Shinkansen – der Name des japanischen Superschnellzugs ist weltweit ein Synonym für Pünktlichkeit und Perfektion. Doch die Hochgeschwindigkeitsstrecken machen nur knapp 3000 Kilometer des gesamten Streckennetzes aus. Der Rest des Landes wird von weiteren 27.000 Kilometer Gleisen durchzogen.

Wer möglichst viel sehen will, kommt mit Lokal- und Schmalspurbahnen komfortabel und verspätungsfrei in jeden Winkel, was das Zugfahren in Japan sehr viel angenehmer als in Deutschland macht. Was sollten Reisende wissen und beachten? Auskunft gibt einer, der sich auskennt: Matthias Reich, der seit 20 Jahren in Japan lebt, das Bahnfahren dort liebt und darüber gerade ein neues Buch (siehe unten) geschrieben hat.

WELT: Die Pünktlichkeit japanischer Züge ist legendär, Verspätungen betragen beim Shinkansen im Schnitt nur ein paar Sekunden. Wann haben Sie zuletzt eine Zugverspätung erlebt?

Matthias Reich: Ich fahre mit dem Zug zur Arbeit; 20 Minuten hin, 20 Minuten zurück, und das bis zum Bahnhof Shibuya, immerhin der zweitgrößte Bahnhof der Welt, was die Passagierzahlen anbelangt. Die letzte Verspätung hatte ich in der vergangenen Woche, da kam ein Zug tatsächlich mal zehn Minuten zu spät an.

WELT: Zehn Minuten? Davon können deutsche Bahnreisende nur träumen. Wie schaffen es die japanischen Bahnen, so pünktlich zu sein?

Reich: Was die berühmten Shinkansen angeht, ist der Grund einfach: Deren Gleise sind vom Nah- und Güterverkehrsnetz getrennt und fast durchweg eingezäunt. Sie rauschen mit über 300 km/h durch die Landschaft, die meisten Strecken sind mit Tunneln gespickt. Für die Shinkansen gilt: Man kann die Uhr nach ihnen stellen.

WELT: Heißt das, auf Regionalstrecken muss man durchaus mit Verspätungen rechnen?

Reich: Nein, natürlich nicht. Ein Problem in Japan sind allenfalls Komplettsperrungen aufgrund von Naturgewalten. Japan besteht zu mehr als zwei Dritteln aus Bergland, fast jedes Jahr richten Starkregen, Bergstürze, Taifune Schäden an. Dass Strecken komplett gesperrt werden, kommt also gelegentlich vor. Abgesehen davon ist Bahnfahren in Japan eine entspannte und äußerst pünktliche Form des Reisens – auch in Nah- und Regionalzügen. Eine Rolle spielt zudem, dass Schwarzfahren in Japan nicht möglich ist. Es gibt damit von dieser Seite keine Einnahmeausfälle, und das Geld fließt zurück in die Erhaltung der Infrastruktur.

WELT: Wieso ist Schwarzfahren unmöglich?

Reich: Weil man ohne Fahrschein nicht auf den Bahnsteig kommt und nicht wieder herunter. Deshalb gibt es auch keine Kontrollen im Zug.

WELT: Mit welchen Kosten muss man bei Bahnfahrten rechnen?

Reich: Der Japanische Yen ist derzeit relativ schwach, was Bahnfahren für Europäer erschwinglich macht. Zudem beträgt der durchschnittliche Preis pro Person und Kilometer weniger als die Hälfte dessen, was die Deutsche Bahn verlangt. Allerdings ist Japan von der Nord-Süd-Ausdehnung her mit gut 2000 Kilometern rund doppelt so lang wie Deutschland.

Möchte man große Entfernungen mit Schnellzügen zurücklegen, wird es schnell teurer, denn für den Shinkansen werden 50 Prozent Aufschlag berechnet. Deshalb empfiehlt sich für Touristen der Japan Rail Pass, mit dem man auf den meisten Strecken des Landes nach Herzenslust umherreisen kann. Er kostet für sieben Tage umgerechnet 350 Euro, das rechnet sich schnell.

WELT: Und wenn man lieber lokale Züge benutzt?

Reich: Da kommt man mit regulären Fahrkarten günstiger weg. In meinem Buch beschreibe ich eine Reihe solcher Strecken, die gut an einem Tag zu bewältigen sind.

WELT: Ein Beispiel, bitte.

Reich: Eine außergewöhnlich schöne Strecke ist die mit dem Soya-Express von Asahikawa nach Nayoro, in die kälteste Stadt Japans, und weiter nach Wakkanai, in die nördlichste Stadt Japans auf Hokkaido, der nördlichsten Insel Japans. Sie ist wegen ihrer Schneesicherheit bei Wintersportlern beliebt. Wer zum Skifahren nach Japan reist, sollte unbedingt eine Fahrt mit dem Soya-Express machen.

WELT: Wie sieht es denn mit Speisewagen in japanischen Zügen aus?

Reich: Hier muss man unterscheiden; in Regionalbahnen sind Bordrestaurants prinzipiell eine Ausnahme. Die meisten Bahnhöfe verkaufen aber sogenannte Ekiben zum Mitnehmen, das sind kleine Schachteln mit japanischen Leckereien, oft mit typischen Zutaten der Region. Bei den Shinkansen ist es sogar Teil des Erlebnisses, mitgebrachtes Essen zu verspeisen. Dort gibt es auch Servierwagen, die Snacks, Getränke und Bento-Boxen anbieten; einige dieser Boxen, zum Beispiel die von Fukuoka oder Odate, haben regelrecht Kultcharakter.

WELT: Dann könnte man also genüsslich Japan in voller Länge „erfahren“. Ist das auch praktisch machbar?

Reich: Ja, dank neuer Shinkansen-Verbindungen ist es jetzt sogar möglich, innerhalb eines Tages von der nördlichsten Hauptinsel Hokkaido bis nach Kagoshima auf der südlichen Hauptinsel Kyushu zu fahren.

WELT: Wie viel Zeit sollte man für diese Strecke als Urlauber einplanen?

Reich: Mindestens eine Woche, um unterwegs in Sendai, Tokio, Kyoto, Osaka, Kobe, Hiroshima und Fukuoka auszusteigen und etwas von der örtlichen Luft zu schnuppern. Wem das zu viel Großstadt ist: Es gibt auf der Route auch viele kleinere Orte wie Hakonodate, Iwakuni, Hiraizumi, Kakegawa, die ein oder zwei Zwischenübernachtungen lohnen.

WELT: Gibt es eigentlich Nachtzüge in Japan?

Reich: Leider nein. Mit dem Ausbau des Shinkansen-Netzes kamen die Nachtzüge sprichwörtlich auf das Abstellgleis. Der einzige Nachtzug mit Tickets auf normalem Preisniveau ist der Sunrise Izumo von Tokio nach Izumo mit Kurswagen auf die Insel Shikoku.

WELT: Was Bahnrekorde angeht, wechseln sich Japan und China ab. Wer hat hier derzeit die Nase vorn?

Reich: In puncto Zugkomfort liegt Japan vorn, vor allem, was die Vielfalt anbelangt. Es gibt zahlreiche Spezialzüge mit extrem viel Liebe zum Detail, und die Shinkansen sind technisch absolut konkurrenzfähig. Was jedoch den Bau neuer Trassen anbelangt, schlägt China alle Rekorde.

Das Riesenreich hat in nur fünf Jahren eine 1100-Kilometer-Hochgeschwindigkeitstrasse bis Lhasa in Tibet gebaut – der Großteil verläuft in einer Höhe über 4000 Meter. Das ist eine ingenieurtechnische Leistung ersten Ranges. Doch Japan hält dagegen und baut an einer Magnetschwebebahntrasse, die ab 2034 Tokio mit Nagoya verbinden soll. Für die knapp 300 Kilometer wird der über 500 Stundenkilometer schnelle Zug etwa 40 Minuten brauchen.

WELT: Sieht man da überhaupt noch etwas von der Strecke?

Reich: Ich vermute, kaum mehr als farbige Streifen. Doch wem es um die Landschaft geht und um das gute alte Bahnfahrwohlgefühl, der kann in Japan noch mit echten Dampfloks fahren. Besonders interessant ist die Oikawa-Linie – auf ihr zuckeln allerhand nostalgische Züge durch die Berge und Teefelder der Präfektur Shizuoka.

WELT: Was sollten Bahntouristen in Japan generell beachten, welche No-Gos sollten sie vermeiden?

Reich: Lautes Unterhalten in Zügen ist im Allgemeinen nicht erwünscht, ebenso das Telefonieren. In Japan ist es zudem unüblich, sich die Nase zu schnäuzen, da kann man schon mal erschrockene Blicke riskieren. Wer mit viel Gepäck reist, sollte die oft voll besetzten Stadtzüge meiden, denn sperrige Koffer rufen zu Recht Unmut im Berufsverkehr hervor. Auch das Tragen von Duftwässerchen oder der Verzehr stark riechender Lebensmittel ist in den Zügen nicht gern gesehen. Aber das ist in Deutschland sicher nicht viel anders.

Matthias Reich – Japan-Expat und Buchautor

1996 reiste der gebürtige Brandenburger Matthias Reich (Jahrgang 1974) im Rahmen seines Japanologie-Studiums erstmals nach Japan, seit 2005 lebt und arbeitet er dauerhaft dort, inzwischen als Geschäftsführer einer IT-Firma. Reich spricht fließend Japanisch, mit seiner japanischen Frau und seinen Kindern wohnt er in Kawasaki.

Unterwegssein ist seine Leidenschaft, weshalb er unter tabibito.de (Japanisch für Reisender) eine Website über seine Reiseerlebnisse eingerichtet hat sowie unter japan-almanach.de einen Blog über Wissenswertes zu Japan.

Gerade ist sein drittes Buch erschienen: „Japan mit dem Zug entdecken. Die beste Art, das Land und seine Highlights kennenzulernen“ (Bruckmann Verlag, 224 Seiten, 22,90 Euro).

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