Der Tag in Tabgha beginnt mit einem ersten Gang zum Ufer des Sees Genezareth. Noch bevor das Licht das Wasser in Muster teilt, schreiten Benediktinermönche leise zwischen Olivenbäumen zur Kirche. Eine Routine, die der biblischen Geschichte des Ortes verpflichtet ist. Die Brotvermehrungskirche steht im Zentrum des Ortes, ihren Boden bedeckt das berühmte frühchristliche Mosaik. Fische und Brote in einem Korb erzählen vom Wunder, als Jesus 5000 Menschen speiste. Der Alltag ist fest im Gebet und der Arbeit verankert.

Seit mehr als einer Dekade ist hier Nikodemus Schnabel, Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem und des Klosters Tabgha, zur prägenden Stimme der Christen geworden. In den Jahren nach dem schweren Brandanschlag im Jahr 2015 durch jüdische Radikale wurde das Kloster zum Treffpunkt für Menschen unterschiedlichster Herkunft: Juden, Muslime, Christen und Drusen kamen zusammen, um aus verbrannter Erde einen neuen Dialog wachsen zu lassen.

Schnabel setzt auf Präsenz und Begegnung. Er sucht den Kontakt zu Pilgern, spricht offen über Versöhnung und Feindesliebe – Themen, die am See Genezareth als handfeste Leitmotive gelten. Seine Gesprächspartner sind oft Menschen auf der Suche, in Tabgha finden sie eine Haltung.

Am Abend, die Hitze des Tages liegt noch immer schwül über den Ufern des Sees, sitzen fünf Nonnen still auf dem Steinstrand und teilen ihr Abendessen. Eine Szene, wie sie friedlicher nicht sein könnte. Die Felder und Hügel von Hattin liegen wenige Kilometer entfernt, karg, basaltgrau, kaum besucht. Schnabel steht am höchsten Punkt der Hörner, so heißt der Felssattel über der Hochebene, und schaut ins Land. Die Stille hier ist anders, wer die Geschichte kennt, für den sind die Erinnerungen mit großen Krisen durchsetzt.

Am 4. Juli 1187 brach hier das Christentum als Macht im Orient zusammen. Bis zu 25.000 Kreuzfahrer starben durch die Schwerter der muslimischen Übermacht oder verdursteten in der Sonne. Sultan Saladin besiegte das Kreuzritterheer.  Der Ort bleibt ein Mahnmal für Überheblichkeit und militärisches Versagen. 

Inzwischen finden sich hier nur noch selten Archäologen und gelegentlich Neugierige. Die Geschichten sind zerfressen von Hitze und Wind, der Mythos klein geworden. Aber Hattin als Symbol lassen jene aufflammen, die historische Feindbilder zur Erklärung aktueller Probleme nutzen. So wie Pete Hegseth, Verteidigungsminister der USA, der einen erneuten Waffengang des Christentums glorifiziert.

Heute verlange die Situation keine neuen Kreuzzüge, sagt Schnabel. Die Konflikte der Region ließen sich nicht durch alte Muster von militärischer Eroberung oder religiöser Überhöhung lösen. Gebraucht werde ein zeitgenössisches Verständnis von Rittertum. Nicht der bewaffnete Kämpfer, sondern der Streiter für Verständigung, Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Minderheiten.

„Moderne Ritterlichkeit äußert sich in zivilem Engagement, interreligiöser Vermittlung sowie im Eintreten für friedliche Koexistenz – und widersetzt sich damit der Versuchung, alte Feindbilder und identitätspolitische Klischees fortzuschreiben“, sagt Schnabel. „Entscheidend ist die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Brücken zu bauen und sich der komplexen Realität aktiv und besonnen zu stellen.“

Taybeh, zwei Stunden südlich im Westjordanland gelegen, ist das letzte vollständig christliche Dorf der Region. Hier trifft Nikodemus Schnabel auf Basher Fawadleh, den örtlichen katholischen Pfarrer. Bereits im Neuen Testament erscheint das Dorf als „Ephraim“. Der Name Taybeh soll der Legende nach von Saladin stammen, der Gesandten aus Ephraim gesagt habe, „ihr seid Taybeh, die Guten“. Heute leben hier griechisch-orthodoxe, römisch-katholische und griechisch-katholische Christen und halten ein gemeinschaftliches Gemeindeleben aufrecht.

Über Jahre musste Taybeh Übergriffe und Brandstiftungen durch radikale jüdische Siedler ertragen – Häuser, Autos, Felder sind stets in Gefahr, die Angst gehört zum Alltag und die israelischen Sicherheitsorgane lassen es geschehen.

Pfarrer Fawadleh steht mit seinem Gast auf dem Friedhof des Ortes, schaut über die Olivenhaine, die die Siedler verwüstet haben. Er glaube nicht, dass die jüngste einseitige Anerkennung Palästinas durch einige westliche Länder etwas bringe. „Die Menschen hier merken keinen Unterschied, nur die Führung in Ramallah steht gut da.“ Seine Ausblicke auf die Zukunft der Christen wirken wie schwarze Wolken am blauen Himmel über dem Westjordanland. Doch die Gemeinde gibt nicht auf.

Als im Sommer 2025 erneut die Gewalt eskalierte, Brände gelegt, Einwohner mit Eisenstangen angegriffen wurden, kamen zuerst der Lateinische und der Griechische Patriarch von Jerusalem zum Solidaritätsbesuch, später auch der deutsche Außenminister Johann Wadephul. Weitere Diplomaten gaben sich die Klinke in die Hand. Das kleine Taybeh wurde weltweit zum Inbegriff für die Verwundbarkeit der Christen. Jede Feier in der im 4. Jahrhundert geweihten Kirchruine ist nun ein Zeichen: Die Gemeinde ist noch da.

In den Jahrhunderten nach Christus war der Nahe Osten eine Keimzelle des Glaubens. Christen wurden zur größten religiösen Gruppe, dann zur Minderheit. Die muslimische Eroberung im 7. Jahrhundert, die Kreuzzüge, später die Zeit unter Osmanen und Briten – um 1900 gab es im Heiligen Land rund zwanzig Prozent Christen, heute sind es auf israelischem Staatsgebiet knapp zwei Prozent, in den palästinensischen Gebieten weniger. Ein Mix aus politischen Marginalisierungen, gewaltsamer Vertreibung und Auswanderungen ist Ursache und Folge zugleich.

Nikodemus Schnabel, geboren 1978, ist einer der profiliertesten Kirchenvertreter im Heiligen Land. Mit 13 konvertierte der Sohn einer Künstlerfamilie zum Katholizismus, studierte Theologie in Fulda, München, Münster und Jerusalem, wurde Benediktiner in der Dormitio-Abtei. Sein Aufstieg war geprägt von kommunikativer Stärke. Seit 2013 ist er Priester, 2023 folgte die Wahl zum Abt. Eine Position, die einem Bischof gleichgestellt ist.

Seine Rolle reicht weit über die Klostermauern hinaus. Als religionspolitischer Berater im Auswärtigen Amt, Vermittler und Lobbyist setzt er sich für Schutz und Sichtbarkeit der Christen ein, mit einer seltenen Offenheit für unbequeme Dialoge zwischen Religion und Realpolitik. Er sagt: „Ich bin weder pro-Israel noch pro-Palästina, sondern pro-Mensch.“ In Zeiten von Gewalt, Krieg und Unsicherheit ist das mehr als eine Formel. Sein Engagement sorgt dafür, dass die Sanierung der Dormitio-Abtei in Jerusalem zum Förderprojekt der Bundesregierung wird, er stößt Diskurse in Berlin, Jerusalem und Brüssel an.

Schnabel beobachtet und trägt seine Erkenntnisse dorthin, wo er glaubt, dass sie gebraucht werden. Er hat das Ohr des Bundeskanzlers, des Außenministers, des Bundestagspräsidiums und vieler anderer im politischen Betrieb.

Beschäftigt man sich mit dem Heiligen Land, wird eines zur Gewissheit: Die Orte, die Geschichten und Personen sind untrennbar verwoben. Tabgha, Hattin, Taybeh – sie stehen für Erfahrung von Verwundung, Standhalten, Dialog und Alltagsstärke. Das Christentum ist im Heiligen Land oft gefährdete Realität. Und doch wird weiter gebetet, gefeiert, gestritten, Versöhnung gesucht.

Abt Nikodemus Schnabel scheint unverzichtbar. Er steht für eine neue Generation, die nicht im Rückzug verharrt, sondern die christliche Stimme präsent hält. Er ist damit nicht alleine. Pierbattista Kardinal Pizzaballa, der Lateinische Patriarch von Jerusalem, ist sein internationales Pendant. Der Kardinal hatte sich nach dem 7. Oktober 2023 der Terrororganisation Hamas als Austauschgeisel für entführte Kinder angeboten.

Für Pizzaballa und Schnabel gilt: Beide setzen nicht auf das Pathos der Vergangenheit, sondern auf nüchterne Beharrlichkeit. Damit das Christentum im Heiligen Land nicht zu einer Art Disneyland wird, das nur von professionellen Christen wie den Mönchen in den heiligen Stätten betrieben wird – sondern das „lebendige Steine“ weiter in und an den Orten der Bibel leben und Zeugnis ablegen.

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