerade esse oder telefoniere, passt das.
WELT: Bis vor zwei, drei Jahren waren Sie noch völlig unbekannt, obwohl Sie bereits vor zehn Jahren verheißungsvoll gestartet waren. 2015 nahmen Sie erstmals an der damals noch an mehreren Spieltagen im Jahr durchgeführten Super League teil, kamen direkt ins Halbfinale. Im Folgejahr aber zogen Sie Ihre Teilnahme kurzfristig zurück, tauchten in der Super League dann erst 2019 wieder auf. Was war damals passiert?
Pietreczko: Ich habe Darts schon damals geliebt, wollte so viel spielen wie möglich. Das wird auch immer so bleiben. Aber ich hatte Geldprobleme. Ich konnte mir die Reisen und die Unterkünfte an den Spieltagen schlichtweg nicht leisten.
WELT: Waren Sie nicht berufstätig?
Pietreczko: Ich hatte verschiedene Berufe, arbeitete als Kellner oder bei der Post als Briefträger. Dann fing ich eine Ausbildung als Elektriker an, die ich aber schnell wieder abbrach. Anschließend arbeitete ich als Maler und Lackierer.
WELT: 2019 kamen Sie dann zurück, wurden aber disqualifiziert, weil Sie zweimal nicht antraten. Aus beruflichen Gründe, wie es damals hieß.
Pietreczko: Richtig ist, dass es meine finanzielle Situation war. Ich hatte gedacht, dass ich das alles würde stemmen können. Das war aber nicht der Fall, weil ich keine Sponsoren hatte.
WELT: Was und wo haben Sie denn damals gespielt?
Pietreczko: Ich spielte sehr viel E-Dart in Kneipen. Im Raum Nürnberg, wo ich damals lebte, habe ich so gut wie alles an Turnieren mitgenommen, was es gab.
WELT: War es für Sie eine Überraschung, als Sie sich 2022 dann die Tourkarte holten?
Pietreczko: Ich war mit dem Gedanken zur Q-School gefahren, in der folgenden Saison auf der Challenge Tour zu spielen. Doch dann hatte ich am Ende auf einmal die Tourkarte geschafft.
WELT: Hatte sich Ihre finanzielle Situation verbessert?
Pietreczko: Sie war immer noch schwierig, aber ich hatte die Hoffnung, dass durch den Erfolg Sponsoren auf mich zukommen würden, und diesmal war das auch der Fall. Durch meine ersten Preisgelder, die ich gewann, konnte ich meine Reisen zu den weiteren Turnieren finanzieren.
WELT: War es Ihr Traum, als Profi von Ihrem Sport zu leben?
Pietreczko: Ich hatte mir schon ausgemalt, dass es schön wäre, eines Tages davon leben zu können. Aber ernsthaft damit auseinandergesetzt, hatte ich mich damit erst seit 2022, als ich die Tourkarte gewann. Bis dahin war mir das zu unrealistisch.
WELT: Mittlerweile sind Sie fester Bestandteil der Top 32 in der Welt. Verspüren Sie Genugtuung oder gar Stolz, wenn Sie sich an die Zeiten vor fünf, sechs Jahren erinnern?
Pietreczko: Nein. Ich schaue eigentlich sehr selten zurück. Ich lebe im Jetzt und Hier. Ich schaue auch überhaupt nicht auf Ranglisten. Es ist ganz einfach: Wenn ich irgendwo qualifiziert bin, dann spiele ich das Turnier.
WELT: Und da ist es Ihnen egal, ob es die Stadtmeisterschaft in Hildesheim oder das World Matchplay in Blackpool ist?
Pietreczko: So schaut es aus, ja. Egal, wo ich bin: Ich will mein Spiel durchziehen.
WELT: Wie denken Sie über Statussymbole? Haben Sie sich in den vergangenen Jahren, etwa nach einem Turniersieg, mal bewusst etwas gegönnt?
Pietreczko: Lena sitzt gerade neben mir. Sie lacht und hat sagt: ,Er hat jetzt eine Freundin.‘ Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich lebe wie immer, habe keine größeren Ausgaben. Außer, dass wir jetzt gerade umziehen.
WELT: Welche sportlichen Ziele verfolgen Sie?
Pietreczko: So gut wie möglich zu spielen. Und eines meiner Ziele habe ich ja vor ein paar Wochen erreicht: einmal den PDC World Cup zu spielen. Für mein Land. Das würde ich in den nächsten Jahren gern so oft wie möglich wiederholen.
WELT: Haben Sie eigentlich einen Plan B, wenn es mal nicht mehr für die Profitour reichen sollte?
Pietreczko: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich spiele so lange Dart, wie es möglich ist. Am liebsten so lange, bis ich umfalle.
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch Abseitiges wie Fußball.
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