Sie hatten nur ein Ruderboot, viel Mut – und einen geheimen Auftrag. Streng verboten war, was die beiden Männer vorhatten, als sie sich nachts am Nordufer des Bodensees aufmachten. Weit hinaus auf das dunkle, unruhige Wasser mussten sie und dann auf Konstanz zu, unter der Alten Rheinbrücke hindurch, heimlich am Zoll vorbei und in den Untersee.

Doch sie schafften es, legten im Morgengrauen auf der Schweizer Seite an und nahmen die geheime Fracht an Bord. Sofort ruderten sie zurück, passierten erneut unerkannt die Grenze und quälten sich über den weiten See, bis sie wieder in Hagnau waren und die Schmuggelware ausladen konnten: 400 Rebstöcke. Eine ganz neue Züchtung, deren Einfuhr am deutschen Bodenseeufer der Markgraf von Baden untersagt hatte. Die nun aber unter dem Namen Müller-Thurgau die Weingeschichte prägen sollte.

Hundert Jahre ist der Weinschmuggel her. Was 1925 verboten war, wird heute gefeiert, als Heldentat zivilen Ungehorsams. Hat sie doch den Ruf des Seeweins auf ungeahnte Höhen katapultiert. Wer jetzt im Herbst – schönste Jahreszeit für Wanderer und Radler – am Bodensee unterwegs ist, kommt an Rebhängen vorbei, auf denen die Lese im vollen Gange ist.

In den Seelokalen locken Zwiebelkuchen und Suser, der erst teilweise vergorene Traubenmost, den man nur zur Erntezeit bekommt. Das Jubiläumsjahr mit seinen Weinverkostungen, Kellereibesichtigungen und Seefahrten auf der Schmugglerstrecke bietet viele Gelegenheiten, sich auf die Spur der Geschichten zu begeben, die der Seewein geschrieben hat. Und zwar auf der deutschen und der Schweizer Seite. Das weiß man schließlich am Bodensee aus langer Erfahrung: Für einen guten Wein lohnt es sich, Grenzen zu überwinden.

Wein, sauberer als Wasser

Das zeigt sich auch in der einstigen Weinhauptstadt des Sees, in Konstanz. Mit Schnitzereien verziert sind die Deckel der alten Eichenholzfässer in der Spitalkellerei nahe dem Münster, die – noch ein Jubiläum – in diesem Jahr 800-jähriges Bestehen feiert. Die 1225 gegründete Konstanzer Spitalstiftung, die sich der Kranken- und Altenpflege verpflichtete, besaß Ländereien rund um den Bodensee und war von Anfang mit einer Kellerei ausgestattet.

Krankenbetreuung mit eigener Weinproduktion? Was heute nicht gerade gesundheitsförderlich klingt, war im Mittelalter durchaus üblich. Wein galt damals als bekömmlicher als Wasser, denn er war sauberer. Allerdings ziemlich sauer: Der Seewein hatte nicht immer den besten Ruf, erzählt Stephan Düringer, Geschäftsführer der Spitalkellerei. Alle Anstrengungen etwa, Maria Theresia und den Wiener Kaiserhof als Kunden zu gewinnen, blieben vergebens. Lange hieß es: Zum Seewein braucht es vier – zwei, die den Trinker festhalten, und einen, der ihm den Wein einflößt.

Längst vergangene Zeiten. Der Siegeszug des Müller-Thurgau verhalf der Weinkultur am See zu einem Qualitätssprung, vor allem die hiesigen Weiß-, Grau- und Spätburgunder finden unter Weinkennern viel Anerkennung. Und der Müller-Thurgau vom Bodensee ist nicht, wie in anderen Regionen Badens, zum Billigwein verkommen, sondern gilt als Visitenkarte eines Weinguts.

„Jeder Winzer hier am See ist bestrebt, als seinen Basiswein den bestmöglichen Müller-Thurgau zu produzieren“, sagt Düringer und öffnet eine Flasche dieser Sorte von der Einzellage „Konstanzer Sonnenhalde“. Welch ein Geschmackserlebnis! Wunderbar tiefgängig ist dieser Tropfen, mit würziger Fruchtnote, die an Weinbergspfirsich erinnert.

Schafe helfen im Weinbau

Von der Spitalkellerei am Rande der Altstadt sind es nur ein paar Schritte bis zur Rheinbrücke. Ein Ort, an dem jeder, der erstmals Konstanz besucht, innehalten sollte. Weil man hier, am „Konstanzer Trichter“, wunderbar erkennt, wie sich der weite, von Osten her anwallende See zu einem Fluss verengt, wie aus dem großen Blau der noch schmale Rhein herausfließt. Ein Wasserwunder.

Dass sich Konstanz früh zu einer wohlhabenden Stadt entwickelte, hat auch mit dieser Brücke über den Seerhein zu tun. Sie war zunächst so niedrig, dass keine Frachtschiffe hindurchfahren konnten. Alle Waren, die vom Süden über den See und dann in den Rhein nach Norden geschifft wurden, mussten in Konstanz umgeladen werden. Auch die Weinladungen, und das waren nicht wenige. Der Bodensee zählte im 19. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Weinregionen Europas.

Gewohnt wurde in Konstanz damals vornehmlich links vom Rhein. Das rechtsrheinische Konstanz, an dessen Uferpromenade man heute prächtige Jugendstilvillen bestaunen kann, bestand lange Zeit nur aus Äckern und Reben. Sogar die Mainau, heute als Blumenpark einer der meistbesuchten Orte am Bodensee, war einst eine Weininsel.

„Der See ist wie eine Wärmflasche für die Reben“, sagt Philipp Haug, der auf der Mainau durch seine Weingärten führt. Jawohl, seine Gärten: Haug ist mit Bettina Gräfin Bernadotte verheiratet, Geschäftsführerin der Mainau GmbH. Die Insel war Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Heirat einer badischen Prinzessin ans schwedische Königshaus gefallen, deshalb lassen die Bernadottes auf Mainau die blau-gelbe Flagge mit dem Schwedenkreuz wehen.

Aber sonst geht es auf der Insel eher unkompliziert als aristokratisch zu. Haug trägt Gesundheitslatschen und Strohhut, von Beruf ist er nicht Prinz, sondern Agraringenieur. Seine Frau hat er im Weingut seines Vaters in Lindau kennengelernt, als sie dort ein Praktikum machte.

Sonne, Wärme und Feuchtigkeit – das Mikroklima, das die Lagen am Bodensee auszeichnet, lockt auch Schädlinge an. Deshalb experimentiert Haug nun, wie so viele Winzer am Bodensee, mit „PIWIs“. Das sind pilzwiderstandsfähige Rebsorten wie Solaris und Johanniter. Die Reben wachsen an Hochstämmen, untenrum sorgen Schafe dafür, dass das Gras kurz bleibt.

Wie überall auf der Mainau wird in den Weingärten nach ökologischen Grundsätzen gearbeitet. Und wie allen Pflanzen hier, von den prächtigen Rosen bis zu den Mammutbäumen, macht auch den Reben der Klimawandel zu schaffen. Weshalb sich die Winzer wieder einmal um die Säure ihres Weins sorgen müssen, diesmal allerdings, weil sie zu gering sein könnte. „Früher konnten es nie genug Oechsle sein, heute hat man Angst, dass es zu viele werden“, sagt Haug, der nun auf die „knackige Säure“ seines „Mainauer Johanniters“ setzt.

Sorgen, die die Römer noch nicht hatten. Dass schon sie hier Wein angebaut haben, gilt mittlerweile als sicher. Zwar hat man schon früher Amphoren im See gefunden. „Doch die hätten auch importiert sein können“, sagt Urs Leuzinger.

Der Leiter des Museums für Archäologie Thurgau im schweizerischen Frauenfeld besitzt die seltene Begabung, archäologische Funde so unterhaltsam zu erklären wie einen spannenden Kriminalfall. Bohrungen im See, bis in 14 Meter Tiefe, erbrachten die notwendigen Indizien. Winzige, aber aussagekräftige Beweisstücke: Pollen von Weinreben, die aus der Zeit der Römer stammen, die um 50 v. Chr. an den See kamen.

Schon vor 2000 Jahren wurde „b’schisse“

In der Nähe von Stein am Rhein, wo man Reste römischer Pfahlbauten freilegte, fanden sich antike Weinfässer. Auf vielen erkennt man sogar noch Inschriften: den Namen des Küfers, aber auch den Anschrieb des Gastwirts, wie viel wer getrunken hat. Sogar frisierte Abrechnungen zuungunsten der Gäste kann man auf den Weinfässern entdecken. Für Leuzinger ist der Fall klar: Schon vor 2000 Jahren wurde am Bodensee gesoffen „und b‘schisse“.

Eine römische Villa könnte auch am Arenenberg gestanden haben. Bei Grabungen in dem Weinhang hoch über den Thurgauer Ufern des Untersees wurde ein Gewölbe entdeckt, das aus der Römerzeit stammt. Möglicherweise der Weinkeller eines Landguts, archäologische Untersuchungen laufen noch.

Was immer die Archäologen herausfinden, Weingeschichte hat der Arenenberg längst geschrieben: Von seinen sonnigen Lagen kamen die 400 Rebstöcke, die 1925 nach Deutschland geschmuggelt wurden. Eigentlich stammte der neue Wein aus dem Labor des Pflanzenphysiologen Hermann Müller. Müller, selbst Sohn eines Thurgauer Weinbauern, wollte eine Rebe züchten, die widerstandsfähig gegen Schädlinge war. Tatsächlich hatten Pilzplagen im Laufe des 19. Jahrhunderts dafür gesorgt, dass der Weinanbau rings um den Bodensee enorm zurückgegangen war.

Müller präsentierte seine Neuzüchtung als Kreuzung von Riesling und Silvaner – dass er bei seinen Versuchen durcheinandergekommen war und es sich tatsächlich um eine Kreuzung von Riesling und Madeleine Royale handelte, zeigten molekularbiologische Untersuchungen erst nach seinem Tod. Seine Kreation nannte er stolz nach sich selbst und seiner Herkunft: Müller-Thurgau. Sie wurde die erfolgreichste von Menschenhand gezüchtete Weinsorte.

Den aktuellen Wein des Arenenbergs probiert man dort übrigens in der Küche – ein Ort mit kaiserlicher Geschichte. Das Landgut wurde 1817 zum Zufluchtsort einer höchst prominenten Alleinerziehenden: Hortense de Beauharnais, einstige Königin von Holland und Stieftochter von Napoleon Bonaparte.

Ein Machtwechsel in Paris sorgte dafür, dass Hortense und ihr Sohn Charles Louis dort nicht mehr gelitten waren. Hortense floh mit dem Siebenjährigen nach Konstanz und fand eine dauerhafte Bleibe im Landschloss Arenenberg in Salenstein im Thurgau, das sie gründlich umbauen ließ. Schon 1825 gab es in ihrer Küche fließendes Wasser und nebenan ein heizbares Bad – Hortense wollte für ihren Sohn die bestmöglichen Bedingungen schaffen, damit er einmal französischer Kaiser werden würde (was ihm 1852 gelang, als Napoleon III.).

Flaschen hinter Gittern

Unter Hortenses Regie wurde die Landwirtschaft ausgebaut, der Weinbau modernisiert und französische Gärten angelegt, den Arenenberg umwehte nun Pariser Flair mit einem Hauch Exzentrik. Für heutige Besucher ist dies wohl der verblüffendste Moment: Man öffnet die Schlosstür und steht in einem Zelt. Ein Trompe-l’œil, mithilfe abgeschrägter Decken und Tapeten, die wie Tuchbahnen wirken, ließ Hortense das Erdgeschoss als „Zeltzimmer“ gestalten – um den kleinen Sohn darauf vorzubereiten, dass ein künftiger Feldherr mobil bleiben muss.

Zeitgenössische Besucher entzückten Hortenses Bemühungen, „ein Arkadien am Bodensee“ zu schaffen, erzählt Dominik Gügel, Direktor des Napoleonmuseums Arenenberg: „Ihr Salon war erlesen, Persönlichkeiten aus ganz Europa besuchten sie.“ In Hortenses Weinkeller, der heute als Teil des Museums einen Überblick über die Geschichte der Rebkultur am Bodensee bietet, lagern noch 40 Flaschen, natürlich hinter Gittern.

Nach Hortenses Tod wurde aus dem Schlossgut ein Bildungszentrum. Neben dem Museum gibt es Werkstätten, Schulgärten, einen Lehrbauernhof. Und ein modernes Hotel. Wer hier übernachtet, hat das Privileg, auf der kaiserlichen Terrasse unter dem mächtigen Kastanienbaum den Sonnenuntergang zu genießen. Eine Loge über dem See, von der aus man einen hinreißenden Blick hat über das spiegelglatte Wasser bis zu den Vulkankegeln des Hegau.

Diese Aussicht, sagt Gügel und stellt ein paar Weinflaschen auf die Brüstung, inspirierte schon Hortense und ihre weltläufigen Gäste zu „italienischen Abenden“: Sie schauten auf die sich golden färbende Bucht „und fühlten sich wie am Golf von Neapel“. Eine Art romantischer Entgrenzung. Aber vor dieser Kulisse vollkommen nachvollziehbar, zumal bei einem Glas Seewein.

Tipps und Informationen:

Wie kommt man hin? Mit Zug oder Auto nach Konstanz, der Regionalverkehr rings um den Bodensee ist grenzüberschreitend gut ausgebaut. Für kurze Ausflüge lohnt es sich, ein E-Bike auszuleihen, Aufladestationen gibt es rund um den See.

Wo wohnt man gut? Im „Hotel Arenenberg“ in Salenstein, Kanton Thurgau, wohnt man in einem historischen Gebäude mitten auf dem weitläufigen Schloss-Landgut, Doppelzimmer ab umgerechnet 194 Euro (arenenberg.ch). „Steigenberger Inselhotel“, luxuriöses Haus in den Mauern eines ehemaligen Dominikanerklosters, auf einer kleinen Insel im Konstanzer Trichter gelegen, Doppelzimmer ab 185 Euro (hrewards.com/de/steigenberger-inselhotel-konstanz).

Was lohnt sich? Das Napoleonmuseum Arenenberg bietet Schlossführungen, die Ausstellung „2000 Jahre Wein auf dem Arenenberg“ und Weinwanderungen (napoleonmuseum.tg.ch; arenenberg.ch). Bis 18. Oktober bietet die Spitalkellerei in ihrem historischen Sitzungssaal traditionelle Gerichte mit frischem Suser; die Vinothek ist von Montag bis Samstag geöffnet (spitalkellerei-konstanz.de). Ausstellung zum Müller-Thurgau-Schmuggel im Vineum Bodensee in Meersburg, bis 2. November (vineum-bodensee.de). Bis zum zweiten November-Wochenende kann man sich mit der Schweizerischen Schifffahrtsgesellschaft zum „grenzenlosen Herbst-Hopping“ auf dem westlichen Bodensee aufmachen mit Stationen zwischen Reichenau, Arenenberg und Radolfzell (bodenseewest.eu/de/erleben/schifffahrt/grenzenloses-herbst-hopping).

Weitere Infos: zu Gärten und Weinbau am Bodensee unter bodenseegaerten.eu, Termine zu Weinverkostungen und Ausflügen: echt-bodensee.de

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom Netzwerk Bodenseegärten. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

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