Gut gelaunt empfängt Anwalt Tymoteusz Paprocki an einem Sonntagmorgen die Journalisten aus Deutschland in seiner Kanzlei nahe dem Hauptbahnhof von Warschau. Der 35-Jährige hat gerade in einer aufsehenerregenden Verhandlung vor dem Bezirksgericht der Stadt einen Erfolg errungen, der weltweit Beachtung fand. Sein Mandant Wolodymyr S., ein ukrainischer Tauchlehrer, soll nach Erkenntnissen des Generalbundesanwalts in Karlsruhe an der Sprengung der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 beteiligt gewesen sein.

Deshalb stellte der Bundesgerichtshof einen Europäischen Haftbefehl gegen den Mann aus und verlangt seine Auslieferung. Doch das Gericht entschied Mitte Oktober anders und folgte den Argumenten von Anwalt Paprocki. Es sah die Beweislage als unzureichend an und erklärte zudem, dass der Anschlag in internationalen Gewässern stattgefunden habe und als militärische Handlung und nicht als Straftat im klassischen Sinne zu werten sei.

Kurz nach der Entscheidung hatte Anwalt Paprocki gegenüber WELT das Gericht gelobt. „Es war eine mutige Entscheidung, die zugleich zeigt, wie das Recht in schwierigen Zeiten richtig verstanden und angewendet werden sollte.“ Beim Gespräch in seiner Kanzlei bekräftigt er seine Sichtweise und beteuert zudem, dass sein Mandant nichts mit der Sprengung zu tun habe.

Unabhängig davon sei der Bau der Röhren eine Entscheidung gegen europäische Interessen gewesen – und dennoch habe sich Deutschland dazu entschlossen, ukrainische Staatsbürger zu verfolgen. „Die Begründung ist, dass ein Anschlag auf deutsche kritische Infrastruktur verübt wurde. Das allein ist schon zweifelhaft. Deutschland betrachtet etwas als seine Infrastruktur, das einem anderen Land gehört, nämlich Russland. So etwas kann man sich wahrscheinlich nur in Deutschland ausdenken.“

Die Rechtsauffassung der deutschen Strafverfolgungsbehörden ist eine andere. Mit dem Anschlag im September 2022 wurde demnach die deutsche Energieversorgung sabotiert. Die Pipelines enden in Lubmin bei Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Nord Stream 1 gehört zu 51 Prozent dem staatlich kontrollierten russischen Energieunternehmen Gazprom. Nord Stream 2 ist über die Gazprom-Tochter-Gesellschaft Nord Stream 2 AG vollständig unter russischer Kontrolle.

Deutsche Ermittler sind verärgert und werfen Polen vor, einen Straftäter aus politischen Gründen zu decken. Das weist Anwalt Paprocki zurück. „Ich will betonen, dass Gerichte in Polen unabhängig sind, ich habe keinerlei politischen Druck gespürt, niemand hat versucht, Druck auf mich oder das Gericht auszuüben“, sagt er. Der Richter gelte als Experte für internationales und deutsches Recht und fälle seit Jahren Urteile zu Europäischen Haftbefehlen und zu Auslieferungsfällen. Er sei überaus kompetent.

Paprocki zeigt kein Verständnis für die deutschen Ermittlungen. In Zeiten, in denen die Ukraine Opfer eines russischen Angriffskriegs ist, wirke ein solches Vorgehen „merkwürdig“. Es entstehe der Eindruck, die Bundesanwaltschaft werde für politische Zwecke instrumentalisiert. Deutschland und Polen seien Partner in EU und Nato, betont er, verbündet durch gemeinsame Werte und rechtliche Standards. Umso irritierender sei der Verlauf der Ermittlungen. „Wer so agiert, wie es hier geschieht, fügt den Beziehungen Schaden zu – auch noch nach dem Bau der Nord-Stream-Pipelines.“

Sein Mandant, sagt Paprocki, sei nach dem Urteil ein freier Mann, arbeite als selbstständiger Unternehmer und kümmere sich um seine Familie. Er versuche, zu seinem normalen Leben zurückzukehren. Den deutschen Strafverfolgungsbehörden wirft er vor, Polen nur eine unvollständige Darstellung der Ermittlungsergebnisse übermittelt zu haben.

Ähnlich argumentiert auch Anwalt Nicola Canestrini, der einen zweiten ukrainischen Verdächtigen in dem Nord-Stream-Fall in Italien vertritt. „Wenn der Verteidigung die Akteneinsicht verwehrt wird, wenn über Haftbedingungen gelogen und über die militärische Natur der Taten geschwiegen wird, hört die Justiz auf, Wahrheit zu suchen – und dient nur noch der Macht“, hatte er WELT gesagt. Die Bundesanwaltschaft wirft seinem Mandanten, dem ehemaligen Offizier der ukrainischen Armee Serhii K., vor, zur Crew der in Rostock-Warnemünde gecharterten Segeljacht „Andromeda“ gehört zu haben, die verdächtigt wird, die Sprengsätze an den Gasröhren platziert zu haben. K. soll der Koordinator der Aktion gewesen sein, bestreitet jedoch eine Tatbeteiligung. Die Berliner Kanzlei Menaker, die neben Canestrini die Verteidigung von Serhii K. übernommen hat, legte laut einer Mitteilung beim Bundesgerichtshof Beschwerde gegen den Haftbefehl ein.

Entscheidung über Auslieferung

Ein Ermittler sagte WELT, dass er dennoch sicher sei, dass sich der Ukrainer bald in Deutschland verantworten muss. Ob das so eintreffen wird, entscheidet am Mittwoch das höchste Gericht Italiens, der Kassationsgerichtshof in Rom. Sollte er eine Auslieferung beschließen, kann Serhii K. innerhalb von zehn Tagen nach Deutschland überstellt werden. Bei einer gegenteiligen Entscheidung würde das Verfahren an das Berufungsgericht in Bologna zurückverwiesen werden.

„Der Fall wirft grundlegende Fragen für den Rechtsstaat in Europa auf: die Abgrenzung zwischen Kriegsakten und gewöhnlichen Straftaten sowie den Schutz der Grundrechte im Rahmen des Europäischen Haftbefehls auf“, erklärte Anwalt Canestrini. Sein Mandant ließ über die Berliner Kanzlei ausrichten: „Ich hoffe, dass die deutschen Gerichte sich nicht von politischen Erwägungen leiten lassen, sondern allein nach Recht und Gesetz entscheiden.“

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Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

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