Jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, entfaltet sich am Grenzübergang Attari–Wagah zwischen Indien und Pakistan ein gewaltiges Spektakel: Grenzsoldaten auf beiden Seiten paradieren im Stechschritt zum Grenztor, zeigen ausgefeilte Formationen und holen in einem feierlichen Akt die Fahnen ein. Die „Beating Retreat“ genannte Zeremonie ist eine Mischung aus militärischem Drill und dramatischen Drohgebärden zwischen indischen und pakistanischen Grenzsoldaten.

Alles folgt einer komplexen Dramaturgie, mit der der anderen Seite ein Schrecken eingejagt werden soll. Das nationalistische Schauspiel lockt täglich Zehntausende an, darunter auch Touristen.

Aus dem 30 Kilometer entfernten Amritsar im Norden des indischen Bundesstaates Punjab setzen sich auf der Grand Trunk Road nach Lahore schon Stunden vorher Dutzende von Reisebussen und Tausende von Privatfahrzeugen, Taxis und Rikschas Richtung Grenzübergang zu Pakistan in Bewegung.

Amritsar ist eigentlich für den Goldenen Tempel berühmt, den heiligsten Ort der Sikh-Glaubensgemeinschaft. Das Unesco-Weltkulturerbe zieht täglich bis zu 150.000 Besucher aus aller Welt an. Mittlerweile hat sich die Grenzzeremonie zu einer ebenbürtigen Attraktion entwickelt.

In der Stadt wimmelt es von Ticketverkäufern für die Bustouren. „Wagah Border, Wagah Border” hört man wie einen Singsang an jeder Straßenecke. Für die Grenzzeremonie braucht man keine Tickets, sie ist kostenlos.

Erinnerungsfotos auf dem Grenzstein

Auf den riesigen Parkplätzen an der Grenzstation Attari auf indischer Seite warten zahlreiche touristische Angebote auf die Ankommenden. Wer will, kann sich eine kleine indische Flagge auf die Wangen malen lassen, T-Shirts mit patriotischen Motiven kaufen oder sich mit Tee und Snacks für die große Show versorgen.

Lahore auf der pakistanischen Seite ist nur 22 Kilometer entfernt. Teils belustigt, teils mit leichtem Grusel, wie nah das Territorium des verhassten Nachbarn ist, lassen sich die indischen Besucher auf dem Grenzstein fotografieren.

Die Attari-Wagah-Grenze war bis Ende April 2025 der einzige Durchgang auf dem Festland, an dem Ausländer ein- und ausreisen durften sowie vereinzelt Inder und Pakistaner mit Visum. Doch die Grenze ist seit 1. Mai komplett dicht. Grund dafür ist der Anschlag vom 22. April im indischen Teil Kaschmirs, bei dem 25 indische Touristen durch Militante getötet wurden.

In den Wochen nach dem Anschlag gab es gegenseitige Scharmützel und Raketenangriffe, beide Nachbarländer standen am Rand eines Kriegs, im Mai wurde zum Glück ein Waffenstillstand verkündet. Inzwischen findet die martialische Grenzzeremonie wieder statt.

An normalen Tagen wollen diese bizarre Veranstaltung auf der indischen Seite rund 20.000 Zuschauer sehen, am Wochenende bis zu 30.000. Für die enthusiastisch feiernden Menschen hat man auf der indischen Seite Tribünen gebaut, die an ein Sportstadion erinnern.

Auf der pakistanischen Seite geht es weniger laut zu: Dort finden nur 3000 pakistanische Patrioten täglich auf deutlich kleineren Tribünen Platz und rufen „Pakistan Zindabad“. Aktuelle Bauarbeiten deuten an, dass man mit einem Neubau mit der indischen Seite mithalten möchte.

Atmosphäre eines Rockkonzerts

Schon am Nachmittag beginnen sich die Tribünen zu füllen. Manche der westlichen Touristen haben das Glück, von einem der Offiziere zu den Sitzplätzen direkt am Geschehen geleitet zu werden. Wer als Ausländer allerdings fühlen will, was diese Zeremonie für die indischen Besucher bedeutet, sollte auf dieses Privileg verzichten und auf den „normalen“ Tribünen Platz nehmen. Hier ist die Atmosphäre die eines Rockkonzerts – man könnte glatt vergessen, dass man gerade Zeuge eines zutiefst nationalistischen Spektakels wird.

Die Inder freuen sich über das Interesse der „Foreigner“. Tee- und Schokolriegelverkäufer huschen durch die Reihen. Auf der gesperrten Straße, die zwischen den Tribünen hindurchgeht und auf das Grenztor zuläuft, tanzen schon nachmittags begeisterte junge Inder zu patriotischen Songs.

Die Zeremonie an der Wagah-Grenze hat ihre Wurzeln im Jahr 1947, dem Jahr der Teilung Indiens. Ursprünglich war sie als formelle Form des Einziehens der Flaggen an der Grenze gedacht, hat sich aber im Laufe der Jahrzehnte zu einer Demonstration von militärischer Präzision und Nationalstolz entwickelt. Der indische Brigadegeneral Mohinder Singh Chopra und der pakistanische Brigadegeneral Nazir Ahmed begründeten diese Tradition. 1959 führte man die heutige Choreografie ein.

Ein unbeschwertes Touristenspektakel ist dies nicht. Hier stehen sich keine befreundeten Nationen gegenüber, im Gegenteil. Das macht einen Teil der Spannung aus, die man während der Zeremonie auf den Rängen und vor allem zwischen den Soldaten am Tor spürt. Im Laufe der Jahre gab es Bemühungen, die aggressiven Gesten abzuschwächen und Elemente der Kameradschaft einzubauen.

2010 einigten sich beide Nationen darauf, die Feindseligkeit bei der Zeremonie zu verringern und führten Händeschütteln und Lächeln als Teil des Rituals ein. Doch gerade in den letzten Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern dramatisch. Mehrere Male fiel die Zeremonie wegen offener Kriegshandlungen oder Attentaten aus.

2008 überzog eine Gruppe von Islamisten der Terrororganisation Laschkar-e-Taiba ganz Mumbai mit einer Welle von Anschlägen, unter anderem auf das berühmte Luxushotel „Taj Mahal Palace“. 166 Menschen starben. Unterstützt wurden die Anschläge vom pakistanischen Geheimdienst.

2014 fielen einem Bombenanschlag auf pakistanischer Seite mehr als 60 Menschen zum Opfer, darunter auch drei Mitglieder der Pakistani Rangers. 2019 führte die Entführung des indischen Piloten Abhindandan Varthaman zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen. Bisheriger Tiefpunkt ist besagter Anschlag vom 22. April.

Die Zeremonie wurde zwar wieder aufgenommen, nun aber ohne Handschlag. Konservative indische Politiker Indien fordern weiterhin ein Ende des „Beating retreat“. Ab Mitte Mai fand die Zeremonie dann wieder statt. Allerdings blieb das Grenztor seither dauerhaft geschlossen.

Augenrollen und Schnurrbartzwirbeln

Und so läuft das Spektakel auf indischer Seite ab: Die Zeremonie beginnt mit einem Warm-up. Immer wieder tauchen kleine Gruppen von Uniformierten auf der Straße vor den Tribünen auf und geben Kostproben ihres beeindruckenden Drills. Breitbeinig und mit drohenden Grimassen, die an die Haka-Tänze neuseeländischer Maori-Krieger erinnern, versucht man, die andere Seite zu beeindrucken.

Ein Offizier der indischen Border Security Forces (BSF) heizt die Stimmung wie ein Cheerleader mit provozierenden Gesten Richtung pakistanischer Seite an. Immer wieder läuft er zwischen den Tribünen hin und her und animiert die Menge zu enthusiastischen „Hindustan“-Rufen.

Dann wird es spannend: Auf beiden Seiten marschiert eine Gruppe aus sechs Soldaten mit mächtigem, synchronem Stechschritt Richtung Tor, die Inder in Khaki-Uniform und einem roten Turban mit beeindruckendem Kamm, die Pakistaner in schwarzen Uniformen mit rotem Gürtel und ebenso hohem Turbankamm. Es beginnt ein bizarrer Wettkampf der Drohgebärden, einschließlich dramatischem Augenrollen und aggressiven Schnurrbartzwirbeln. Vor allem ist aber die Frage: Wer schmeißt die Beine am höchsten?

Die Mitglieder der BSF, die diese fast akrobatischen Moves beherrschen müssen, sind keine normalen Soldaten. Sie werden sorgfältig für ihre Rolle ausgewählt, wobei Kriterien wie körperliche Fitness, Größe und Ausstrahlung im Vordergrund stehen. Das Training konzentriert sich auf Präzision, Ausdauer und Synchronität.

„Es kann bis zu zwei Jahre Vorbereitung dauern, bis man die Routinen beherrscht“, sagt ein Ausbilder der BSF, „den Soldaten wird beigebracht, jede Bewegung exakt auszuführen, von den hochbeinigen Schritten bis zum Timing des Grußes. Die Choreografie der Zeremonie erfordert ein unermüdliches Streben nach Perfektion.“ Und schließlich müssten sich die Soldaten einen Schnurrbart wachsen lassen, den man dramatisch zwirbeln kann.

Nach einer halben Stunde geht der „Beating Retreat“ in die letzte Phase. Die Soldaten nehmen nun die in Zeitlupe herabgelassenen Flaggen entgegen, falten sie und bringen sie mit dramatischem Stechschritt zurück in ihr Camp. Ein letzter Jubel der Besucher setzt den Schlussakkord.

Beseelt strömen die Massen zu den Ausgängen. Eine chaotische Lawine aus Bussen, Autos und Rikschas setzt sich zurück nach Amritsar in Bewegung. Das tausendfache Gehupe hat schon fast das Level eines Angriffs mit Sonarwaffen. Dann herrscht wieder Ruhe. Bis morgen, zum nächsten „Beating Retreat“.

Tipps und Informationen:

Zeremonie: Das „Beating Retreat“ findet im Sommer um 16.15 Uhr, im Winter um 17.15 Uhr statt. Ab 15 Uhr können Besucher auf indischer Seite ihre Tribünenplätze einnehmen. Wer zuerst kommt, sitzt am besten.

Anreise: Mit dem Bus: Um 14 Uhr (im Sommer 15 Uhr) setzen sich die Busse vom zentralen Maharaja Ranjit Singh Square in Amritsar in Bewegung. Die Fahrt zur Grenze dauert eine Stunde. Nach der Zeremonie fahren die Busse gegen 18.30 Uhr (19.30 Uhr im Sommer) zurück. Dauer des Ausflugs: rund fünf Stunden, Kosten: 350 Rupees, rund 3,40 Euro (amritsardekho.com/hop-third-package). Auch mit dem Taxi sollte man Amritsar spätestens um 14/15 Uhr verlassen. Die Fahrt hin und zurück kostet rund 15 Euro.

Auskunft: Amritsar Tourism (amritsartourism.org.in/wagah-border-amritsar); Incredible India (incredibleindia.gov.in/en/punjab/amritsar/attari-wagah-border)

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