In Deutschland ist sie erlaubt, in Österreich seit dem 1. August verboten – die Heirat von Verwandten bis einschließlich vierten Grades: Cousin und Cousine, Onkel und Nichte, Tante und Neffe. Das Verbot solle vor Zwang und Abhängigkeit schützen, sagen die einen – Kritiker nennen es eine unzulässige und rassistische Einmischung des Staates.

Anfang 2025 richtete die AfD eine schriftliche Frage an die Bundesregierung, in der sie sich danach erkundigte, wie viele Heiraten es innerhalb einzelner Familien in Deutschland seit 2015 bis heute gab – aufgeschlüsselt nach Verwandtschaftsgrad, Staatsbürgerschaften und Migrationshintergrund. Die Antwort: Derartige Daten lägen der Bundesregierung nicht vor.

Aber was sind überhaupt die Motive dahinter, ein Familienmitglied zu heiraten? Gibt es Bevölkerungsgruppen, in denen diese Praxis besonders verbreitet ist? Und wie groß sind die dabei entstehenden gesundheitlichen Risiken für möglichen Nachwuchs?

Einer der Hauptgründe für eine Verwandten-Ehe sei Wohlstandswahrung, erklärt Julia Pauli, Professorin am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg: „Das kann man gut an Heiraten in europäischen Königshäusern und unter Adligen beobachten: Es herrscht der Wunsch vor, eine Gruppe homogen zu halten und damit auch den Besitz und Status zu sichern.“

Ein weiterer Grund sei, besonders für Frauen, soziale Sicherheit: „Es gibt viele ethnologische Studien dazu, dass es für Frauen schwierig bis gefährlich ist, durch eine Heirat in Kontexte zu gelangen, in denen sie Fremde sind. Eingeheiratete Frauen, die keine Verbindung zu den anderen Familienmitgliedern haben, sind oft vulnerabel“, so Pauli.

Häufiges Phänomen in Heimatdörfern

Mahmoud Jaraba ist Politikwissenschaftler und arbeitet am Forschungszentrum Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter anderem zu Großfamilien. Er erklärt: „Verwandten-Ehen sind in arabischen und nahöstlichen Familien weitverbreitet. Deren Beliebtheit nimmt aber seit 20 bis 30 Jahren ab.“

Das liege vor allem an der wachsenden Mobilität: „Früher lebten die Menschen in kleinen Dörfern. In unserem Dorf zum Beispiel gab es nur zwei Großfamilien – die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der eigenen zu heiraten, war dementsprechend groß“, sagt Jaraba, der aus dem Westjordanland stammt. Heute sei das anders: Durch soziale Medien und mehr Wegzüge für Studium oder Arbeit lernten die Menschen leichter Partner außerhalb der eigenen Gruppe kennen.

Auch in Deutschland habe die Popularität von Verwandten-Ehen unter arabischen und nahöstlichen Familien nachgelassen – wenn auch weniger stark, erklärt Jaraba weiter. Viele Familien hätten Probleme bei der Integration gehabt und seien deswegen bei dem ihnen altbekannten Heiratsmodell geblieben. „Es gibt Forschung aus den 1990er-Jahren über libanesische Familien in Berlin mit dem Ergebnis, dass fast 95 Prozent der Ehen zwischen Mitgliedern der gleichen Gemeinschaft geschlossen wurden. Die Idee dahinter war, dass sich die Ehepartner kennen und ihre Loyalität zueinander klar ist – die Sorge, dass eine Ehe außerhalb dieser Strukturen zu Problemen führen könnte“, so Jaraba.

In den Großfamilien, die ursprünglich aus der türkischen Region Mardin stammen und mittlerweile in Deutschland leben, würden heute noch etwa 50 bis 65 Prozent der Ehen innerhalb der eigenen Verwandtschaft oder im erweiterten Familiennetzwerk geschlossen, sagt der Politikwissenschaftler. Er erforscht diese Familien seit vielen Jahren. Das lasse sich aber nicht ohne Weiteres auf alle Familien aus dem arabischen Raum oder dem gesamten Nahen Osten übertragen.

Besonders die, die in Deutschland geboren und sozialisiert worden seien, lehnten diese Form der Ehe zunehmend ab: „Junge Menschen definieren sich weniger als Teil dieser Verwandtschaftsstrukturen, wollen unabhängig davon heiraten und sich auch dem Stigma nicht aussetzen. Ein weiteres Problem für sie sind genetische Probleme.“

Er habe für seine Forschung selbst mehrere Familien mit drei oder vier schwerbehinderten Kindern besucht, erzählt Jaraba. Das fachliche Wissen darüber habe zugenommen. Manchmal setzten ihre Familien die jungen Erwachsenen dennoch unter Druck: „Eine Hochzeit kostet manchmal zwischen 70.000 und 100.000 Euro. Allein kann sich das niemand leisten. Die Familie muss also zahlen – und hat damit das letzte Wort über den Ehepartner.“

„Das ist kein relevant erhöhtes Risiko“

Der Humangenetiker und Medizinethiker Wolfram Henn bietet genetische Beratungen an. Er erklärt, ausschlaggebend seien die sogenannten rezessiven Erbanlagen. Diese allein machten nicht krank – Eltern mit der gleichen Anlage könnten aber ein krankes Kind bekommen, es sei eine Frage der Kombination, erklärt Henn.

„Wenn in der Familie keine rezessiven Krankheiten bekannt sind, haben Cousin und Cousine ersten Grades etwa zwei Prozent Risiko für ein Kind mit rezessiver Erbkrankheit. Für eine angeborene Behinderung oder Krankheit liegt das Risiko für alle Paare bei drei bis vier Prozent. Das ist kein relevant erhöhtes Risiko“, führt er aus. Wenn das erste Kind allerdings schon eine rezessive Krankheit habe, liege das Risiko bei jedem weiteren Kind bei 25 Prozent.

Mittlerweile könne auf mehr als 600 rezessive Erbkrankheiten getestet werden, erklärt Henn, was international unterschiedlich gehandhabt werde. In den Vereinigten Arabischen Emiraten beispielsweise werde seit einiger Zeit ein Gentest vor der Hochzeit vorgeschrieben, weil die erbliche Blutbildungsstörung Thalassämie so weit verbreitet sei.

Auf Zypern seien diese Tests ebenso zumindest vor kirchlichen Heiraten verpflichtend. In Israel wiederum gebe es vor Eheschließungen freiwillige, kostenfreie Screening-Angebote zu bestimmten in Fachkreisen „Jewish Diseases“ genannten rezessiven Krankheiten, die überdurchschnittlich häufig unter Juden vorkämen.

„Ich habe immer wieder den Fall, dass aus der Verwandt- oder Nachbarschaft Kritik an einer Partnerschaft unter Blutsverwandten kommt und die dann nach medizinischer Rückendeckung für ihre Beziehung suchen“, sagt Wolfram Henn. Für die Tabuisierung von Verwandten-Ehen sehe er zwei Gründe: „Der eine ist medizinisch biologisch – bei allen höheren Lebewesen trägt die Natur durch diverse Tricks Sorge, dass Geschwister sich nicht fortpflanzen. Der andere Grund ist kulturell und hat etwas mit der Vermeidung von Missbrauch zu tun. Die Familie in sozialer Definition soll so als sexualitätsfreier Raum erhalten werden.“

Dass die Verwandten-Ehe emotional so polarisiere, habe einen einfachen Grund, erklärt Ethnologin Pauli: „Beim Thema Familie fühlen wir uns alle wie Experten, weil wir alle eine Familie haben.“ In der Wissenschaft werde zwischen zwei Heiratsprinzipien unterschieden: Entweder werde definiert, wen man idealerweise heiratet – den Cousin oder die Cousine zum Beispiel. Oder es werde, wie in den meisten westlichen Gesellschaften, definiert, wen man besser nicht heiratet. „Wenn diese zwei Prinzipien aufeinanderprallen, entstehen normative Debatten. Dazu gehören auch Fragen wie: Finden wir es in Ordnung, wenn der Chef die Angestellte heiratet?“

„In Österreich wurde nicht Sexualität zwischen Cousin und Cousine verboten – sondern die Heirat. Es geht also um die Entziehung von Rechten, und das ist ein problematischer rechtspopulistischer Vorstoß“, so Pauli. Das Rollenverständnis, das viele heute in Bezug auf Familie und Ehe hätten, sei eine bürgerliche Konstruktion, die im 19. Jahrhundert in dieser Form entstanden sei – „das als jahrhundertealte Tradition zu imaginieren, ist aus wissenschaftlicher Perspektive fragwürdig“.

Politikwissenschaftler Jaraba sagt, er zweifle schlicht am Effekt eines Verbots: „Wenn die Ehe zwischen Cousin und Cousine morgen in Deutschland verboten wird, wird das diese in der Praxis nicht unterbinden. Die Ehe würde dann vor einem Imam oder Familienoberhaupt geschlossen, ohne bei einem Standesamt angemeldet zu werden.“ Für sinnvoller halte er verstärkte Aufklärung, wobei er ohnehin davon ausgehe, dass die Popularität von Verwandten-Ehen in Zukunft weiter abnehmen werde.

Auch Genetiker Henn sagt, er halte ein Verbot für kritisch: „Ein junges blutsverwandtes Paar trägt ein Zusatzrisiko von etwa zwei Prozent dafür, dass das Kind eine genetisch bedingte Behinderung hat – eine 42-jährige, also überdurchschnittlich alte Schwangere ebenso. Wir kämen aber nie auf die Idee, einer Frau über 42 ihren Kinderwunsch abzusprechen.“ Dasselbe gelte für Menschen mit vererbbaren Krankheiten oder Behinderungen.

Marko Oldenburger, Fachanwalt für Familienrecht und Mitglied im Gesetzgebungsausschuss Familienrecht im Deutschen Anwaltverein, erklärt: „Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt Ehe und Familie unter besonderen staatlichen Schutz. Es gilt die Eheschließungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht schränkt den Gesetzgeber daher ein, dem Wunsch zweier ehefähiger Personen, miteinander die Ehe einzugehen, Grenzen zu setzen.“ Er gehe davon aus, dass eine Erweiterung der Eheverbote auf entferntere Verwandte in Deutschland die Eheschließungsfreiheit verletzen würde – und verfassungsrechtlich nicht möglich wäre.

Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke