Im Walzerschritt durch Wien – mit Strauss, dem ersten Popstar der Welt
Nein, er bewegt sich nicht. Wer gedacht hat, die goldene Figur auf dem Sockel im Wiener Stadtpark sei einer der vielen angemalten Schausteller, die im Sommer gern die europäischen Innenstädte bevölkern, um irgendwann aus ihrer Starre zu erwachen und an die Passanten Blumen zu verteilen, wird bald eines Besseren belehrt. Denn dies hier ist wirklich eine lebensgroße Statue.
Und zwar eine der wenigen in dieser Stadt, die sich vom üblichen Stein- oder Bronzegrau abheben. Aus gutem Grund: Denn hier handelt es sich, durchaus auch im Sinne finanzieller Einträglichkeit, um Wiens Goldjungen. Den bekanntesten und beliebtesten Komponisten Österreichs. Ganzjährig wird jetzt der 200. Geburtstag von Walzerkönig Johann Strauss gefeiert, der am 25. Oktober 1825 am Stadtrand von Wien zur Welt kam.
Der Bildhauer Edmund von Hellmer hat den Jubilar 1921 für das erwähnte Stadtparkdenkmal in einer typischen Pose dargestellt. Mit ausladender Armbewegung streicht er den Geigenbogen über die Saiten seines Instruments. Der Kopf ist genießerisch in den Nacken gelegt. Die Beine deuten den Walzerschritt an. Das Monument zählt zu den meistfotografierten in der Donaumetropole. Wer davor steht, meint sie zu hören, Straussens schwelgerische Melodien, die auf der ganzen Welt unzähligen Menschen Freude schenken und sie wie eh und je in Tanzlaune versetzen.
Auf der ganzen Welt, aber natürlich nirgends so wie in Wien, wo die Tänze der vier Sträusse gleichsam zur DNA gehören – auch Vater und zwei Brüder waren Komponisten. Kein Jahr, das nicht mit der Aufführung der „Fledermaus“ an der Staatsoper schlösse; kein Jahr, das nicht am 1. Januar mit einem Strauß-Programm im Wiener Musikverein begönne. Und die 450 Bälle, die von Januar bis Dezember (außer im Juli und im August) in der Stadt abgehalten werden, sind gleichfalls nicht ohne Strauß-Walzer zu denken, vor allem nicht ohne die inoffizielle Nationalhymne „An der schönen blauen Donau“.
Rund 200.000 Wiener, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, haben in der Tanzschule Elmayer in der Bräunerstraße im ersten Bezirk gelernt, wie man sich im Dreivierteltakt bewegt. Das schätzt jedenfalls der Inhaber der berühmtesten Tanzschule der Donaustadt. Dass man perfekt Walzer tanzen kann, ist für die Wiener noch immer Ehrensache. Dafür lässt man sich gut und gern 35 bis 40 Wochen ausbilden. So lange dauert normalerweise ein Kurs. Nicht nur, weil man auch andere Tänze lernt. Sondern, weil man bei Elmayer noch dazu Benimmunterricht erhält.
Wie der Herr sich mit einer Dame abseits der Tanzfläche zu benehmen hat, wird einem beigebracht. Und damit junge Männer nie vergessen, dass der Herr immer vorgeht, wenn er mit der Dame einen öffentlichen Raum betritt (anstatt, wie in Deutschland inzwischen üblich, die Frau den Weg bahnen zu lassen), bekommen erfolgreiche Kursabsolventen zum Abschied den „großen Elmayer“ verehrt. Der hat den Umfang einer Familienbibel.
Was man beim Elmayer auch erfährt: Johann Strauss, der im Stadtpark so tänzerisch die Hüfte beugt, hat selbst nie getanzt! Ohnehin muss man ihn sich als ziemlich gehemmt vorstellen. Sein Nachfahr Eduard, Urenkel des jüngsten Bruders von Johann, sagt es mit bemerkenswerter Deutlichkeit: „Der Walzerkönig war kein guter Mensch! Erst ein feiges Muttersöhnchen, dann ein Despot.“ Eduard Strauss, Richter im Ruhestand und Vorsitzender des Vienna Institute for Strauss Research, ist ein wenig auf Krawall gebürstet. Seit vielen Jahren schon kämpft er für ein realistisches Bild seines großen Vorfahren, vor allem aber für eine angemessene Aufführungspraxis von Strauss-Werken, was für ihn in erster Linie eine „Ausschaltequote“ für André Rieu und andere Strauss-Verhunzer bedeutet, wie er sagt.
Wiener Walzertraum
Jawohl: Strauss! Korrekt sei allein die Schreibweise des Namens mit Doppel-„s“, Strauß mit „ß“ sei falsch. Der Strauss-Verweser Eduard stellt gewissermaßen die Speerspitze einer Bewegung dar, die im Jubiläumsjahr ihre Chance wittert, den Zuckerguss vom vielleicht berühmtesten Österreicher abzukratzen und ihm einen modernen, nicht mehr gar so goldigen Anstrich zu verpassen.
In der Hauptsache müsse man vor allem das Satirische in der Musik von Johann Strauss Sohn herausarbeiten, findet Eduard Strauss. Johann sei nicht von ungefähr durch den großen musikalischen Spötter Jacques Offenbach zur Operette angeregt worden. Den satten, quasi eingedickten Klang, den sogar die Wiener Philharmoniker bei ihrer Interpretation von Strauss-Walzern bevorzugten, findet Eduard Strauss historisch falsch.
Der bereits erwähnte Donauwalzer beispielsweise dürfe keineswegs wie eine Apotheose dieses Flusses erscheinen, der ohnehin nie blau gewesen sei. Man solle vielmehr die Kabarettseite des Stücks enthüllen. Schließlich sei das Werk ein Jahr nach der verheerenden Niederlage von Königgrätz 1866 im deutsch-österreichischen Krieg für einen Wiener Männergesangsverein komponiert worden.
Zudem habe damals gerade eine Choleraepidemie gewütet. Und wenn das Hauptmotiv im Donauwalzer erklang, wurde ursprünglich dazu gesungen: „Wiener, seid froh!“, worauf ein verwundertes „Warum, wieso?“ zurückgegeben wurde. Es habe 1867 also für die Wiener nur wenig Grund gegeben, besonders gut gelaunt gewesen zu sein.
Wer nun allerdings glaubt, die Wiener Bühnen würden im Jubiläumsjahr ein neues Bild der Werke von Johann Strauss vermitteln, sieht sich getäuscht. So hat die „Fledermaus“ an der Volksoper zwar, einer gegenwärtigen Mode huldigend, den Gefängniswärter Frosch, der im dritten Akt seine grantigen Sottisen zum Besten gibt, mit einer Frau besetzt und in den Hauptpartien drei Farbige untergebracht. Ansonsten mutet die Aufführung aber so konventionell an, als sei die Zeit 1993 stehen geblieben. Da fand die Premiere dieser Produktion statt.
Im Wiener Museumsquartier wiederum schüttet man das Kind mit dem Bade aus und klopft Straussens ambitioniertestes Bühnenwerk, den „Zigeunerbaron“, keineswegs auf neue Interpretationsmöglichkeiten ab, sondern greift gleich zu einer der heute so beliebten „Überschreibungen“. Dabei geht nicht nur die Originalmusik unter in einem schrägen „Musiktheater“ wie von Kurt Weill.
Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat sich zudem bemüßigt gefühlt, aus den Sinti und Roma im Stück moderne Industriearbeiter zu machen, die als „revolutionäre Klasse“ umgedeutet werden. Dabei bejubeln sie bekanntlich im zweiten Akt genauso das „Fürstenkind“ Saffi und bezeugen ihre Kriegsbegeisterung durch martialische Lieder wie die Mehrheits-Österreicher im „Zigeunerbaron“ auch.
Angesichts solchen woken Belehrungstheaters ist man besser beraten, sich auf die aktuellen Ausstellungen in der österreichischen Hauptstadt einzulassen. Ein originell gegen den Stereotypen-Strich gebürstetes Strauss-Erlebnis bietet etwa die Schau „New Dimensions“ im Johann-Strauss-Museum am Naschmarkt. Immersiv und interaktiv kann man da auf 800 Quadratmetern, ausgestattet mit einem Audioguide, 75 Minuten lang durch sieben Akte aus dem Leben des Walzerkönigs flanieren, die vor allem eines aufzeigen: Zum „ersten Popstar“ wurde Strauss, weil ihn Frauen managten!
Erst war es die Mutter, dann folgten drei Gattinnen. Die Frau Mama scheint sich für die ewigen Affären ihres Mannes gerächt und ihren Ältesten früh zu einem Konkurrenten des Vaters aufgebaut zu haben. Da nützte es gar nichts, dass Strauss Senior Journalisten Geld anbot, damit sie die Erfolge des Juniors kleinschrieben. Der eilte trotzdem von Triumph zu Triumph und verdiente sich schon bald eine goldene Nase.
Der Mittdreißiger mit der dunklen Löwenmähne und dem dichten Bart kam vor allem bei den Damen an. Darum hielt er sich einen riesigen schwarzen Hund, dem er immer mal wieder schwarze Fellbüschel abschnitt, um sie als „Haarlocke des Meisters“ unter seine Verehrerinnen zu bringen. Die Idee stammte von seiner ersten Frau Henriette.
Da er jedoch weder mit ihr noch mit den beiden Nachfolgerinnen Kinder bekam, schickten sich die Brüder Josef und Eduard an, sein Erbe anzutreten. In der Ausstellung „New Dimensions“ erfährt nun eine erstaunte Öffentlichkeit, dass der offenbar psychisch gestörte Eduard nach dem Tod von Johann das komplette Notenmaterial des großen Bruders vernichtete, sodass man zwar viele Originalpartituren von Strauss-Werken besitzt, aber kaum gesicherte Hinweise darauf, wie sie aufgeführt wurden.
Ansonsten wird man auch im House of Strauss gut bedient. Dieses hat ein pfiffiger Unternehmer jetzt im Casino Zögernitz, einem der wenigen noch erhaltenen Konzertsäle, in denen Johann gespielt hat, multimedial revitalisiert. Hier kann man sich mal an einer Medienstation als Bühnenfigur aus einer Strauss-Operette versuchen, mal an einer anderen seinen ganz persönlichen Strauss-Hit herausfinden: Man lässt sich den Puls messen und nennt einen Daseinsschwerpunkt wie zum Beispiel Arbeit, Liebe oder Sport. Mit aufgeregter Herzfrequenz und dem Schwerpunkt Liebe erklingt prompt die Polka „So ängstlich sind wir nicht“ aus der Operette „Eine Nacht in Venedig“ – passt!
Originalschauplätze aus dem Leben von Johann Strauss sind in der österreichischen Hauptstadt leider rar gesät. Immerhin existiert eine seiner Wohnungen noch und beherbergt ein kleines Museum. Es befindet sich in der um 1860 sehr angesagten Praterstraße. Hier entstand „An der schönen blauen Donau“, mutmaßlich an jenem Stehpult, das hier im Salon gezeigt wird, zusammen mit Straussens Bösendorfer-Flügel sowie seiner Amati-Geige, die in einem üppig verzierten Glasschrein steht.
Auch der Uraufführungsort seiner 13 Operetten, das Theater an der Wien, fungiert noch immer als Spielstätte. Wenn man sich dem klassizistischen Gebäude aus dem Jahre 1801 von der Pagagenogasse aus nähert, kann man sich tatsächlich ein wenig in die große Zeit der Wiener Operette zurückversetzt fühlen.
Doch wer wirklich schwelgen will in Glanz und Gloria der Habsburger Monarchie zur Zeit des Walzerkönigs, der im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts starb, der tut gut daran, das 1876 eröffnete „Hotel Sacher“ aufzusuchen. Nirgends leben der exquisite Komfort, das ganz spezielle Wiener Savoir Vivre mit seiner altmodischen Gemütlichkeit und seinem zeremoniösen Geschmack so ungehindert fort. Strauss-Fans, die sich von der grassierenden Wokeness genervt fühlen, sollten eines langen Tages Reise im Zeichen des Jubilars genau hier entspannt ausklingen lassen – am besten im Hotelrestaurant „Rote Bar“, das schon deshalb der perfekte Ort ist, weil der Walzerkönig höchstselbst hier diniert hat.
Man sitzt unter Kronleuchtern in roten Samtpolstern. Man genießt traditionelle österreichische Küche auf hohem Niveau. Wo, wenn nicht hier, kann man im heutigen Wien jene Lebensweisheit nachvollziehen, die im zweiten Akt der „Fledermaus“ aus voller Kehle geschmettert wird: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Direktflüge von vielen deutschen Städten. Man kommt auch gut nach Wien per ICE oder Nachtzug.
Wo wohnt man gut? Den Charme der k.u.k. Zeit bietet das „Hotel Sacher“, DZ ab 578 Euro, sacher.com. Preiswert, aber gediegen ist das Drei-Sterne-Hotel „Graf Stadion“, DZ ab 199 Euro, hotelgrafstadion.at.
Was sollte man besuchen? Johann-Strauss-Wohnung, Praterstraße 54, Eintritt: fünf Euro, wienmuseum.at/johann_strauss_wohnung. Museum House of Strauss, Eintritt: 23 Euro, houseofstrauss.at. Ausstellung „New Dimension“ im Johann-Strauss-Museum, Eintritt ab 25 Euro, johannstraussmuseum.at/de/
Weitere Infos: wien.info, austria.info
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