„Europa zahlt den Preis für ihre Wahnvorstellungen“ – Merkels Aussagen zu Polen lösen Empörung aus
Es sind nur ein paar Sätze, aber sie lösten ein kleines Beben in Osteuropa aus: In einem Interview mit dem ungarischen Onlinemedium „Partizán“ hat Angela Merkel ihre Sicht auf die Vorgeschichte des Kriegs in der Ukraine erläutert, WELT hatte berichtet.
Vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hätte sie sich, so die damalige Bundeskanzlerin (CDU), einen engeren Dialog der EU mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gewünscht. Sie habe im Sommer 2021, zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein neues Gesprächsformat angestrebt, „dass wir mit Putin direkt als Europäische Union sprechen“, sagte Merkel in einem Interview des ungarischen Portals „Partizán“.
Sie habe damals gespürt, „dass das Minsk-Abkommen nicht mehr ernst genommen wird“. Das Aushandeln des Minsker Friedensabkommens sei richtig gewesen, „nur wir hatten dann in Corona eben keinerlei Möglichkeit mehr, uns mit Putin direkt auszutauschen, und das war sehr schlecht für die weitere Entwicklung“, sagte Merkel. Das Abkommen war 2015 geschlossen worden mit dem Ziel, die damals bereits herrschenden Kämpfe in der Ost-Ukraine zu beenden.
Dann folgt eben jene Erläuterung, die nun im Baltikum für Proteste sorgt. Direkte Gespräche der EU mit Putin seien damals, so führt die Ex-Kanzlerin weiter aus, „von einigen nicht unterstützt“ worden, „das waren vor allen Dingen die baltischen Staaten, aber auch Polen war dagegen, weil sie Angst hatten, dass wir keine gemeinsame Politik gegenüber Russland haben“.
Ihre Meinung damals wie heute sei, so die 71-Jährige weiter: „Wir müssen dann eben daran arbeiten, eine gemeinsame Politik zu haben. Auf jeden Fall ist es nicht zustande gekommen, und ja, dann bin ich aus dem Amt geschieden, und dann hat die Aggression Putins begonnen. Wir werden heute nicht mehr klären können, was gewesen wäre, wenn“.
Estlands Außenminister: Aussagen unverschämt und falsch
Estlands Außenminister Margus Tsahkna wies die Aussagen von Merkel als „unverschämt“ und „falsch“ zurück. Der Grund für Russlands umfassende Aggression sei Putins Unfähigkeit, den Kollaps der Sowjetunion zu akzeptieren, sowie der frühere Wunsch der westlichen Länder, mit Putin zu verhandeln und seine Taten zu ignorieren, sagte er in einer Mitteilung des Außenamtes in Tallinn. So seien weder der Krieg in Georgien 2008 noch Russlands Annexion der Krim 2014 auf starke Reaktionen gestoßen.
„In unserer Region wurde Russlands wahre Natur schon früh erkannt, und es wurde vor den von Russland ausgehenden Gefahren gewarnt. Die große Mehrheit der westlichen Welt zog es jedoch vor, dies zu ignorieren“, sagte Tsahkna.
Deutschland habe unter Merkels Führung zudem die Kosten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland falsch eingeschätzt und durch die Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline dazu beigetragen, von Russland energieabhängig zu bleiben.
Interview während Besuch in Ungarn
Auch in den beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen wurden die Aussagen Merkels kritisch aufgefasst. Das Gespräch mit einem Journalisten von „Partizán“ wurde bereits vor einigen Tagen online veröffentlicht, bisher wurde es über 400.000 Mal abgerufen.
Der ehemalige Außen- und Verteidigungsminister Lettlands, Artis Pabriks, schrieb auf X: „Das Problem mit solchen Aussagen von Merkel ist, dass sie nach dem Drehbuch des Kremls spielt, um dessen Agenda voranzutreiben, die Europäer zu spalten und zu fragmentieren und uns gegeneinander aufzubringen. Sie klingt wie eine russische Einflussagentin.“
Lettlands EU-Politiker Rihards Kols kritisierte die Altkanzlerin ebenfalls scharf auf X: „Angela Merkel macht die baltischen Staaten und Polen für Putins Krieg verantwortlich – das ist mehr als absurd, es ist unverschämt. (...) Vielleicht ist ernsthafte Selbstreflexion – und nicht Geschichtsrevisionismus – angebracht. Denn Europa zahlt den Preis für ihre Wahnvorstellungen.“
Merkel hielt sich am 1. Oktober in der ungarischen Hauptstadt Budapest auf, um dort für die ungarische Übersetzung ihrer Memoiren zu werben.
Eine Sprecherin Merkels teilte am Montag auf Anfrage mit, die Aussagen der früheren Kanzlerin seien „nicht neu“. Bei einer Veranstaltung im Juni 2022 habe sie sich bereits entsprechend zur Lage im Juni 2021 geäußert. Die Haltung der baltischen Staaten und Polen zu einem Dialog mit Putin erwähnte sie damals aber nicht.
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