Patagonien – wandern und dann warten, bis der Gletscher kalbt
Plötzlich kreist ein Kondor am strahlend blauen Himmel über den goldenen Gipfelspitzen. Kann man so viel Glück haben? Das ist ein seltener Anblick, sogar die Guides holen ihre Smartphones hervor und fotografieren den Fitz Roy und den nur vier Kilometer Luftlinie entfernten Cerro Torre mit Greifvogel. So heißen die berühmtesten Berge im argentinischen Teil Patagoniens. Oft sind sie wolkenverhangen. Das muss man wissen und aufs Wetterglück hoffen.
Nicht nur das beständig schöne Wetter überrascht auf dieser Reise in den argentinischen Teil Patagoniens. Immer dann, wenn man denkt, es könne nun nicht mehr schöner, interessanter, bewegender werden, packt die Natur ein weiteres Highlight aus, legt in die menschenleere Landschaft noch einen türkisblauen See, türmt Granitfelsen und blendet mit weiß gleißenden Gletschern.
In dieser entlegenen argentinischen Anden-Region liegt El Chaltén, ein Städtchen am Eingang zum Los-Glaciares-Nationalpark, nahe der Grenze zu Chile. Genau genommen existiert der Ort nur deshalb: Noch in den 1980er-Jahren stritten die beiden Länder darüber, wo exakt die Grenze beim Fitz-Roy-Massiv verlaufen sollte. Argentinien schuf Fakten auf seine Weise und gründete 1985 kurzerhand das Dorf El Chaltén, ein Straßen-Schachbrett in der Steppe. Bis dahin hatten sich in der weitläufigen Landschaft nur verstreute Estancias niedergelassen, gigantische Schaf- und Rinderfarmen. Festgelegt wurde der Grenzverlauf erst 1998.
Das Dorf El Chaltén liegt geradezu ideal zu Füßen dieser Bilderbuch-Berge und zwischen zwei Flüssen, dem Rio Fitz Roy und dem mäandernden Las-Vueltas-Fluss. Am schönsten ist das am frühen Morgen zu sehen, rot schiebt sich der Gipfel des Fitz Roy und des Exupery über den bunten Häusern in den Himmel. Die 2558 Meter hohe Exupery-Nadel, ein markant spitzer Berg, ist tatsächlich benannt nach dem französischen Schriftsteller, genauer gesagt: nach dem Flugpionier. Denn Antoine de Saint-Exupéry arbeitete von 1929 bis 1931 in Argentinien als Pilot, flog Post und Luftfracht von Buenos Aires nach Patagonien.
Wer hier ankommt, nach dem Flug von Buenos Aires, wird sich erst einmal die Beine vertreten wollen. Doch das kann teuer werden: Wer tagsüber einen Spaziergang aus dem Ort heraus plant, etwa zum Mirador Cóndor, muss sogleich 45.000 Pesos zahlen, also etwa 26 Euro.
Die absurde Situation: Jeder Hügel, jeder Berg hier gehört zum Los-Glaciares-Nationalpark, und dessen Tagesgebühr ist selbst beim kleinsten Spaziergang fällig. Also geht man besser erst zum Abendessen, etwa ins Restaurant „Butch“, und gönnt sich einen gigantischen Burger mit Lammfleisch oder auch einen Gemüse-Eintopf, dazu einen Malbec-Wein oder ein lokales Bier. Das heißt natürlich: Patagonia.
Im Gesicht ein glückliches Grinsen
Ab 19 Uhr haben die Ranger Feierabend, dann kann man kostenlos wandern. Die Meinung zur Preisgestaltung ist im Ort gespalten: Die Instandhaltung der Wanderwege sei teuer, sagen die einen. Andere finden, die Berge müssten generell frei zugänglich sein. Denn auch Einheimische müssen Eintritt zahlen, wenn auch einen geringeren Betrag. Immerhin: Für den zweiten Besuchstag gibt es 50 Prozent Rabatt, sofern er innerhalb von 72 Stunden nach dem ersten Besuch liegt. Geplant sind künftig auch Wochenpässe.
El Chaltén, das junge Dorf mit rund 1800 Einwohnern, hat den Charme einer Mischung aus Touristenort, Hippie-Kommune und Kletter-Basislager. Es gibt durchaus einige Hotels, aber noch mehr Hostels, Camper-Vans, Hütten, umgebaute Container und uralte Autos, von denen man erst nicht so genau weiß, ob sie schon Schrott oder noch fahrbereit sind.
Dann aber steigt eine Frau aus dem verstaubten Pickup und zerrt einen riesigen Rucksack von der Ladefläche. Dann Kletterseile und Profi-Klettergerät wie Klemmkeile und Gurte. Sie gehört zur Kletter-Community und wird am nächsten Morgen bergsteigen, sofern das Wetter mitspielt. Denn die Region ist für ihre launischen, oft stürmischen Wetterkapriolen bekannt und gefürchtet.
Rund um das Dorf haben sich einst alpine Dramen abgespielt; ein Überbleibsel der spektakulärsten Geschichte ist bis heute am Cerro Torre zu sehen. Der italienische Kletterer Cesare Maestri hatte 1959 gemeinsam mit dem Tiroler Toni Egger den Cerro Torre als Erster erstiegen. Das behauptete Maestri jedenfalls sein ganzes Leben lang.
Doch sein Kletterkumpan Toni Egger verunglückte damals beim Abstieg tödlich, unauffindbar blieb die Kamera mit dem Gipfelfoto als Beweis für die Erstersteigung. Zweifel an der Leistung kamen auf, woraufhin Cesare Maestri später zurückkehrte zu seinem Schicksalsberg und sich mithilfe eines gigantischen Kompressors die senkrechte Wand bis zum Gipfel hinauf bohrte. Diese Bohrmaschine hängt bis heute hoch oben in der Wand.
An den verunglückten Toni Egger erinnert mitten im Ort eine Kapelle, die für Europäer vertraut wirkt: Sie ist der Nachbau einer Tiroler Gebirgskapelle, mit Glasfenstern aus Innsbruck. In der Toni-Egger-Gedenkkapelle hängen Fotos vieler verunglückter Bergsteiger. Und natürlich ein Foto des jungen Toni Egger und dem Cerro Torre mit der Zeile: „Tonis letzter und größter Sieg“.
Und weiter: „Ein Riese aus Granit, in den Patagonischen Anden, ist Künder von dem Mut, dem unerschütterlichen Glauben und dem Siegeswillen eines Tiroler Bergsteigers.“ Drei Straßen weiter hängt im Bergsteiger-Museum eine Original-Zeitungsseite von 1959 mit der Schlagzeile: „Sie haben den Cerro Torre erobert, aber er hat ein Opfer gefordert.“
Oft ist zu lesen, El Chaltén sei die Trekkinghauptstadt Argentiniens. Genau genommen wird hier aber entweder extrem geklettert – oder aber schlicht gewandert. So geht es für die meisten Besucher wenig anstrengend in ein Tal hinein zum Mirador Maestri, von dem aus man den schlanken Cerro Torre sieht.
Um keinen Eintritt bezahlen zu müssen, lassen sich viele Besucher von Einheimischen einen Schleichweg zeigen, der fern der Ranger-Kontrolle startet. Dieser Weg führt durch verwunschenen Wald mit viel Totholz und immer wieder Blicken zu den Dreitausendern. Hier gehen auch Menschen, die offensichtlich nicht oft wandern, sich die kleinen Steigungen hinauf quälen und Entgegenkommende fragen, wie lang es noch dauere.
Störfaktor in der Einsamkeit Patagoniens
Zum ikonischen Blick auf den Fitz Roy hingegen windet sich eine Ameisenstraße den Berg hinauf, denn alle, die nach El Chaltén kommen, haben dieses Ziel: die Aussicht auf den tief türkisfarbenen See, die Laguna de los Tres, die senkrechten Gipfel aus Granit, den Schnee und die Gletscher. „Kümmert euch nicht um die vielen Menschen. Genießt es einfach“, sagt der Guide.
Er hat ja recht, denn auf der gesamten Reise landet man nur genau zweimal in so einem Getümmel. Hier, beim bekanntesten Wanderweg, und später am berühmtesten Gletscher. Dafür werden Reisende an allen anderen Tagen mit der Einsamkeit Patagoniens belohnt.
Es geht durch romantische Lenga-Wälder, die Scheinbuchen tragen ledrige Blätter. Als der Weg steiler wird, staut es sich auch mal. Davon unbekümmert überholen junge Menschen die Wanderkarawane, an ihren wahrlich riesigen Rucksäcken stecken außen Schlafsäcke und Isomatten. Wenn man weiß, was alles in den Rucksäcken steckt – schwere, metallene Kletterausrüstung –, kann man sich vorstellen, was diese wiegen müssen. Dennoch spurten sie an den Wanderern vorbei zum einzigen Zeltplatz im Park.
Oben angelangt, geht das wilde Fotografieren los, man kann einfach nicht mehr damit aufhören, die Kombination aus türkisfarbenem See mit den Felszacken darüber ist spektakulär. Dieses intensive Türkis begleitet Reisende in Patagonien, auch am berühmten Gletscher Perito Moreno – und auf der Fahrt dorthin.
Grasende Minikamele
Die Autofahrt auf der Route 40 ist in dieser menschenleeren Gegend ein weiteres Highlight. Türkisfarbene Flüsse mäandern durch die menschenleere Steppe. Das Türkis ihres Wassers stammt vom Abrieb der Gletscher, vom gigantischen patagonischen Eisschild, nach Grönland und der Antarktis die drittgrößte gefrorene Trinkwasserreserve der Welt. Minerale färben die Gletschermilch so spektakulär.
Schnurgerade zieht die Straße dahin durch die Steppe, bewachsen nur mit struppigem gelbem Gras und grauem Kraut. Das aber reicht den Guanakos offensichtlich als Nahrung, tarnfarbenbeige grasen die Minikamele Südamerikas quasi überall, selbst am Straßenrand. Sie sind die wilden Verwandten der Lamas. Was aussieht wie größere Grasbüschel mit zwei Beinen, sind Nandus, flugunfähige Riesenvögel. Sogar mehrere Kondore kreisen darüber. Nun fehlt eigentlich nur noch ein Puma für die patagonischen Big Four. Diese Raubtiere aber sind zu scheu, um sich zu zeigen.
Eine Wild-West-Überraschung auf diesem Roadtrip zum Gletscher bietet die „Estancia La Leóna“ an. Hier sollen 1905 zwei berüchtigte Gringos untergekommen sein. Die berühmtesten Gauner der Welt, Sundance Kid und Butch Cassidy, versteckten sich jahrelang in Patagonien. Die Polizei war ihnen auf den Fersen, und so zog das Trio weiter – um noch mehr Banken zu überfallen.
Welches Ende sie nahmen, ob die Männer tatsächlich 1908 in Bolivien erschossen wurden, wie von Robert Redford und Paul Newman im Kinofilm „Zwei Banditen“ so einprägsam dargestellt, darüber wird bis heute spekuliert. In der Estancia hängen jedenfalls historische Fotos von Butch Cassidy, Sundance Kid und ihrer Gefährtin Etta Place. Ein guter Platz für eine Rast auf dem Weg zum berühmtesten Gletscher.
Der Perito Moreno ist berühmt aus zwei Gründen: Erstens ist er einfach zu erreichen, das macht ihn zu einer der meistbesuchten Attraktionen Argentiniens. Er endet im – natürlich ebenfalls türkisfarbenen – Lago Argentino, vom Parkplatz aus geht es nur ein paar Schritte hinunter. Die massige Gletscherzunge, 30 Kilometer lang, fünf Kilometer breit, ist bereits von den Stegen am See-Ufer gut zu sehen.
Bekannt ist der Gletscher auch dafür, dass er einer der wenigen weltweit sein soll, die wachsen und nicht klimabedingt schrumpfen. Das allerdings ist eine Mär, mit der geworben wird, schon seit einigen Jahren wächst er nicht mehr, sondern schrumpft, wie auch das informative Gletschermuseum in El Calafate erklärt. Allerdings fließt dieser Eisstrom besonders schnell, was ihn touristisch attraktiv macht. Denn er kalbt mit schöner Regelmäßigkeit Eisberge in den See.
Gespanntes Warten am Ufer. Kalbt der Gletscher genau jetzt, wenn man ins Boot steigt? Man will das nicht verpassen. „Wenn ihr den Krach hört“, sagt der Guide, „dann ist es schon geschehen.“
Das Boot nähert sich der Eiswand voller Spalten und Spitzen. Es wird wohl nicht ausgerechnet dann ein Pfeiler Eis abbrechen, wenn man gerade aufs Handy schaut. Und dann geschieht es, ganz plötzlich: Ein Turm aus Eis kippt lautlos einfach vornüber, kracht ins Wasser. Was für ein Anblick! Diese Landschaft hört einfach nicht auf, ihre Besucher zu überraschen.
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Zum Beispiel mit Lufthansa und Aerolíneas Argentinas von Frankfurt über Buenos Aires nach El Calafate oder mit der chilenischen Latam Airlines über Santiago de Chile nach El Calafate. Weiter mit dem Mietwagen.
Beste Reisezeit: Der südamerikanische Sommer (November bis März) ist die ideale Reisezeit für Wanderungen und Outdoor-Aktivitäten.
Veranstalterreisen: Patagonien, sowohl den argentinischen als auch den chilenischen Teil, haben diverse Veranstalter im Programm, darunter Napur Tours, Hauser Exkursionen, ASI Reisen, SKR Reisen, Miller Reisen, Diamir Reisen, G Adventures und Papaya Tours. Preisbeispiele: G Adventures hat individuelle kürzere Patagonienreisen in Argentinien im Programm, etwa eine neuntägige Wandertour mit Hotel inklusive Frühstück ab/bis Buenos Aires, ab 2634 Euro pro Person. Bei Papaya Tours kostet eine 21-tägige geführte Gruppenreise „Wildes Patagonien“ durch Chile und Argentinien mit Hotels, Vollpension, Flügen ab Deutschland ab 6499 Euro im Doppelzimmer, Einzelzimmerzuschlag 699 Euro. In El Chaltén kann man Wanderungen wie die Tagestour zum Lago de los Tres ab umgerechnet 300 Euro bei den örtlichen Bergführern buchen: chaltenmountainguides.com
Weitere Infos: Argentinien allgemein: argentina.travel/en; Patagonien speziell: argentinien24-7.com/reisen/regionen/patagonien-feuerland sowie argentina.travel/en/news/explore-argentine-patagonia-along-route-40
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von G Adventures. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
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