Am Tag, an dessen Ende die SPD bei den Kommunalwahlen in NRW die erwartete Niederlage kassiert, steht ihr Vorsitzender, der Bundesfinanzminister und Vizekanzler Lars Klingbeil, in Turnhosen und langärmeligem Sport-Shirt auf dem Marktplatz der niedersächsischen Gemeinde Dorfmark und eilt seiner Zeit voraus.

Nicht die Kommunalwahlen im Nachbarbundesland sind sein Thema. Auch nicht die Bundeshaushalte 2025 und 2026, die beiden ersten Etats in Klingbeils Verantwortung, über die der Bundestag in den beiden kommenden Wochen debattieren wird. Klingbeil geht es jetzt ums große Ganze.

Zwei Tage ist er an diesem Wochenende durch seinen Bundestags-Wahlkreis geradelt – um, wie er sagt, Kraft zu tanken für die bevorstehenden harten Wochen in Berlin. Er hat einen hiesigen SPD-Jubilar für 60 Jahre Mitgliedschaft geehrt, eine Herde Heidschnucken beobachtet und sich erklären lassen, wie viele Heide-Arten im Heidegarten Schneverdingen blühen (200) und was deren Pflege kostet (175.000 Euro pro Jahr).

Er hat in Soltau eine Rotbuche eingepflanzt und ist auf dem Weg dahin zweimal pitschnass geworden auf seinem schwarzen Rennrad, weil das Wetter sich auch in der Lüneburger Heide nicht nach dem Wünschenswerten richtet. Aber jetzt, am Ende dieser „Heimatrunde“, wie er seine kleine Radel-PR-Tour nennt, will Lars Klingbeil doch mal sagen, wie alles besser werden könnte. Für das Land. Und für die SPD. Beide könnten es gebrauchen.

Klingbeil will mit dem „Sondervermögen“ klotzen, nicht kleckern

„Zwei, drei kurze Gedanken, die für mich inhaltlich wichtig sind“, nennt er die großen, sich im Grunde kreuzenden Linien, die er in den kommenden Monaten zusammen mit Kanzler Friedrich Merz (CDU) und der Union ziehen will. Zum einen: die Investitionen. Es sei für ihn sehr klar, dass es nicht mehr an der Zeit sei, „kleine Pflaster“ zu kleben. Klingbeil, der SPD-Chef, will mit dem 500 Milliarden Euro schweren „Sondervermögen“, also zusätzlichen Schulden, klotzen, nicht kleckern. „Wir müssen jetzt mal richtig in die Modernisierung des Landes investieren“, sagt Klingbeil und nennt: Schulen, Kitas, Klimaneutralität, Digitalisierung. So weit, so erwartbar für einen SPD-Vorsitzenden.

Seit der Bundestagswahl im Februar ist Klingbeil, 47, seit Dezember 2021 Co-Parteichef der SPD, der mit Abstand wichtigste Politiker der Sozialdemokratie. In einem Akt, der eher einer Selbstermächtigung glich als einem geordneten parteiinternen Verfahren, hat Klingbeil als erstes erfolgreich nach dem Amt des Fraktionschefs im Bundestag gegriffen, dann nach dem Finanzministerium, nach der Position des Vizekanzlers. Er hat die Parlamentsfraktion der SPD und den sozialdemokratischen Teil des Bundeskabinetts so aufgestellt, wie er es nach der Wahlniederlage für richtig hielt.

Er trägt jetzt die Verantwortung für die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie. Klingbeil muss jetzt liefern. Und er weiß, dass Geld ausgeben allein nicht ausreichen wird. Nicht für das Land. Und auch nicht für die Partei.

Für seinen nächsten Gedanken braucht Klingbeil auf dem Marktplatz von Dorfmark dennoch einen etwas umständlichen Anlauf. „Und das Zweite, was ich ansprechen will, weil das jetzt einfach ein Thema in der Politik auch die nächsten Monate wird, und das haben alle mitbekommen: Auf der einen Seite 500 Milliarden, die ich jetzt investieren darf und die wir investieren werden in der Bundesregierung – und auf der anderen Seite läuft’s aber ein bisschen aus dem Ruder, was den Haushalt angeht, jenseits der Investitionen. Und das will ich hier schon offen benennen, das wird eine riesige Herausforderung in den nächsten Jahren in der Politik. Das Motto, das wir immer hatten, dass man alles mit Geld zuschüttet, das wird nicht mehr funktionieren.“

Die gigantischen Lücken, die durch die Corona-Hilfen, Gas- und Strompreishilfen, aber auch die Aufrüstung der Bundeswehr im Bundeshaushalt gerissen worden seien, müssten wieder geschlossen werden. „Das muss jetzt wirklich sein, dass wir uns alle als Gesellschaft ein bisschen fordern, dass wir jetzt auch sagen, wir zahlen zurück.“ So weit, so erwartbar für einen Finanzminister. Der SPD-Chef aber, der könnte an dieser Stelle ein Problem bekommen.

Klingbeils Rivalität mit Bärbel Bas und ein Lob für Gerhard Schröder

Ende Juni, beim Parteitag der Sozialdemokraten hatte Klingbeil eine für ihn in diesem Ausmaß nicht erwartbare Quittung für seinen innerparteilichen Durchmarsch bekommen. 64,9 Prozent der Stimmen war das bis dahin schlechteste Ergebnis bei einer SPD-Vorsitzenden-Wahl ohne Gegenkandidaturen. Bärbel Bas, die neue Co-Vorsitzende, dadurch zwangsläufig auch eine Art innerparteiliche Rivalin, erhielt 95 Prozent. Das hat Klingbeil, der zuvor bei der Bundestagswahl das beste Ergebnis aller sozialdemokratischen Direktkandidaten eingefahren hatte, schwer getroffen, mitgenommen. Es hat ihn aber auch, das wird in Dorfmark deutlich, in gewisser Weise unabhängiger gemacht von seiner Partei, zumindest von den Parteitagsdelegierten. Er schuldet ihnen nichts mehr.

So fällt es dem SPD-Chef vielleicht nicht leicht, aber doch leichter, seinen eigenen Weg einzuschlagen. Er hat es neulich schon angedeutet, als er in einem Interview bewusst Gerhard Schröders (SPD) Agenda 2010 gelobt hat. Anders als Bas hat Klingbeil die Forderung von Kanzler Merz nach spürbaren Einschnitten bei den Sozialausgaben auch nicht als „Bullshit“ bezeichnet, sondern Kompromissbereitschaft signalisiert.

In Dorfmark hört sich das so an: „Also um es auch klar zu benennen, ich finde es total richtig, dass man bei Menschen, die Geld vom Staat bekommen, zum Beispiel als Bürgergeldempfänger, sagt, wer von denen arbeiten kann, an den haben wir auch die Erwartung, dass er arbeiten geht. Und wenn jemand das nicht tut, dann muss man den Druck auch erhöhen, wenn jemand in der Lage ist, das zu machen. Das entspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden, dass Menschen sich anstrengen. Und erst recht, wenn man Geld vom Staat bekommt.“ Gleiches gelte allerdings auch für diejenigen, die sehr, sehr viel Geld hätten.

Das Risiko, dass es Klingbeil ergeht wie Habeck und Lindner

Klingbeil – und das ist eine Botschaft sowohl an die SPD als auch an die Union – will nicht nur investieren und modernisieren. Er will auch reformieren, antreiben, dafür sorgen, dass der Sozialstaat nicht an sich selbst erstickt. Er will wieder in die Offensive kommen mit seiner Partei, das Vorwärtsgewandte, Drängende in der schwarz-roten Koalition nicht der Union überlassen. „Ich will nicht“, fasst der SPD-Chef seinen Ansatz etwas später in einer kleinen Fragerunde zusammen, „dass wir den Abbau des Sozialstaats vorantreiben, aber wir brauchen eine Reform, damit es vernünftig funktionieren kann“. Gelingt ihm das, könnte es beiden nutzen. Dem Land. Und der SPD.

Gelingt ihm das alles aber nicht, und auch dessen ist sich der Vizekanzler und Bundesfinanzminister bewusst, wird es Klingbeil am Ende dieser Legislaturperiode mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht anders ergehen als seinen Vorgängern in diesen beiden Ämtern. Robert Habeck, der frühere Vizekanzler von den Grünen, und Christian Lindner, der frühere Bundesfinanzminister von der FDP, spielen in Deutschlands Politik keine Rolle mehr.

Später am Tag, Klingbeil hat seine „Heimatrunde“ beendet und ist wieder unterwegs in Richtung Berlin, werden die ersten Ergebnisse der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen bekannt. Die SPD fährt mit 22 Prozent landesweit das schlechteste Ergebnis der NRW-Geschichte ein. Für Klingbeil und seinen Versuch, die SPD wieder zukunftsfähig zu machen, ist das nicht nur eine schlechte Nachricht.

Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.

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