Robert Habecks neue Talkshow „Habeck live“ im Berliner Ensemble war sofort ausverkauft, einige Interessierte hoffen noch kurz vor Gesprächsbeginn am Kassenhäuschen auf Rest-Tickets für das volle Haus, wo sich ein in die Defensive geratenes, ratsuchendes Milieu versammelt. Gekommen sind die Zuhörer, um zu sehen, wie zwei mit einer progressiven Koalition gescheiterte Politiker – neben Habeck der Ex-Verkehrsminister Volker Wissing (ehemals FDP) – und die ehemalige ARD-Sonntags-Talkerin Anne Will über die Frage diskutieren: „Brauchen Demokratien den Notfall?“

Diese von Habeck gewählte Leitfrage zielt nicht nur auf eine von ihm konstatierte Krise der liberalen Demokratie; sie ist auch Arbeit an Habecks Vermächtnis als Ampel-Wirtschaftsminister. Vorbild für Habecks „Demokratie-im-Notfall“-Szenario ist sein eigenes Wirken in der von Russland ausgelösten Gas-Krise im Winter 2022/2023. Unter Habeck hat Deutschland damals im Rekordtempo Flüssiggasterminals gebaut und die Weichen für einen stark beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien gestellt. Seine Frage bedeutet also: Geht echte Veränderung nur unter maximalen Krisendruck – und wenn ja, wie verwandelt man die Krisen der Gegenwart in politische Aktion?

Ergründen will Habeck das mit einem Verbündeten aus Ampel-Zeiten und einer Frau, die seine Demokratie-Krisen-Analyse über Diskurs-Verrohung rechtsextreme Bedrohungen im Inland, von außen durch Putin und US-„Tech-Bros“ mit ihren sozialen Netzwerken zwar teilt. Aber gleichzeitig auch: immer wieder Habeck widerspricht, schon in dessen grundlegender Prämisse. So sagt Will zur Gas-Krise: „Was sich da gezeigt hat, war nicht ‚Handlungsfähigkeit der Demokratie‘, sondern einfach schlicht die Handlungsfähigkeit einer Regierung, was ich als Bürgerin und Bürger, was unsere Gesellschaft einfach mal erwarten durfte“.

Bleibt die Frage: Warum sind Regierungen dann nicht immer derart handlungsfähig, gerade bei den großen Fragen wie Staatsmodernisierung, Infrastruktur, Rente? Habeck fährt in seiner Analyse eingangs zunächst da fort, wo er zuletzt bei Markus Lanz aufgehört hat: Er beklagt, dass Grünen-Politiker und auch die aller anderen Parteien intern unter Druck stünden, stets „reine Farbenlehre“ zu vertreten und daher kaum kompromissfähig seien. Die Mechanismen der Talkshow-Republik besorgten in dieser Lesart das Übrige. „Ich darf Ihnen sagen, der GAU für jeden in Ihrer Sendung ist“ – und auch in sonst allen Talkshows sei – „in der Sendung dem politischen Wettbewerber recht zu geben“ – spätestens beim Gang zurück in die eigene Fraktion, die so etwas überhaupt nicht goutiere, insinuiert Habeck.

Wissings Vorwurf an die FDP

Volker Wissing nickt zustimmend und ergänzt, dazu komme das Problem, um jeden Preis in jeder Diskussion ein Alleinstellungsmerkmal der eigenen Partei zu Profilierungszwecken zu suchen. Zum Beispiel sei man sich in der Ampel in Ukraine-Fragen grundlegend einig gewesen, bis einzelne Politiker ohne Not eine Debatte über Detail-Fragen der Lieferung einzelner Waffengattungen eröffnet hätten. Der Unterscheidbarkeit wegen, weil sie Einigkeit kaum aushielten, gibt Wissing zu verstehen.

Seiner ehemaligen Partei attestiert Wissing, der im kommenden Jahr ein Buch über Verantwortung veröffentlichen will, dazu ein noch grundlegenderes Verantwortungsproblem. Seiner Analyse nach funktioniert die sogar einmal wiedergewählte Ampel in Rheinland-Pfalz auch deshalb, weil auch die liberalen Beteiligten sich zum Gelingen und daher zum Kompromiss verpflichtet sähen – also Verantwortung zu übernehmen bereit seien. „Nach meiner Beobachtung war das im Bund nicht so“, sagt Wissing. Das Gelingen sei dort lediglich eine „Option“ unter anderen gewesen.

Aus ihrer Ampel-Zeit arbeiten Wissing und Habeck, die sich duzen, dann verschiedene Lösungsansätze heraus. Habeck gibt zu verstehen: Die Abwesenheit einer – in seinen Augen – dysfunktionalen Öffentlichkeit, die in knalligen Überschriften vor allem Streit und einfachen Populisten-Botschaften belohne, ist hilfreich. Habeck macht das an der geräuschlos zwischen ihm und Wissing gelungenen Reform des Straßenverkehrsgesetzes fest. Es gibt Kommunen mehr Freiraum, die Schlagzeilen beherrschte es nie.

Dann geht Habeck Will frontal an

„Meinen Sie, Frau Will“, schießt Habeck wie auswendig vorbereitet in Richtung der ehemaligen Talk-Gastgeberin, „es wäre es möglich gewesen, dass zwei Minister eine Einigung hinbekommen in der Sache, wenn es darüber eine Talkshow gegeben hätte?“ Er meint offenkundig: Ziemlich sicher nicht. Das Publikum lacht: Will weist zurück. Aufgabe von Journalisten sei nicht, die Regierung bei der Kompromissfindung zu unterstützen.

Aber auch Wissing trägt Habecks Medienkritik nicht vollends mit. Stattdessen kommt der liberale Protestant immer wieder auch auf die Verantwortung des Einzelnen zurück, betont etwa: Das Straßenverkehrsgesetz habe er Habeck in Gegensatz zu anderen Ministern nicht als Katalog von FDP-Maximalforderungen vorgelegt, sondern grüne Einwände mitbedacht.

Und er sagt, allgemeiner auf die Gesellschaft bezogen: „Wir müssen uns gegen diese Empörungskultur wehren. Da kann jeder etwas selbst tun. Man kann das im Gespräch mit Freunden und Verwandten und mit den eigenen Kindern machen, indem man sagt, man kann sich gerne aufregen – aber erst einmal mit der Sache beschäftigen“.

Hier widerspricht dann wiederum Habeck: Die Realität der auch algorithmisch in die Dauererregung gesteigerten medialen Wirklichkeit sei wirkmächtiger, als es ein mahnendes Gespräch mit den eigenen Kindern sein könnte. Habeck hatte im Wahlkampf immer wieder auch europäische Alternativen zu US- und chinesischen Kommunikationsplattformen gefordert, aber darauf kommt er an diesem Nachmittag im Theater nicht zu sprechen. Stattdessen bringt er immer wieder seine Frage in Stellung, wiederholt oft in Variationen: Brauchen Demokratien nun den Notfall? Es wird im Laufe der zwei Gesprächsstunden auch immer klarer, wie er das meint.

„Europa unter Angriff“ als Chance

Was wäre, so Habeck, wenn alle „demokratischen Politiker“, wie es auf dieser Bühne heißt, jetzt einfach immer sehr deutlich aussprechen würden, dass „Europa unter Angriff steht“? Könnte so „ein Gefühl von Dringlichkeit“ entstehen, sodass „die vielen kleinen Logiken, die den Laden auseinandertreiben“ – das parteipolitische Profilieren, die Verantwortungslosigkeit einzelner Politiker, die Medienlogik – „überwunden werden können“? Gas-Krise und LNG-Terminals lassen, wieder mal in dieser Runde, grüßen. Aber so richtig kommen sie dabei nicht zusammen.

Für Wissing bleibt gelingende Politik auch, als es auf das Ende zugeht, zuerst eine des Anstands, der Selbstdisziplinierung und des „Respekt vor Institutionen“ als eine der Notfallrhetorik: „Demokratie braucht jedenfalls Regeln und sie braucht auch Bürgerinnen und Bürger, die sie schützen und die keine Tabu-Brüche unterstützen wie etwa die Geschichte bei der gescheiterten Wahl der Verfassungsrichterin.“ Derartige „Tabu-Brüche sind schlimm, weil sie Zersetzungsbeiträge leisten.“

Anne Will verweist auf den Wahlkampf der gescheiterten US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, die exakt so argumentiert habe, wie Habeck es vorschlage: „Wir sind die Guten der Welt und ansonsten droht euch Übles.“ Damit habe Harris aber verloren, weil sie übersehen habe, dass die Wähler Inflation mehr umtreibt als etwaige Demokratiegefährdungen. Wills Antwort ist, dass man die Krisen auch ansprechen, aber die Fragen der Lebenswelt zuerst beantworten sollte.

Sie fragt sich aber auch: Muss man überhaupt noch jemanden einbläuen, dass die Lage „wirklich krisenhaft“ ist „bis hin zum Notfall“? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand hier heute sitzt und noch rätselt über den Zustand der Welt“, sagt Will. Und dabei habe die Runde „noch gar nicht gesprochen davon, wie Deutschland inzwischen wählt und was da zum Ausdruck gebracht werden soll. Das ist der Angriff auf unser System. Das sind die Zersetzungsbemühungen.“ Offenkundig meint Will das Erstarken der AfD. „Dagegen muss man natürlich, das haben wir jetzt verschiedentlich gesagt, aufstehen; sagen: Das darf nicht sein“, sagt Will. Nur: auch sie sei „nicht mehr sicher, ob uns das gelingt. Aber... es muss gelingen, weil sonst... weiß ich auch nicht“, sagt sie stockend. Das Publikum lacht.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.

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