„Stählernes Stachelschwein" - Jetzt zeigt die Ukraine, welche Karten sie ausspielen kann
„Eine große Veränderung, ein game changer“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskeyj nach seinem Treffen mit US-Amtskollegen Donald Trump am Rande der UN-Vollversammlung am Dienstag in New York. Dies war keine Übertreibung, denn Trump ist vom bisherigen Narrativ des Weißen Hauses abgerückt, das er seit seinem Amtsantritt im Januar bei jeder Gelegenheit gepredigt hatte. Die Ukraine ist nun keine Nation mehr „ohne Karten“, die im Krieg mit dem übermächtigen Russland verloren ist und unbedingt Gebiete abtreten muss.
Stattdessen glaubt Trump, Kiew könne den russischen „Papiertiger“ mit seinen immensen ökonomischen Problemen besiegen. Und selbst die von Russland besetzten Territorien könne die Ukraine zurückgewinnen und das Land „in seiner ursprünglichen Form“ wiederherstellen, wie der US-Staatschef auf seiner Medienplattform Truth Social schrieb.
Es ist ein radikaler Sinneswandel, den kaum jemand erwartet hätte. Wie der zustande kam, ist unklar. Und wie lange er anhalten wird, sei dahingestellt. Aber ein Abkommen, das den Ukraine-Konflikt beendet, ist damit erst einmal in weite Ferne gerückt. Statt Frieden, den der US-Präsident „innerhalb von 24 Stunden“ hatte stiften wollen, wird der Krieg fortgeführt und dürfte weiter eskalieren. Letztendlich entspricht dies den Interessen Russlands, aber auch denen der Ukraine. Denn beide Staaten scheinen davon auszugehen, den Abnutzungskrieg für sich zu entscheiden.
Moskau wird wie zuvor auf neue Offensiven seiner Armee entlang der gesamten Frontlinie setzen und dies ungeachtet, wie hoch die Verluste unter seinen Soldaten auch ausfallen mögen. Ein wichtiger Bestandteil bleiben wohl ebenfalls die Drohnen- und Raketenangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine, was sich aus der Statistik des laufenden Jahres ablesen lässt. Der Kreml hat seine Angriffe kontinuierlich gesteigert. Im Januar zählte das Center for Strategic and International Studies (CSIS) pro Tag noch zwischen 70 bis 80 Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen. Im September waren es schon über 800, die ukrainische Städte und Dörfer ins Visier nahmen.
Kiew dürfte dagegen seinen „Siegesplan“ weiterführen, den Selenskyj im Oktober 2024 bekannt gegeben hatte. Der Plan ist nicht auf einen herkömmlichen Sieg auf dem Schlachtfeld ausgerichtet. Vielmehr soll eine Situation geschaffen werden, die „Russland zu einem fairen Verhandlungsprozess zwingt“, wie es Mychajlo Podoljak, der Berater von Selenskyj, vergangenes Jahr gegenüber WELT formulierte. Dazu gehören politische, militärische, wirtschaftliche und diplomatische Komponenten, die zusammen den Kipppunkt im Krieg zugunsten der Ukraine herbeiführen sollen.
Bisher ist Russland nicht zu einem fairen Frieden bereit, aber die Ukraine scheint trotzdem weiter auf ihre Strategie zu setzen. Schließlich konnte Kiew auch nach drei Jahren Krieg die militärischen Ziele des Feinds vereiteln. Auch sonst lässt sich die Bilanz sehen. Mittlerweile produzieren ukrainische Rüstungsbetriebe über 60 Prozent aller benötigten Waffen, darunter auch neue Langstreckenraketen mit einer Reichweite bis zu 1800 Kilometern.
Vielfach geschieht dies in Kooperation mit westlichen Firmen und der Finanzierung westlicher Staaten, darunter auch Deutschland, das die Herstellung weitreichender Waffensysteme unterstützt. Die ukrainischen Streitkräfte wurden zudem grundlegend umstrukturiert, um effektiver zu kämpfen.
Mittlerweile ist auch der erste Teil der Waffenlieferung eingetroffen, die im Rahmen eines neuen Finanzierungsprogramms der USA und der europäischen Verbündeten der Ukraine zustande kam. Darunter sind dringend benötigte Patriot- und Himars-Raketen. Die Ukraine soll von der Nato Waffen im Wert von insgesamt zehn Milliarden Dollar erhalten. Gleichzeitig zeigt die asymmetrische Kriegsführung der Ukraine auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation mehr und mehr Erfolg.
Allein seit August flogen ukrainische Langstreckendrohnen mehr als 30 Angriffe auf russische Energieeinrichtungen. Infolgedessen ist die Produktion der russischen Raffinerien um etwa 20 Prozent zurückgegangen. Die Benzinpreise sind zwischen 30 und 50 Prozent gestiegen. In einigen Regionen kommt es zu Versorgungsengpässen. Tankstellen mussten schließen. Die Wirtschaftskrise Russlands mit hoher Inflation, Zinsen und Staatsverschuldung verschärft sich.
Aussagen von Kreml-Insidern zufolge glaubt der russische Präsident Wladimir Putin trotz geringer Geländegewinne weiter an den Sieg seiner Armee und will an seiner Strategie festhalten, das „Regime in Kiew“ mit brachialer Gewalt zu seinen Bedingungen an den Verhandlungstisch zu bringen. Die westliche Militärunterstützung der Ukraine beeindruckt Putin dabei wenig, wie jüngst Bloomberg Media unter Berufung auf Quellen im Umfeld des Präsidenten berichtet hatte.
Erst am Dienstag erklärte das Verteidigungsministerium, dass man weiter in die Oblast Charkiw vordringen wolle, sollten die russischen Truppen die Stadt Kupjansk in der Ostukraine einnehmen. „Damit werden die wiederholten Behauptungen untergraben“, analysiert das Institute for Study of War (ISW), „dass sich die wichtigsten militärischen Ziele und territorialen Forderungen Russlands allein auf die ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson beschränken“.
Russland will anscheinend weit mehr, als die vier Oblaste, die Putin im September 2022 per Dekret annektiert hatte. Noch immer schwebt Putin vor, den „illegitimen Herrscher“ in Kiew zu entmachten und das Land zu „entnazifizieren“. Der Kreml bereitet sich auf eine langwierige Konfrontation vor, denn er weiß aus Erfahrung, die Ukraine ist nicht mit einem Blitzfeldzug zu erobern.
Die ukrainischen Streitkräfte müssen sich im Herbst und Winter auf eine neue russische Großoffensive einstellen. Mittlerweile greifen russische Einheiten nur noch in kleinen Gruppen von zwei bis drei Soldaten an, um die Verlustrate zu reduzieren. Trotzdem werden nach Schätzungen etwa 1000 Soldaten pro Tag getötet und verwundet. Das sind über 30.000 pro Monat – und das im Austausch von 300 bis 500 Quadratkilometer an erobertem Terrain.
Für die ukrainische Zivilbevölkerung könnte dieser Winter jedoch besonders schlimm werden. Die Menschen sind zwar aus den vergangenen Jahren an Strom- und Heizungsausfälle in der kalten Jahreszeit gewöhnt. Aber Russland plant weitaus verheerendere Luftangriffe auf Wohngebiete und Heizkraftwerke, um die Moral der Bevölkerung nachhaltig zu brechen.
Moskau bleiben kaum andere militärische Optionen. Die Einschätzung von ausgedünnten ukrainischen Streitkräften, die kurz vor dem Zusammenbruch stehen, hat sich nur als Propagandalüge erwiesen. Die russische Sommeroffensive, die eine Wende bringen sollte, war ein Fehlschlag. So hatte Russland etwa die Eroberung der Bergarbeiterstadt Pokrowsk in Donezk eingeplant und dem ukrainischen Generalstab zufolge dort 150.000 Mann stationiert.
Eine Operation zur Einkesselung Pokrowsk schlug allerdings fehl. Die Ukraine war stattdessen in die Offensive gegangen und hat die Lage am gesamten Frontabschnitt stabilisiert. „330 Quadratkilometer, die ursprünglich verloren gegangen waren, sind wieder unter unserer Kontrolle“, sagte Selenskyj in einer seiner täglichen Videobotschaften.
Die russische Armee „konnte keine Durchbrüche an der Front erzielen“, stellte die US-Denkfabrik Atlantic Council fest. „Die ehrgeizigen Pläne des Kremls, den Krieg auf die Regionen Sumy und Charkiw im Norden der Ukraine auszuweiten, sind ebenfalls gescheitert.“ Dort wollte Russland eine Pufferzone errichten. Eine ukrainische Gegenoffensive beendete vorerst auch dieses Vorhaben in der Grenzregion im Nordosten des Landes.
Reorganisation des Militärs war erfolgreich
„Die Ukraine muss zu einem stählernen Stachelschwein werden, das für potenzielle Angreifer unverdaulich ist“, hatte die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen im März gefordert. Die überraschenden Gegenangriffe der Ukraine in Sumy und im Bereich Pokrowsk deuten darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte tatsächlich zunehmend „unverdaulich“ werden. Dazu trägt die Reorganisation des Militärs von einer brigadenbasierten Struktur zu einem System auf Korps-Ebene bei. Das ermöglicht eine effektivere Kommandostruktur und mehr Flexibilität, was den Einsatz von Ressourcen und Personal betrifft.
Ukrainischen Medienberichten zufolge sind die Verluste bei den neu gegründeten Korps, die jeweils mehrere Brigaden umfassen, teilweise um die Hälfte zurückgegangen. Die Koordination habe sich deutlich verbessert. Nun könnten einzelne Brigaden nicht mehr ohne Befehl einfach den Rückzug antreten, was in der Vergangenheit vielfach fatale Folgen nach sich zog. Bis zum Ende des Jahres soll die Gesamtzahl der Korps zwischen 18 und 20 betragen.
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Osten, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletztaber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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