Jeden Tag werden die Spieler an die Wunden erinnert. Auf einer Gedenktafel am Trainingsgelände des FC Liverpool sind die 97 Todesopfer der Hillsborough-Katastrophe von 1989 aufgeführt. Es ist die schlimmste Tragödie im englischen Fußball und das schmerzhafteste von vielen einschneidenden Ereignissen in der Geschichte des Vereins.

Die „Reds“ scheinen nie zur Ruhe kommen zu dürfen. Große Erfolge und Dramen wechseln sich ab. Am Donnerstag vergangener Woche erschütterte das Unglück um Stürmer Diogo Jota (†28) den Verein. Der Portugiese war bei einem Verkehrsunfall gemeinsam mit seinem Bruder André Silva (†25) ums Leben gekommen.

Die Mannschaft erschien zur Beerdigung am Samstag in Jotas Heimatort Gondomar nahe Porto. Kapitän Virgil van Dijk (34) legte einen Kranz nieder – ein rotes Trikot aus Rosen mit Diogos Rückennummer 20. Die wird der Verein nie wieder vergeben. Die Familie des verunglückten Stars erhält das volle Gehalt bis zum ursprünglichen Vertragsende 2027. Der LFC zahlt rund 14 Millionen Euro – nicht, um gut dazustehen. Im Verein gilt die große Geste als Selbstverständlichkeit. Der englische Meister 2025 weiß mit allen Tiefen umzugehen. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie viel Leid erträgt ein Verein?

Liverpool zahlt Jotas Familie zwei Jahresgehälter

„Tragödien haben den Klub zusammengeschweißt, und daraus wurde der Klub stark“, sagt Dietmar Hamann. Er hat sieben Jahre (1999 bis 2006) für Liverpool gespielt. Der ehemalige deutsche Nationalspieler kennt den Verein von innen. Er weiß, wie die Menschen fühlen. „Im Nordwesten ist es so: Wer einmal im Herzen der Leute angekommen ist, der ist auf ewig einer von ihnen. Das wird auch bei Jota so sein“, sagt Hamann.

Und er erklärt: „So etwas wie jetzt ist noch nie passiert. Aber auch im Fall von Diogo Jota werden sich Stadt und Verein dafür einsetzen, dass die Unterstützung und das Gedenken nicht nur symbolisch passieren wird. Dass der Verein seiner Familie zwei Jahresgehälter zahlt, ist ja schon ein großes Zeichen.“

In Liverpool wird das Leid greifbar, weil es immer wieder diesen Verein trifft. Erst Ende Mai hatte eine Amokfahrt den 20. Meistertitel der „Reds“ überschattet. Paul D. war mit seinem Auto während der Jubel-Parade in der Stadt in die Menschenmenge gefahren. 79 Personen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die Meisterschaft 2020, die erste des Vereins nach 30 Jahren, konnte wegen der Corona-Pandemie gar nicht gebührend gefeiert werden.

Liverpool fühlt sich ausgestoßen

All das zahlt auf das Gefühl in der Stadt ein: Wir gegen den Rest des Landes. Gegen die Regierung in London. Teilweise sogar gegen die Krone. Liverpool fühlt sich ausgestoßen. Das begann unter Premierministerin Margaret Thatcher († 87), die von 1979 bis 1990 regierte. Ihre Wirtschaftspolitik machte die Menschen in Liverpool ärmer, kostete viele Arbeitsplätze, sorgte für Wut.

Der Fußball und der LFC hielten die Stadt zusammen und sorgten für große Siege. Bis zum 29. Mai 1985. Vor dem Finale im Europacup der Landesmeister im maroden Brüsseler Heysel-Stadion gegen Juventus Turin (0:1) kam es zu schweren Fan-Ausschreitungen beider Seiten. Liverpooler Hooligans brachten dabei eine Mauer zu Fall. 39 Menschen starben. Englische Klubs wurden daraufhin für fünf Jahre von den europäischen Vereins-Wettbewerben ausgeschlossen, Liverpool sogar sechs.

Der neue Verein des deutschen Superstars Florian Wirtz war gebrandmarkt. Im eigenen Land noch mehr als international. Das wurde bei der Hillsborough-Katastrophe 1989 deutlich. Regierung, Behörden und Polizei versuchten über Jahre, die Schuld wieder den Liverpool-Fans anzulasten.

97 Menschen starben, nachdem kurz vor und kurz nach dem Anpfiff des FA-Cup-Halbfinals zwischen Liverpool und Nottingham im Stadion von Sheffield immer mehr Zuschauer unkontrolliert in den Liverpooler-Fan-Bereich strömten. Wer sich in Todesangst über die Zäune in den Innenraum retten wollte, wurde von der Polizei zurückgedrängt. Genauso untersagten die Ordnungskräfte das Öffnen der Fluchttore. Außerdem verhinderten sie zu Beginn die Hilfe für die Opfer durch Sanitäter.

„You‘ll never walk alone“ ist ins Vereinslogo integriert

Seit diesem Tag wird das „You’ll never walk alone“ noch lauter und mit noch größerer Emotion gesungen. Das Lied wurde zur Hymne und der Titel ins Vereinslogo integriert.

Hamann hat den Schmerz und den Umgang damit erlebt. „Aus der Ferne habe ich vor meinem Wechsel viele Sachen natürlich mitbekommen. Aber das einschneidende Erlebnis war mein erster Memorial-Gottesdienst für die Hillsborough-Opfer am 15. April 2000. Da habe ich verstanden, was der Klub den Menschen bedeutet, aber was die Menschen auch dem Klub bedeuten“, sagt der heutige Sky-Experte. „Danach bin ich nach Hause gefahren und habe mir gesagt: Ich muss alles in meiner Macht Stehende tun, um die Leute nicht zu enttäuschen.“

Den Kampf um die Gerechtigkeit hat er selbst miterlebt. Hamann: „Ich fand es beeindruckend, wie der Klub und die Stadt über Jahrzehnte dafür gekämpft haben, dass die Berichte über die Versäumnisse der Polizei öffentlich gemacht werden.“

Über viele Jahre wurde die Wahrheit vertuscht. Erst 2012 erfuhr der FC Liverpool durch den Bericht einer unabhängigen Kommission, die alle Unterlagen über das Unglück erhalten hatte, Gerechtigkeit. Es wurde festgestellt, dass die Schuld nicht bei den Fans, sondern bei den Ordnungskräften lag. Die Gerichte schlossen sich dem später in neuen Urteilen an.

Die Profis tragen die Zahl 97 unterhalb des Nackens auf den Trikots, um immer an die Opfer zu erinnern. Das Leid hat alle Menschen im Klub über die Jahre noch mehr miteinander vereint und stärker gemacht: Wir gegen den Rest der Welt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Diogo Jota war ein Spieler, der sich dem Verein und dessen Vergangenheit verschrieben hatte. Mannschaftsdienlich, bescheiden, besessen von Erfolg. Der deutsche Trainer Jürgen Klopp verpflichtete ihn 2020 von Wolverhampton. Zu Jotas Tod schrieb Klopp bei Instagram: „Das ist ein Moment, in dem ich kämpfe. Es muss einen tieferen Sinn geben. Aber ich kann ihn nicht sehen.“

Und weiter: „Diogo war nicht nur ein fantastischer Spieler, sondern auch ein großartiger Freund, ein liebevoller und fürsorglicher Ehemann und Vater.“ Er hinterlässt seine Ehefrau Rute Cardoso, die er nach 13 Jahren Beziehung erst im Juni geheiratet hatte, und drei kleine Kinder.

Liverpool wird sie im Herzen behalten und für immer ehren.

Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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