Deutschland und sein „erschreckender Mangel“ an Zusammenhalt
Gerade in krisenhaften Zeiten sehnen sich Menschen eigentlich nach Zusammenhalt und Verbundenheit. Doch das gesellschaftliche Klima im Land wird von immer mehr Menschen als aggressiv und feindselig erlebt. 87 Prozent nehmen eine wachsende Trennung und Vereinzelung in der Gesellschaft wahr, die sie besorgt; 89 Prozent beklagen eine zunehmende Aggressivität im Umgang miteinander – Werte, die in den vergangenen zwei Jahren von ohnehin schon hohem Niveau noch weiter gewachsen sind.
In der Folge treten immer mehr Menschen den Rückzug ins Private an. Die Familie und der Freundeskreis erscheinen als die letzten Rückzugsorte, in denen Menschen sich noch sicher fühlen. Zwar stimmen überwältigende 95 Prozent der Menschen der Aussage zu, dass es angesichts der weltpolitischen Lage wieder mehr Zusammenhalt in Deutschland brauche. 77 Prozent geben an, sich wieder mehr echte Gemeinschaftserlebnisse zu wünschen – auch mit Menschen, die anders denken als sie. Doch nur neun Prozent erwarten, dass sich das Gemeinschaftsgefühl in den nächsten zehn Jahren wieder verbessern wird. Im Jahr 2023 waren es immerhin noch 17 Prozent.
Es sind besorgniserregende Befunde, die das auf tiefenpsychologische Forschung spezialisierte Rheingold-Institut in seiner Grundlagenstudie „Verbundenheit“ erhoben hat. Im Auftrag der Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie, wurden 32 zweistündige Interviews geführt und 1001 Menschen in einer Online-Befragung repräsentativ befragt. Die Studie zeigt ein brüchiges Bild des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland. Soziales Misstrauen, stille Entfremdung und mangelnde Zuversicht prägen das Erleben.
„Das sind so viele Kleinigkeiten, die schieflaufen. Überall trifft man auf Zwiespalt, Neid und Missgunst, kaum jemand ist noch hilfsbereit“, gab etwa eine 60-jährige Frau zu Protokoll. „Das Land durchlebt einen erschreckenden Mangel der Verbundenheit“, kommentiert Paul Kohtes, Vorsitzender der Identity Foundation, die Ergebnisse.
Für das Rheingold-Institut liegen die Gründe für die Krise der Verbundenheit vor allem in einer gewachsenen Selbstbezüglichkeit. Angesichts der Vielzahl der derzeitigen Probleme zögen sich viele Menschen in kleine Kreise zurück und versuchten, sich von der beunruhigenden Außenwelt abzuschotten. Verbundenheitsgefühle erlebten die Menschen vor allem in ihrer Familie (85 Prozent) und im Freundeskreis (83), in der Natur (67) und in abgeschwächter Form noch am Arbeitsplatz (54). Symptomatisch dafür steht das Zitat aus dem Interview mit einer 35-jährigen Frau: „Ich will mich nicht mehr aufregen, ich kümmere mich nur noch um mich und um meine Familie.“
Die Rheingold-Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von „sozialen Bollwerken mit Wagenburg-Mentalität“ und „Silodenken“, auch im Digitalen: „Menschen aus dem sozialen Umfeld, die anstrengend oder anderer Meinung sind, werden oft aussortiert und gemieden.“ 84 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass Menschen mit unterschiedlichen Meinungen kaum noch aufeinander zugehen.
„Unterhalb dieser Gesinnungsbiotope reißen die Gesprächsfäden mehr und mehr ab. Solidarität ist zur Silodarität geworden“, sagt Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Rheingold-Instituts. „Für eine Demokratie, die auf der Fähigkeit zum Gespräch und zum Perspektivwechsel baut, ist diese Entwicklung besorgniserregend.“
„Tarnkappen-Mentalität“ der Jüngeren
In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen beobachtete das Institut eine besondere Konfliktscheu. Viele versuchten, nach außen hin eine möglichst unauffällige Haltung bewahren, um sich nicht angreifbar zu machen. „Diese Tarnkappen-Mentalität zeigt sich auch darin, dass 48 Prozent der jungen Generation zustimmen, dass sie ihre Meinung nicht offen sagen, weil sie Kritik befürchten“, heißt es in der Auswertung der Studie. Das sind acht Prozentpunkte mehr als der Durchschnitt. Die jungen Menschen gaben auch signifikant häufiger als die anderen Altersgruppen an, es schwer zu finden, Meinungen auszuhalten, die nicht der eigenen entsprechen. Im Schnitt stimmt dem immerhin ein Viertel der Befragten zu.
„Gerade in der jungen Altersgruppe sind die Meinungssilos sehr ausgeprägt, die Sorge, gecancelt zu werden, ist sehr groß“, sagt Grünewald. „Das führt dazu, dass die Jungen höllisch vorsichtig sind mit Meinungsäußerungen. Das führt aber auch zu einer gestauten Ausdrucksbildung.“
Über alle Altersgruppen hinweg wird zudem ein zunehmendes Gefühl von Unsicherheit beschrieben. Das Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum sei vor allem dadurch erschüttert worden, dass gerade symbolische Orte der Gemeinschaft wie Weihnachtsmärkte, Demonstrationen oder Volksfeste gefühlt zu Risikoplätzen geworden seien, heißt es in der Studie. Nur 28 Prozent der Menschen fühlen sich derzeit im öffentlichen Raum sicher, nur 18 Prozent sehen sich ausreichend vor äußeren Bedrohungen wie Krieg, Terror oder Cyberangriffen geschützt.
Das Gefühl der Unsicherheit erstreckt sich auch auf die Politik. Nur noch 34 Prozent vertrauen demokratischen Institutionen wie dem Parlament und der Regierung voll und ganz oder zumindest überwiegend; 37 Prozent sprechen den Institutionen ihr explizites Misstrauen aus, der Rest macht keine Angaben.
Dabei sehnen sich die Menschen durchaus nach einer starken und handlungsfähigen Regierung. 89 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die Politik übergreifende Lösungen für die derzeitigen Herausforderungen entwickeln müsse, „weil diese nicht individuell von den Bürgerinnen und Bürgern bewältigt werden können“. Zu den Themen, die derzeit von der Politik vernachlässigt werden, zählen für neun von zehn Befragten Altersarmut, Verrohung und Spaltung der Gesellschaft sowie fehlender Wohnraum. Es folgen Inflation, wirtschaftliche Entwicklung, Gesundheitsfürsorge und Migration.
Allerdings dürfe die Politik angesichts dieser Erwartungshaltung auch nicht in eine „Lieferdienst-Mentalität“ verfallen, warnte Grünewald. „Es muss das Gefühl entstehen, dass alle an der Lösung der Probleme mitwirken müssen.“
Tatsächlich fühlten sich in der Umfrage zwar 66 Prozent „überfordert“, wenn sie an die vielen gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme denken. Allerdings sind auch 79 Prozent der Meinung, dass der Einsatz jedes Einzelnen entscheidend ist, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu stemmen. Die Hälfte der Befragten gibt an, sich aktiv um einen Beitrag für die Gesellschaft zu bemühen – etwa durch Ehrenamt, Demos, Umwelt- oder soziale Projekte oder politische Arbeit.
Einige Befragte beschreiben in den Tiefeninterviews, sich durch gemeinsames Engagement verbunden zu fühlen – etwa in der Nachbarschaft oder in Vereinen. „Aber auch dramatische Ereignisse wie die Überschwemmungen im Ahrtal schweißen zusammen und lassen spontan Solidargemeinschaften entstehen, in denen die Menschen gemeinsam dem Schicksal trotzen“, heißt es in der Studie.
Eine der Befragten hebt exemplarisch das Gemeinschaftsgefühl nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember 2024 hervor. „Da fand ja dieser große Gottesdienst statt. Der Vorplatz war voller Menschen. Wir Magdeburger sind zusammengerückt, weil wir alle mit den Opfern und den Familien gefühlt haben.“
Dieser eigentlich vorhandene Wunsch nach Verbundenheit werde jedoch in den Augen der Menschen kaum gesellschaftlich kanalisiert, warnt Psychologe Grünewald. „Mangelnde Verbundenheit kann auf Dauer unsere freiheitliche Demokratie gefährden.“ Soziales Misstrauen mache die Menschen anfällig für „totemistisches Stammesdenken“, wie es zurzeit in den USA zu beobachten sei. Die globalen Krisen wirkten dabei wie Brandbeschleuniger. Politik und Gesellschaft stünden nun vor der Frage, ob und wie sich dieser Erosion gesellschaftlicher Verbundenheit Einhalt gebieten lasse.
Als Beispiel führt Grünewald die Gasversorgungskrise 2022/2023 nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an, die zu einer gemeinsamen Energie-Sparanstrengung geführt habe und in der sich „gestaute Bewegungsenergie in soziale Verbundenheitserlebnisse“ kanalisiert habe. „Jeder Einzelne steht in der Verantwortung, nicht nur das bröckelnde Miteinander zu beklagen, sondern aktiv im Alltag mehr Verbundenheit zu leben.“
Sabine Menkens berichtet für WELT über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
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