Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich in Fragen des atomaren Schutzschirms für Europa immer bedeckt gehalten. Die „strategische Ambiguität“, die bewusst eingesetzte Mehrdeutigkeit und Unberechenbarkeit, ist Kern der französische Nukleardoktrin seit Frankreich unter Präsident Charles de Gaulles zur Atommacht geworden ist. Am Dienstagabend, in einer mehr als dreistündigen Fernsehsendung, hat Macron eine Ausnahme gemacht und Klartext gesprochen. Frankreich bietet seine Atomwaffen den europäischen Nachbarn zu Abschreckungszwecken an, „ähnlich wie es die Amerikaner tun“, sagte Macron.

In der Sendung mit dem Titel „Die Herausforderungen Frankreichs“ benannte er die größte aller Herausforderungen. Es sei die, „frei zu bleiben“. Auf die Frage, ob Frankreich angesichts der Expansionsgelüste Moskaus mit Atomwaffen Warschau oder Vilnius verteidigen werde, auch auf die Gefahr hin, dass Lyon bombardiert werde, sagte der französische Präsident: „Wenn die Europäer frei bleiben wollen, dann müssen sie sich in die Lage bringen, sich zu bewaffnen, solidarisch zu sein und abzuschrecken.“

Frankreich ist seit dem Brexit die einzige Atommacht der Europäischen Union. Seit auf die Sicherheitsgarantien der Nato kein Verlass mehr ist, fassen europäische Länder ins Auge, amerikanische Atomwaffen auf ihren Territorien langfristig durch französische zu ersetzen. Eine der Moderatoren der Fernsehsendung erwähnte Polen. Vergangene Woche haben Paris und Warschau einen Freundschaftsvertrag in Nancy unterschrieben. Aber auch Berlin schielt auf den französischen Schutzschirm.

Man muss in dem Satz über die Bewahrung der Freiheit der Europäer das Wort „solidarisch“ festhalten. Macron fasste aber in drei Punkten zusammen, an welche Konditionen diese Solidarität, die man als Schutz interpretieren darf, gebunden wäre. „Frankreich wird nicht für die Sicherheit der anderen bezahlen“, so Macrons erster Punkt. Zweitens dürfe dies nicht auf Kosten der eigenen Armee und der eigenen Sicherheit gehen.

Drittens werde die Entscheidung über den Einsatz von französischen Atomwaffen immer in der Hand des französischen Präsidenten bleiben, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Paris behalte die Entscheidungshoheit über den Einsatz französischer Atomwaffen. „Wir sind bereit, diese Diskussion zu beginnen und ich werde in den kommenden Wochen ganz offiziell einen Vorschlag machen und den Rahmen festlegen“, so Macron.

Der Franzose sprach von einem „geopolitischen Erwachen“, und erinnerte in einem kurzen historischen Exkurs an die Gründung der EU, die als Montanunion die Kontrolle über Kohle und Stahl regelte, um einen zukünftigen Krieg gegeneinander unmöglich zu machen. Die Staatengemeinschaft habe sich dann zur Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt. „Heute geht es um Macht“, so Macron.

Angesichts der katastrophalen französischen Haushaltslage, die an diesem langen Fernsehabend ebenfalls Thema war, überrascht die Forderung nach einer Finanzierung durch diejenigen Länder, die unter einen französischen Atomschirm wollen, nicht. Dass die Entscheidungshoheit in Paris bliebe, ist genauso wenig überraschend. Schließlich entscheidet über den Einsatz in Deutschland stationierter amerikanischer Atombomben ebenfalls der US-Präsident.

Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur

Die erweiterte nukleare Abschreckung ist für Macron von Anfang an Teil seiner europäischen Sicherheitsarchitektur, die er seit Amtsantritt 2017 vorantreiben wollte. Das „Diskussionsangebot“ in der Frage der nuklearen Teilhabe, wie Macron es nennt, hatte der Franzose schon 2020 in einer Rede vor Mitgliedern der französischen Militärakademie, École de Guerre, gemacht. Bereits damals lud er zu einem „strategischen Dialog“ ein und forderte interessierte Länder auf, an Übungen der französischen Atomstreitkräfte teilzunehmen. Experten sagen, dass es Länder gebe, die diese Einladung angenommen haben, ohne sie namentlich nennen zu können. Schon damals betonte Macron, dass die Kontrolle über die eigenen Atomwaffen in französischer Hand bleibe.

Rechts- wie Linkspopulisten haben dieses Angebot scharf kritisiert und fälschlicherweise behauptet, Macron wolle die Entscheidungshoheit aus der Hand des Präsidenten und Oberbefehlshabers der Armee geben. Marine Le Pen hat im Namen des Rassemblement National (RN) seit Jahren dafür plädiert, die integrierten Strukturen der Nato zu verlassen. Solidarität mit europäischen Nachbarländern wie Deutschland hat Le Pen im letzten Präsidentschaftswahlkampf als „puren Wahnsinn“ bezeichnet.

In Frankreich ist die Opposition nach der Marathon-Sitzung, die bis Mitternacht dauerte, hart mit Macron ins Gericht gegangen. Der Präsident sei „abgehoben“, „quatsche nur“ kritisierte RN-Parteichef Jordan Bardella. Die Vorsitzende der Grünen, Marine Tondelier, verglich die Veranstaltung mit einem „nassen Böller“, einem Rohrkrepierer. Die meiste Zeit der Sendung war innenpolitischen und gesellschaftlichen Problemen gewidmet. Macron, der seit Auflösung der Nationalversammlung sich selbst um interne Macht gebracht hat, erschien wie immer intellektuell wach und gut vorbereitet im Fernsehstudio des Privatsender TF1, verteidigte seine Bilanz nach acht Jahren im Amt, aber ließ keine klare Linie für die verbleibenden zwei Jahre erkennen.

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