Polizei rüstet sich gegen „empathielose Pyroexzesse“
Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik-Meisel hat ihr erstes Silvester im Amt zum Jahreswechsel 2018/19 noch gut in Erinnerung. Das sei ein „größerer Einsatz“ gewesen, vor allem für die Feuerwehr. „Das hat sich aber komplett verändert“, sagt sie am Montag bei einem Gespräch mit Journalisten. Was die Polizeipräsidentin meint: Damals sei der Einsatz nicht flächendeckend eskaliert.
Seit September bereite sich die Polizei intensiv auf den Jahreswechsel vor. Bereits Anfang des Jahres habe man alle Hundertschaftsführer der vergangenen Silvester-Nacht an einen Tisch geholt, um Lehren aus den Eskalationen der vergangenen Jahre zu ziehen. Die erfahrenen Polizisten sollten ihre Erfahrungen schildern und vorschlagen, was sie am Einsatzkonzept ändern würden.
Ihre Analyse fiel ernüchternd aus: Pyroexzesse „mit zunehmender Empathielosigkeit“, ein klarer Schwerpunkt bei Kindern und Jugendlichen, eine deutlich erhöhte Zahl an Explosionen und immer mehr illegale, teils selbst gebaute Pyrotechnik. Die Täter handelten „ohne Rücksicht auf Verluste“ – sowohl für andere als auch für sich selbst.
Als Reaktion richtete die Polizei bereits im September die Zentralstelle Pyrotechnik ein, in der behördenübergreifend gearbeitet werden soll. Das Ergebnis: erhebliche Sicherstellungen von Pyrotechnik innerhalb kurzer Zeit. Slowik-Meisel zeigt sich einerseits erfreut darüber, was von der Straße geholt wurde. Andererseits herrsche auch Sorge daüber, „was da noch im Umlauf ist“.
Bislang wurden 49 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 14 Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Die Dimensionen sind erheblich: 147.000 sichergestellte pyrotechnische Gegenstände, darunter knapp 108.000 der besonders gefährlichen Kategorie F4, die eigentlich nur von gelernten Feuerwerkstechnikern gezündet werden dürfen. Frank Millert, Leiter LKA 3, berichtet von Jugendlichen, die Pyrotechnik horten. Bei einem wurden etwa 6,5 Kilogramm Netto-Explosivmasse gefunden. Die Motivlagen seien dabei durchaus heterogen, berichtet der erfahrene Polizist. So soll etwa ein Jugendlicher den Sprengstoff nur gehortet haben, um krasse Videos für die sozialen Netzwerke zu produzieren.
Millert verweist zudem auf „extrem schwierige Zuständigkeiten“ in Berlin. Für den Verkauf von Pyrotechnik seien in Berlin die Bezirksämter verantwortlich, die Polizei könne nur im Rahmen von Amtshilfe eingreifen. Alle Bezirke seien sensibilisiert worden, die Polizei hinzuzuziehen. Parallel liefen klassische Ermittlungen, auch mit Open-Source-Ansätzen im Internet.
Parallel wurden die präventiven Instrumente deutlich verschärft. Die Polizei will in diesem Jahr konsequent den Unterbindungsgewahrsam von bis zu fünf Tagen nutzen, insbesondere bei Personen, die mit großen Mengen oder besonders gefährlicher Pyrotechnik angetroffen werden, etwa selbst zusammengebauter. Um den Unterbindungsgewahrsam rechtssicher durchsetzen zu können, habe man ein kleines Team speziell geschult und dabei auch auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen. Im vergangenen Jahr wurde nur eine einstellige Zahl von Randalierern tatsächlich in Gewahrsam gebracht, auch deshalb, weil es teils an der Zustimmung zuständiger Richter gefehlt hatte.
Roman Seifert, Leiter der Landespolizeidirektion, beschreibt den Aufwand hinter den Kulissen. Allein in diesem Jahr wurden rund 400 Präventionstermine durchgeführt, Informationsbriefe, etwa für Elternvertreter an Schulen, in sechs Sprachen verfasst, 87 Gefährderansprachen vorgenommen (116 im Vorjahr). Hinzu kommen Social-Media-Kampagnen, 1200 Plakate und nächtliche Schwerpunkteinsätze.
150 zusätzliche Beamte seien derzeit jede Nacht unterwegs, das werde auf 200 aufgestockt, so Seifert. Insgesamt hat die Polizei rund 4300 Kräften im Dienst, davon 3300 zusätzlich zur normalen Organisation. Das ist in etwa auch die Größe, die jedes Jahr bei den Demonstrationen zum 1. Mai in der Stadt unterwegs ist. Erfahrene Beamte berichten, dass die Silvesternacht längst das Einsatzgeschehen rund um den 1. Mai abgelöst habe.
Operativ setzt die Polizei weiterhin auf Pyrotechnik-Verbotsbereiche – allerdings mit verändertem Ansatz. Einsatzleiter Stephan Katte erklärt, man habe aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre gelernt. Statt hermetisch abgeriegelter Bereiche werde nun dynamischer gearbeitet: Die Bereiche seien größer, es gebe weniger Gitter, dafür mehr mobile Kontrollen, gezielte Tascheninspektionen, Ausleuchtung dunkler Bereiche und flexible Zugriffseinheiten.
Am Alexanderplatz, im erweiterten Steinmetzkiez in Schöneberg, auf Teilen der Sonnenallee in Neukölln und an der Admiralbrücke in Kreuzberg sollen Exzesse so frühzeitig unterbunden werden. Die Annahme dahinter: „Man feiert Silvester nicht als reisender Tourist, sondern im eigenen Kiez.“ Täter sollen also bereits vor Ort gestellt und dingefest werden.
Deutlich präsent will die Polizei auch an vielen anderen Stellen sein, an denen es in den vergangenen Jahren heftige Böllerei und Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute gab: am Bahnhof Gesundbrunnen, in Gropiusstadt, in der High-Deck-Siedlung in Neukölln.
Kurz vor dem Jahreswechsel sollen auch 3000 Bodycams an die Berliner Polizei und Feuerwehr ausgeliefert werden. Voraussetzung war die Änderung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG), die das Berliner Abgeordnetenhaus Anfang Dezember beschlossen hatte. 2.300 der kleinen Videokameras sollen an die Polizei geliefert werden, 700 an die Feuerwehr. Laut Innensenatorin Iris Spranger (SPD) kostet die Anschaffung rund drei Millionen Euro. Die Kameras sollen in der Silvesternacht in Dienststellen in besonders exponierten Einsatzgebieten verwendet werden.
Zusätzliche Komplexität entsteht rund um das offizielle Veranstaltungsgeschehen am Brandenburger Tor. Für die offizielle Veranstaltung wurden 20.000 Tickets ausgegeben. Parallel existiert eine zweite Anmeldung („Rettet Silvester“) mit rund 16.000 Teilnehmern an der Siegessäule. Ursprünglich sei diese Veranstaltung mit 100.000 Menschen angekündigt worden, allerdings laut Polizei ohne ausreichendes Sicherheits-, Sanitäts- oder Ordnerkonzept. Zwischen beiden Veranstaltungen soll eine Pufferzone liegen. Ein durchgehender Rave vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule werde es entgegen den Angaben des Veranstalters nicht geben. Pyrotechnik ist dort vollständig untersagt, Drohnendetektion und Zufahrtsschutz sind zudem vorgesehen.
Polizeipräsidentin Slowik sagte, dass nahezu alle Menschen friedlich feiern wollen, doch um eine kleine, hochproblematische Gruppe müsse man sich „intensiv“ kümmern. Die Polizei habe die ganze Stadt im Blick – wissend, dass vollständige Kontrolle illusorisch bleibe. Verschärfend komme hinzu, dass die bundesweiten Verkaufszahlen von Feuerwerk steigen. Es werde gekauft, „als würde es nie wieder Silvester geben“.
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