1. Wer den „Großen Weinatlas“ von Hugh Johnson und Jancis Robinson oder ein anderes Standardwerk zur internationalen Weinkultur gelesen hat und sich nun für einen Weinkenner hält, möge das Glas kurz absetzen – und einmal tief durchatmen. Denn so faszinierend wie komplex, lässt sich das Universum des Weins erst nach jahrzehntelanger Erfahrung in seiner ganzen Tiefe wirklich erschließen. Vorsicht also mit allzu sicher ausgestellter Expertise!

2. Die bedeutungsvoll hingehauchte Floskel „Feine Mineralität!“ bei der Weinprobe hat schon manchen selbst ernannten Kenner in die Defensive gedrängt. Solche Formulierungen mögen bei Laien fachkundig klingen, sagen aber kaum etwas aus. Zumal der Begriff „Mineralität“ weder sensorisch noch chemisch klar definiert ist. Er beschreibt vielmehr einen diffusen Eindruck aus Säure, Textur, Aromatik und Herkunft.

Wenn schon nerdy, dann bitte konkret: Feuerstein? Kreide? Basalt? Meerluft? Jod? Schwefel? Erst solche sensorischen Bilder machen eine Beschreibung greifbar – und genussvoll nachvollziehbar.

3. Auch wer mit ernster Miene den häufig bemühten Satz „Ein Wein mit Charakter“ verwendet, sollte genauer wissen, was mit „Charakter“ gemeint ist – um nicht ins Straucheln zu geraten, wenn jemand mit „Inwiefern?“ nachhakt und man nur ein gedehntes „Na, eben charaktervoll“ parat hat.

In der Weinszene dient „Charakter“ oft als ehrenvolle Umschreibung für kantige, schwer zugängliche Gewächse, die gerade niemand richtig versteht. „Charakter“ ist kein önologisches Qualitätsmerkmal – außer, man möchte höflich sagen, dass der Wein aneckt.

4. Noch riskanter ist der reflexhafte Griff zum großen Vokabular – Tannin, Terroir, Barrique – letzteres gern bemüht, ohne zu wissen, ob der Wein überhaupt im Holzfass lag oder doch jungfräulich aus dem Stahltank kommt.

5. Und wer bei jeder Gelegenheit über Jahrgänge doziert, beweist nicht zwangsläufig Sachverstand – mitunter eher Halbwissen. Phrasen wie „Der 1990er – legendär!“ oder „Dem 2014er fehlt es an Struktur“ haben längst an Strahlkraft verloren: Gefühlt wird heute jeder zweite Jahrgang zum Jahrhundertjahrgang erklärt.

6. „Dieser Wein erzählt eine Geschichte“, säuselt der Winzer, Weinhändler oder Sommelier, während er das Glas langsam und feierlich einschenkt – als würde er einen historischen Pakt besiegeln. Poetisch, gewiss. Doch welche Geschichte genau? Meist verflüchtigt sich diese Ankündigung dann in einem wohltemperierten Nichts.

7. Das Repertoire der Wein-Plattitüden, die mehr vorgaukeln als erklären, ist lang – und gerade dann besonders gefragt, wenn es nichts Gehaltvolles zu sagen gibt: „Der Wein spricht für sich“, „ein echter Gaumenschmeichler“, „ein guter Essensbegleiter“ und – allzeit beliebt, selbst bei Tropfen mit auffallend kurzem Nachhall: „Dieser Wein hat eine schöne Länge.“

Für Fortgeschrittene stehen die höher aufgeschäumten Sprüche bereit: „Der Wein braucht noch Zeit“ – möglicherweise zutreffend, aber im Kern doch ein Eingeständnis, dass er im Moment nicht viel hergibt. Oder „Dieser Wein hat echtes Lagerpotenzial“ – eine Formulierung, die alles bedeuten kann, nur nicht, dass man sofort Lust auf ein zweites Glas hätte.

8. Auch viel Gerede über famose Grands Crus – Romanée-Conti, La Tâche, Château Lafite Rothschild oder die italienischen und kalifornischen Pendants wie Sassicaia und Screaming Eagle – ist selten ein Zeichen von Tiefgang. „Am schlimmsten sind Etikettentrinker, die schon viele kostspielige Gewächse genossen haben und deshalb glauben, sie verstünden etwas von Wein“, sagt Philipp Schwander, der bekannteste Weinexperte der Schweiz.

„Gibt man diesen Leuten einen unbekannten Spitzenwein, verziehen sie das Gesicht. Würde ich denselben Tropfen jedoch vorher in eine Château-Margaux-Flasche umfüllen, würden sie diesen in den Himmel loben.“

Ein weiteres typisches Merkmal von Etikettentrinkern ist ihre Scheu vor weniger bekannten Anbauregionen. Statt Entdeckerfreude dominiert Vorsicht – man bleibt lieber bei den klassischen Appellationen und meidet alles, was nicht etabliert oder klangvoll genug erscheint. Im Prinzip sind Weine für Etikettentrinker nichts anderes als ein Statussymbol.

9. Zum Snob-Effekt gehören die grotesken Preise für renommierte Weine. Sobald ein Wein einen gewissen Preis erreicht hat, interessieren sich viele Leute auf dem internationalen Markt erst richtig dafür – und treiben den Preis dadurch weiter in stratosphärische Höhen, ganz unabhängig davon, ob die sauteuren Gewächse wirklich besser sind als preiswertere. Eine Entwicklung, die sich auch in der Kunstszene beobachten lässt. Sollte man auf dem Zettel haben!

10. Eine andere Spielart in der Welt der Rebkultur: Biologisch und biodynamisch produzierte Weine. Ihre Trauben gedeihen fernab von Pestiziden und synthetischen Düngemitteln. Im Keller werden meist keine oder nur wenige unrühmliche Zusatzstoffe verwendet, oft verzichtet man sogar auf Filtration und andere technische Eingriffe, um den Wein möglichst unverfälscht und „lebendig“ zu halten.

„Man schmeckt einfach die Energie“, tönt es im Fachjargon. Vielleicht. Aber auch: schmeichelhafte Suggestion und Ausdruck eines aktuellen Trends. Also: Beurteile einen Wein nach deinem eigenen Geschmacksempfinden – nicht nach dem Label oder dem Zeitgeist.

11. Man kann es auch übertreiben mit dem Zelebrieren eines Weins: den Probeschluck minutenlang im Glas kreisen lassen, tief seufzen, die Augen schließen, als handle es sich um eine sakrale Handlung – nur um den Tropfen dann mangels adäquatem Vokabular (und Fachwissen) mit einem simplen „Ganz nett“ oder „Schmeckt gut“ abzuspeisen. Ein Schauspiel, das mehr über die Begrenztheit des Verkosters verrät als über den Wein selbst.

12. Man muss kein Weinprofi sein, um ein Wine-Tasting zu genießen. Aber wer jede Kostprobe mit „Joa, süffig!“ oder „Der knallt aber!“ beurteilt, geht den echten Gaumenakrobaten in der Runde schnell auf die Nerven. Mut zur Unkenntnis ist völlig okay – aber bitte dezent. Man kann auch einfach mal nicken und sich zurücklehnen.

13. Als kleine Starthilfe: Das Glas am Stiel halten, nicht wie einen Kaffeebecher umfassen. So bleibt der Kelch vor unschönen Fingerabdrücken verschont, und der Wein erwärmt sich nicht unnötig. Außerdem: Wer nicht riecht, bevor er trinkt, verschenkt die halbe Erfahrung.

14. Zweite Regel für Einsteiger: Ein Verkostungstisch ist keine Bar – und Degustieren heißt nicht, sich die angebotenen Tropfen hinter die Binde zu kippen. Wer Wein verschlingt wie Wasser nach dem Joggen, fällt spätestens nach dem siebten Glas mit temporären Störungen des Gleichgewichtssinns auf – und das wirkt selten stilvoll. Apropos: Der Spucknapf ist kein bloßes Dekor, sondern ausdrücklich zur Benutzung gedacht – auch wenn es am Anfang Überwindung kostet.

15. Drittens: Ja, man darf ruhig schlürfen bei einer Degustation – das fördert sogar die Entfaltung der Aromen. Und schwenk das Glas ruhig, aber nicht so energisch, dass mehr Wein auf der Tischdecke landet als im Mund. Vom Connaisseur zum Komiker ist’s halt oft nur kleiner Schritt.

16. Wichtig: kein Parfum aufgetragen haben – gilt auch für Herren. Trotzdem ignorieren selbst bei Verkostungen in edelsten Spitzengütern manche diesen Grundsatz. Frauen, die Lippenstift tragen, trinken am besten immer an derselben Stelle am Glas. Und noch ein Tipp für die Garderobe: Vermeide weiße Kleidung. Denn selbst wenn man sich nicht selbst anspritzt, sorgen andere gern für ein Weinflecken-Malheur.

17. Auch nicht ratsam: Mit leerem Magen und halb ausgehungert zum Wine-Tasting erscheinen – der perfekte Nährboden für überstürzte Schluckentscheidungen.

18. „Ich kenne etwas Besseres“ ist fast nie ein guter Satz. Nicht jede Nase im Raum muss wissen, was deine Nase denkt – vermeide also das Weinduell. Eine Verkostung ist kein Wettbewerb, sondern eine Einladung, neue Weine, Regionen und Rebsorten zu entdecken.

Wer sich darauf einlässt, braucht weniger auswendig gelernte Floskeln als geschärfte Sinne, weniger Show als wache Neugier. Schließlich zählt nicht, wer den Wein am lautesten kommentiert, sondern wer ihm am aufmerksamsten zuhört.

So gewinnt sicher kein Gast Sympathien, wenn er bereits beim ersten Schluck lautstark eine Bewertung verkündet („6 von 10 Punkten!“) – ein scheinbar harmloser Satz, der dem Sommelier, der den Wein empfohlen hat, jedoch gründlich die Laune verhagelt.

19. Überlege im nüchternen Zustand, wie du nach der Weinverkostung wieder nach Hause kommst. Und nein, am Steuer deines Autos ist sicher keine gute Idee.

20. Sommeliers neigen manchmal zu wichtigtuerischen Beschreibungen à la „geröstete Weichselkirschen mit einem Unterton von Vanille“. Statt an einer klassischen Verkostung teilzunehmen kann da ein Essen im Restaurant mit passender Weinbegleitung eine gute Idee sein.

Mit etwas Glück begegnet man einem Sommelier (meist zu erkennen an der Weintraube am Revers), der nicht als wandelndes Fachbuch einschüchtert, sondern mit dem man unprätentiös und entspannt über Weine plaudern kann. Fundiertes Wissen und feines Gespür vorausgesetzt, versteht er (oder sie) es, sich auf das Niveau des Gastes einzustellen und die Weine so zu erklären, dass sie für den Normalbürger verständlich sind – also ob ein Wein schwer, leicht, herb oder rund ist.

21. Umgekehrt gilt auch: Spiel dich beim Sommelier nicht auf. Überschlaue Aromaverweise sorgen selten für Bewunderung, meist eher für hochgezogene Augenbrauen. „Brombeerig mit einer Andeutung von frisch gewachstem Parkett“ ist eindeutig zu viel des Guten.

22. Ebenfalls peinlich: Gäste, die sich im Restaurant als Bordeaux-Kenner inszenieren, aber schon bei der simplen Frage nach ihrer Vorliebe für „Rive gauche“ oder „Rive droite“ mit der Antwort hadern – eine Unterscheidung, die nicht nur geografisch, sondern auch stilistisch ein Schlüssel zum Verständnis der Bordeaux-Weine ist. Wer sich großspurig gibt, bei solch wohlmeinenden Nachfragen des Sommeliers jedoch ins Leere läuft, hat sein Glas vermutlich etwas zu selbstbewusst erhoben.

23. Für viele Sommeliers gilt es als Fauxpas höchsten Grades: die Bitte des Gastes, Rotwein auf Eis zu stellen. Doch manchmal muss man einfach darauf beharren – in vielen Restaurants, speziell an Sommertagen im Garten, wird Rotwein viel zu warm serviert. „Beim Ausschenken sind 12 bis 16 Grad Celsius ideal“, erklärt Weinexperte Philipp Schwander.

24. Der berüchtigte Moment im Gourmetrestaurant tritt ein, wenn der Sommelier mit subtilem Lächeln zum Tisch kommt und behutsam fragt, ob er zum gewählten Menü einen Puligny-Montrachet „Corvée des Vignes“ von Jean-Marc Vincent, Jahrgang 2018, empfehlen darf. Früher lautete die einzig angemessene Antwort: selbstverständlich.

Der Druck, den vermeintlich perfekten Wein bestellen zu müssen oder andernfalls in der Weinkarte mit ein paar hundert rätselhaften Optionen verloren zu gehen, war groß – kaum jemand wollte als Unwissender oder Geizhals dastehen. Heute herrscht meist viel mehr Gelassenheit: Wer sich entspannt aus der Affäre ziehen will (oder keine dreistelligen Summen pro Flasche ausgeben möchte), bestellt einen offenen Wein, den man sich vorher zur Probe einschenken lassen kann.

25. Mut zum Verzicht: Oder man greift zu alkoholfreien Alternativen oder Mineralwasser wird das inzwischen selbst in französischen Landgasthöfen anstandslos akzeptiert. Wichtig ist, der Sommelière oder dem Sommelier klar und ehrlich mitzuteilen, was man mag oder nicht. Denn letztlich geht es um deinen persönlichen Genuss. Alles andere ist Staffage.

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