„Stärke der AfD beginnt mit unseren Fehlern und Schwächen“
Grünen-Politiker Omid Nouripour, 49, ist seit März dieses Jahres Vizepräsident des Bundestags. Zuvor war er von Februar 2022 bis November 2024 an der Seite von Ricarda Lang Bundesvorsitzender seiner Partei.
WELT: Herr Nouripour, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik fiel ein Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang durch. Haben Sie Friedrich Merz (CDU) im zweiten Wahlgang gewählt?
Omid Nouripour: Nein. Es ging nicht nur um eine Person, sondern auch um den Koalitionsvertrag als Ganzes. Und mit dem sind wir Bündnisgrüne nicht einverstanden. Gleichzeitig gilt: Ein Kanzler ohne eigene Mehrheit ist ein König ohne Land. Friedrich Merz muss für seine Mehrheiten schon selbst sorgen; die wird er in den nächsten vier Jahre brauchen.
WELT: Wird dieser Fehlstart vergessen, oder ist das ein böses Omen?
Nouripour: Diese Delle des neuen Bundeskanzlers ist nicht klein. Aber er kann sie auf der Strecke auch wiedergutmachen. Es liegt an ihm und seiner Regierung.
WELT: Wie belastbar sind diese 325 Stimmen, die er letztlich bekommen hat?
Nouripour: Er ist jetzt gewählt, hat seine Mannschaft bestellt und kann loslegen. Entscheidend wird sein, ob er die Wirtschaft wieder in Schwung bringt, ob er in der Klimapolitik und bei Sicherheit und Gerechtigkeit unserer Gesellschaft liefert. Bürokratieabbau ist wichtig, die Modernisierung des Landes ebenso. Der Problemstau muss aufgelöst werden.
WELT: Haben Sie eine Theorie, wer die Abweichler gewesen sein könnten?
Nouripour: Darüber wurde im Plenum heftig spekuliert. Aber das bringt doch nichts. Friedrich Merz ist gewählt, jetzt kann die Arbeit beginnen, die der Regierung wie die der Opposition. Wir werden den Kanzler nicht an den Namen der Abweichler messen, sondern an seiner Politik.
WELT: Wünschen Sie Friedrich Merz Erfolg?
Nouripour: Natürlich. Ich bin Staatsbürger dieses Landes. Die Republik ist verunsichert. Die Aufgaben sind groß. Das internationale Umfeld bröckelt. Es geht um die Stabilität und Zukunft unseres Landes. Wir brauchen eine Regierung, die liefert, national wie in Europa.
WELT: Es gibt Bundestagsabgeordnete der Grünen, die über den Tag ihre Nein-Stimme zu März öffentlich gefeiert und ihre Wahlzettel gepostet haben. War das angemessen?
Nouripour: Dass wir Herrn Merz nicht wählen würden, haben wir ja nicht verheimlicht. Ich wünsche mir, dass wir uns weniger von Social Media treiben lassen. Übertriebene Selbstdarstellung wie ständige Skandalisierung tun dem gesellschaftlichen Diskurs nicht gut. Wir Abgeordnete sind Volksvertreter des ganzen Landes, keine Aktivisten. Am Ende des Tages sind wir alle darauf angewiesen, dass unsere Demokratie gestärkt wird. Und das geht nicht, ohne dass Regierung und Opposition eine gute Arbeit machen.
Im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien stehen wir Grünen für konstruktive Opposition. Das haben wir auch schon so gehalten, als Angela Merkel Kanzlerin war, etwa in der Finanz- oder der Euro-Krise. Auch manchen Auslandseinsätzen der Bundeswehr haben wir aus der Opposition heraus zugestimmt. Wir entscheiden nach Sachlage und aus Verantwortung für unser Land. Aus Prinzip immer Nein zu sagen, wenn die Regierung Ja sagt, ist noch keine sinnvolle Strategie.
WELT: Sie sind nun fast 20 Jahre Mitglied des Bundestags. Wenn man mal historisch ausgreift: Angela Merkel hat 2017 keine Jamaika-Koalitionen hingekriegt. Die Ampel mit Olaf Scholz (SPD) ist gescheitert vor einem halben Jahr. Und nun das Desaster mit Merz im ersten Wahlgang. Was sagt das eigentlich über die politische Mitte in Deutschland aus?
Nouripour: Dass wir sehr stark daran arbeiten müssen, miteinander konstruktiv nach Lösungen zu suchen, nicht in erster Linie über Parteifarben zu sprechen, sondern über das, was das Land braucht. Dazu gehört, dass alle, von ihren Positionen heraus argumentierend, am Ende auch bereit sein müssen, dem anderen die Hand zu reichen. Manchmal kann auch die Konkurrenz mit einer Idee recht haben. Sonst führen wir die parlamentarische Demokratie ad absurdum.
WELT: Früher hat man in der Opposition 100 Tage abgewartet, bis man über die neue Regierung hergefallen ist. Der neuen Regierung ist schon Versagen attestiert worden, bevor sie überhaupt ins Amt gekommen ist. Und zwar von der AfD bis hin zum grünen Stammtisch. Warum verrohen die Sitten?
Nouripour: Die 100-Tage-Regel ist sinnvoll, und es gehört zum Anstand, ihnen auch die Möglichkeit zu geben, sich zu sortieren. Wenn sie dann nicht liefern, werden wir sie daran messen. So gehört sich das. In gegenseitiger Wertschätzung. Ich habe Johann Wadephul beispielsweise als neuen Außenminister gelobt, weil ich weiß, dass er vom Fach ist.
WELT: Das gilt nicht für alle neuen Minister.
Nouripour: Allen sollte man Zeit geben, sich einzufinden. Das hat was mit Respekt zu tun. Am Ende geht es um Arbeitsergebnisse. Und ich hoffe sehr, dass diese Regierungskoalition ambitionierter ist als das, was sie bisher im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben.
WELT: Kommen wir mal zu Ihrem neuen Job. Sie sind im September zurückgetreten als Parteichef und jetzt zum Vizepräsidenten des Bundestags gewählt worden. Was bedeutet dieser Rollenwechsel persönlich?
Nouripour: Das Parlament als das Herz unserer Demokratie ist ein besonderer Ort. Nach all diesen Jahren gehe ich immer noch mit viel Ehrfurcht und Demut in den Plenarsaal. Das ist ein sehr ehrenvoller Job. Meine Aufgabe ist es, zum Schutz unserer Demokratie beizutragen. Als Präsidium leiten wir die Sitzungen im Plenum, achten auf die Würde des Hauses und sorgen für Ordnung.
Ich werde genau im Blick haben, dass man im Bundestag zivil miteinander umgeht. In den vergangenen Jahren ist der Respekt ein Stück verloren gegangen, maßgeblich betrieben von Rechtsaußen. Daneben unterstützen wir Vizepräsidenten die Bundestagspräsidentin in der Verwaltungsleitung. Ich werde beispielsweise der Baukommission vorstehen dürfen und mich um alle Liegenschaften und Bauprojekte des Bundestages kümmern.
WELT: Julia Klöckner (CDU), die neue Präsidentin, will bei strittigen Fragen zwischen den Fraktionen vermitteln. Damit meinte sie auch die AfD-Fraktion, die bei Ordnungsrufen und Rügen einen Rekord nach dem anderen bricht. Wie wollen Sie mit denen umgehen?
Nouripour: Wie mit allen anderen auch. Das gebietet die Geschäftsordnung. Unparlamentarisches Verhalten werde ich nicht dulden. Lautstärke ersetzt keine argumentative Stärke. Frei nach dem Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno: Den „differenzierten Widerspruch“ sollten wir uns erhalten, den Mangel an guten Argumenten nicht mit reiner Dezibel-Zahl übertönen.
WELT: Die AfD ist vergangene Woche vom Verfassungsschutz für gesichert rechtsextremistisch erklärt worden. Was folgt daraus? Ein Parteiverbot?
Nouripour: Wir sollten die Einschätzung des Verfassungsschutzes sehr ernst nehmen. Ich vertraue den demokratischen Institutionen. Über ein Verbot entscheidet weder der Bundestag noch die Bundesregierung oder der Bundesrat. Diese Institutionen können nur einen Antrag auf Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht stellen. Und dies sollten sie. Verfassungsorgane stehen in der Pflicht, die Verfassung zu schützen.
WELT: Ein Verbot ersetzt doch keine politische Auseinandersetzung, die Wähler verschwinden auch nicht.
Nouripour: Das ist doch kein Widerspruch. Selbstverständlich muss es auch darum gehen, die Köpfe der Menschen politisch zu erreichen und ihnen zu zeigen, dass die AfD keinerlei tragfähige Lösungen für die Zukunft unseres Landes hat. Aber in unserem demokratischen System darf es keine Parteien geben, die extremistisch gegen unsere Demokratie arbeiten. Vollkommen unabhängig von ihren Wahlergebnissen.
WELT: Ihr ehemaliger Parteifreund Boris Palmer hat an der Beurteilung des Verfassungsschutzes Zweifel, ihm reichen die öffentlich gewordenen Gründe nicht aus.
Nouripour: Auch das wird am Ende nach einem Prüfauftrag das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hervorragend beurteilen können.
WELT: Es ist nicht lange her, da stand der Verfassungsschutz wegen seiner ungeklärten Rolle bei der terroristischen Mordserie des NSU massiv in der Kritik. Vor allem von links. Woher kommt das neue Vertrauen in die Urteilskraft dieser Behörde?
Nouripour: Moment. Der Präsident hieß damals Hans-Georg Maaßen. Dessen Gang nach rechts außen ist bekannt. Der Verfassungsschutz heute ist anders, er steht heute fest auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese Kraft zur Erneuerung ist auch ein Ausdruck der Stärke unserer demokratischen Institution.
WELT: Die AfD konnte bei der Bundestagswahl ihr Ergebnis mit 20,8 Prozent im Vergleich zum 2017 verdoppeln. Im Osten liegt sie meilenweit vor der Union, zumindest bei der Bundeswahl. Welche Verantwortung für diesen Erfolg trägt die Ampel?
Nouripour: Eine große. Ich glaube, dass alle demokratischen Parteien sich fragen müssen, ob sie der AfD Vorschub geleistet haben. Innerhalb der Ampel haben wir in Krisenzeiten manchmal ausgesehen wie bei einer Kneipenschlägerei, statt Halt zu geben und Ruhe auszustrahlen. Das hat die Leute abgeschreckt. Dabei hat die Ampel substanziell sehr viel geleistet.
Für die politische Kultur des Landes allerdings haben wir eher Mondkrater geschlagen, und dort hat sich jetzt die AfD festgesetzt. Da sollten sich alle an die eigene Nase fassen. Die Stärke der AfD beginnt mit unseren Fehlern und unseren Schwächen, an denen sollten wir zuerst arbeiten.
Claus Christian Malzahn berichtet für WELT seit vielen Jahren über die ostdeutsche Politik und die Grünen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke