"Zu viele Dauerkarten sind eine große Gefahr"
Das letzte Klub-Spiel des europäischen Kalenders ist gespielt. Die Saison 2024/2025 ist bis auf die extravagante Klub-WM der FIFA seit dem Endspiel der Königsklasse in München beendet. Zeit, um darauf zu schauen, was war. Dominik Schreyer von der WHU - Otto Beisheim School of Management blickt im ntv.de-Interview auf die Entwicklung der Zuschauerzahlen. Er hat keine guten Nachrichten im Gepäck und warnt den deutschen Fußball davor, den Anschluss nicht zu verpassen.
ntv.de: Herr Schreyer, Sie haben schlechte Nachrichten mitgebracht: Die Bundesliga ist nicht mehr die besucherstärkste Fußball-Liga der Welt. Wer hat sie abgelöst?
Dominik Schreyer: Die englische Premier League führt erstmals seit der Saison 2002/03 wieder in puncto verteilte Tickets pro Spiel. Der Vorsprung fiel deutlich aus: Mit rund 40.400 verteilten Eintrittskarten pro Partie - und damit ca. 1800 mehr als in der Bundesliga - rangiert die Premier League klar vorn. Dabei sind dies ausschließlich verteilte Karten, nicht die tatsächlichen Zuschauerzahlen.
Der VfL Bochum und Holstein Kiel sind mit ihren kleinen Stadien aus der Bundesliga abgestiegen. Der HSV und der 1. FC Köln kommen hoch. Das wird doch in der nächsten Saison sicher kippen?
Es wird vermutlich deutlich enger werden, als Sie erwarten. Die drei Stadien der Aufsteiger Leeds United, Burnley und Sunderland bieten zusammen eine größere Kapazität als die der Absteiger Leicester, Ipswich und Southampton. Damit erhöht sich auch die Gesamtkapazität in der Premier League. Hinzu kommt, dass Everton in ein neues, deutlich größeres Stadion zieht und der Stadionausbau bei Fulham und vor allem auch Manchester City mittlerweile weit vorangeschritten ist. Genau diese Modernisierungsmaßnahmen tragen dazu bei, dass in England immer mehr Zuschauer die Stadien besuchen können.
Das bedeutet?
Beim Blick in die Zukunft fällt auf, dass in England derzeit wieder verstärkt Stadionneubauten diskutiert werden; alternativ sind Kapazitätserweiterungen geplant. In Deutschland ist das selten der Fall. Es ist natürlich nur Spekulation, aber selbst dann, wenn die Bundesliga im kommenden Jahr - Stichwort: HSV und Köln - wieder um die Krone mitspielen kann, dürfte es in den nächsten Jahren deutlich schwieriger werden, den Status als bestbesuchte Liga zurückzugewinnen.
Ist es in Deutschland vorbei mit dem "höher, schneller, weiter" der vergangenen Jahrzehnte?
Ja, das halte ich zumindest für sehr wahrscheinlich. Bislang lautete das positive Narrativ wie folgt: Die Menschen strömen in die Bundesligastadien. Die Liga ist pro Spiel die am stärksten nachgefragte Fußball-Liga der Welt. Und ganz wichtig: Jedes Jahr gibt es dort mehr Zuschauer im Stadion. Es lohnt sich jedoch, hier etwas genauer hinzuschauen. Dabei fallen einige interessante Dinge auf. Zum Beispiel, dass die DFL zuletzt Rekordzahlen stets über beide Ligen hinweg kommuniziert hat. Das ist legitim, verdeckt jedoch, dass die 2. Bundesliga der Motor des Wachstums war.
Haben Sie dafür Zahlen?
Ja. Tatsächlich ist die Zuschauernachfrage in der 2. Bundesliga zuletzt etwas stärker gestiegen, als sie in der Bundesliga zurückgegangen ist. Der Zuschauerschnitt lag in der Saison 2011/12 bei über 45.000 Zuschauern, was damals fast 11.000 Tickets pro Spiel mehr waren als in der Premier League. Diese Entwicklung hängt natürlich vor allem mit der Ligazusammensetzung zusammen. So stiegen zuletzt immer wieder etwas kleinere, offensichtlich professionell geführte Klubs wie Kiel, Heidenheim, Paderborn oder St. Pauli auf. In der 2. Liga hingegen sammelten sich die Vereine, bei denen wir dann stets so ganz bedeutungsschwanger von Traditionsklubs sprechen: Köln, Hamburg, Düsseldorf, Hertha, Hannover, Kaiserslautern und natürlich auch Schalke.
Daraus folgt?
Es ist natürlich leichter zu wachsen, wenn der Referenzpunkt, wie in der 2. Bundesliga, nicht so hoch ist wie in der Bundesliga, deren Stadien in der Regel ja ausverkauft sind. Mit all den Traditionsklubs wurde die 2. Liga dann nicht nur nach und nach interessanter, sondern sie profitierte durch diese Klubs auch von vergleichsweise großen Stadien und - mindestens genauso wichtig - von einem Fan-Support, der sich besonders in hohen Dauerkartenverkäufen zeigt. Natürlich gibt es in der Bundesliga ebenfalls absolute Flaggschiffe, denken Sie nur an Borussia Dortmund. Aber auch die zuvor angesprochenen kleineren Klubs sind dort eben zu finden.
Die nicht so ein großes Fanaufkommen haben.
Mit Blick auf die Stadionnachfrage sind gerade diese Klubs doppelt problematisch: Aus unserer Forschung wissen wir, dass nicht unbedingt die oft diskutierten Anstoßzeiten die Nachfrage steuern, sondern fast ausschließlich das Auswärtsteam. Wenn, bei aller Liebe, nun also Kiel erwartet wird, ist das für Heimfans weniger attraktiv als zum Beispiel wenn Bayern München, Schalke oder Köln kommen. Das erschwert es, den Heimbereich voll auszulasten. Darüber hinaus bringen diese Klubs naturgemäß aber eben auch weniger Auswärtsfahrer mit. Immerhin zehn Prozent aller Tickets gehen aber an genau diese Auswärtsfans. Kann der Auswärtsbereich dann nicht verkleinert werden, bleiben diese Plätze frei. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass die Auslastung nicht mehr immer bei 100 Prozent liegt.
Wie reagieren die Klubs darauf?
Man könnte sagen, dass die Ticketverantwortlichen das Risiko hedgen. Das bedeutet, von Anfang an werden mehr Dauerkarten verkauft, als es ökonomisch normalerweise sinnvoll wäre, wenn die erwartete Nachfrage eher hoch wäre. Das Risiko, vor einem Spiel gegen einen kleinen Klub auf einer Vielzahl nicht verteilter Tickets sitzenzubleiben, wird so minimiert; der Klub hat zudem seine Umsätze zu Beginn der Saison generiert - und das reicht ja dann, überspitzt gesagt, immerhin noch für den linken Zeh des neuen rechten Außenverteidigers. Für Klubs ist es zudem natürlich besser, Rekordzahlen bei den Dauerkarten zu verkünden, als sich der Diskussion um nicht verteilte Tickets zu stellen. Wie viele Leute dann tatsächlich in den Stadien sind, ist noch einmal eine ganz andere Frage, denn die sogenannte No-Show-Rate ist bei Dauerkarteninhabern vergleichsweise hoch.
Was passiert, wenn der sportliche Erfolg in einer Saison ausbleibt?
Aufgrund der hohen Anzahl distribuierter Dauerkarten ist mit Blick auf die Anzahl distribuierter Tickets natürlich nicht mehr viel Fluktuation möglich. Anders formuliert: Selbst wenn die Menschen sich von ihrem Klub abwenden würden, weil der sportliche Erfolg ausbleibt, würde man dies zwar auf den Tribünen sehen, aber in den Statistiken würden wir es nicht erkennen. Hierfür müssten wir auf die tatsächlichen Zutrittsdaten zurückgreifen. Auch wenn uns diese Daten derzeit leider nicht vorliegen, würden wir dort eher sehen, dass der Besuch, wie zuvor erwähnt, eben vor allem vom Gegner abhängig ist. Die sportliche Leistung des Heimteams ist demnach in der Regel kein maßgeblicher Faktor.
Die Dauerkarten sind also auch ein Instrument, um Schwankungen zu minimieren.
Genau. Daraus ergibt sich aber eine andere Gefahr für den Fußball. Die Tribünen, oder besser, das durchschnittliche Alter der Zuschauer auf diesen Tribünen, wird in vielen Stadien jedes Jahr exakt ein Jahr älter. Denn die oft begehrten Dauerkarten werden in der Regel nicht abgegeben. Das ist ein Problem, weil es dort keine Durchmischung mehr gibt. Das ist in Dortmund so, das ist in München so, das ist auf Schalke so. Am ehesten kann man dies dann noch über den Zweitmarkt regeln. Und tatsächlich versuchen viele Klubs ja bereits, zum Beispiel mit Hilfe von Mindestnutzungsregeln, die Zahl verfügbarer Tageskarten etwas zu erhöhen. Auch wenn es jedes Jahr etwas besser wird, ist es aber noch nicht perfekt.
Was resultiert daraus?
Es ist im Grunde eine tickende Zeitbombe. Eine, die zunächst einmal eine ganze Weile tickt, ohne dass es jemanden stört. Aber in zehn, in 15 Jahren wird das ein Problem ergeben. In den USA gibt es Marktforschungen, die sagen, dass jeder Zweite in der Gen Z noch nie ein Live-Sport-Event gesehen hat. Dazu kommt die anekdotische Evidenz, dass sich alles vom Konsum der 90 Minuten wegentwickelt. Und wenn diese Generationen zudem keinen Zugang zum Stadion haben - der Vater, ganz plakativ gesprochen, nicht mehr seinen Sohn oder seine Tochter mitnehmen kann, weil es keine Tickets mehr gibt -, dann verlierst du diese Sozialisation, und es bleibt beim Konsum von Häppchen. Und es ist natürlich eher unwahrscheinlich, dass diese Klientel dann begeistert in die Hände klatscht, wenn die heutigen Dauerkarteninhaber im Jahr 2040 vielleicht nicht mehr ins Stadion kommen können. Langfristig droht so eine Lücke zu entstehen. Aber das will heute natürlich niemand hören.
Ihre Forschungen beziehen sich nicht nur auf Deutschland. Wer ist der durchschnittliche Stadionbesucher? Wer ist der durchschnittliche Fan?
Es gibt nicht diesen einen Fan. Und ich denke, es gibt auch nicht den besseren Fan. Es gibt den, der die Highlights schnell schaut, wenn er im Familienalltag einen Moment Ruhe findet. Es gibt den Fan, der 4000 Kilometer fliegt, nur um seinen Verein einmal live zu sehen, und es gibt natürlich den Fan, der immer kommt und auf der Tribüne steht. Und das bietet Klubs natürlich auch eine Chance: Früher gab es im Grunde nur Steh- und Sitzplätze, dann kamen irgendwann Hospitality-Angebote dazu, aber auch Familienblocks. Im Grunde benötigt ein Klub, der wachsen will, heute also sehr unterschiedliche Angebote für sehr unterschiedliche Fans. Und da kommt dann auch die Rückkehr der Stehplätze in der Premier League im Rahmen der Safe Standing Initiative ins Spiel. Die machen das Erlebnis besser, und sie helfen aber auch, das Stadion neu zu strukturieren.
Inwiefern?
Wenn Kapazitäten ausgebaut werden, dann geht es vor allen Dingen darum, margenstarke Plätze zu installieren. Gleichzeitig willst du die Zuschauer, die das Spiel und den Klub groß gemacht haben und die halt auch wichtig für dein Produkt sind, nicht verlieren. Bei starker Nachfrage bieten Stehplätze also die Möglichkeit, relativ viele dieser Personen in einem Bereich unterzubringen. Das ist gut für das Produkt Stadionerlebnis, aber es ist natürlich auch Politik. Deswegen werden Stehplätze in England zum Beispiel interessant. Und da ist die Bundesliga durchaus ein Vorbild. Es gibt aber noch eine ganz andere Entwicklung.
Erzählen Sie davon, Herr Schreyer.
In den USA gibt es eine neue Halle. Den Intuit Dome in Los Angeles mit 18.000 Plätzen. Dort spielen die L.A. Clippers. Die Halle ist komplett neu, die Halle hat zwei Milliarden US-Dollar gekostet. Das steckt voll mit Tech.
Wir haben über Fußball geredet.
Warten Sie doch ab. Wir schauen, wenn es um die Stadien der Zukunft geht, normalerweise immer in die USA. Wie sind die Stadien dort? Da gibt es zum Beispiel im SoFi Stadium diesen ringförmigen LED-Bildschirm, der Infinity Screen genannt wird. Dieses Display ist oval und hängt mittig unter dem Dach des Stadions. Es erstreckt sich über die gesamte Länge des Feldes und zeigt Inhalte auf beiden Seiten, sodass von nahezu jedem Platz im Stadion eine Sicht auf den Ring möglich ist. Alle sind begeistert - und zack - gibt es einen vergleichbaren Ring in Madrid. Und in Barcelona hatten sie das ursprünglich auch geplant, meine ich. Mein Punkt ist: Die Zukunft kommt normalerweise immer aus den USA. Es handelt sich eigentlich immer um Technologie. Im Intuit Dome aber haben sie nun einen echten Stehplatzbereich eingerichtet. Das müssen Sie sich einmal ansehen! Die Fans stehen dort aufgereiht hinter dem Korb. Das sind 4500 Plätze, und es sieht aus wie in einem Bundesliga-Stadion. Darüber hinaus gibt es klare Regeln für den Support: Du musst laut sein. Normalerweise geht immer alles von den USA in die Premier League oder zu Real, und hier geht es auf einmal andersherum.
Wie heißt die Tribüne?
The Wall, die Wand. Sie ist nach dem Vorbild der Gelben Wand, der Dortmunder Südtribüne, gebaut.
Mit Dominik Schreyer sprach Stephan Uersfeld
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