Ein Angriff, der alte Wunden aufreißt
Um genau 10:00 Uhr am Donnerstag traf eine israelische Granate das Gebäude der katholischen Kirche der Heiligen Familie im Zentrum von Gaza-Stadt. Der Angriff erschütterte eine der letzten beiden aktiven christlichen Gemeinden im Gazastreifen und fügt sich in eine lange Geschichte des Leidens der Christen im Heiligen Land.
Die unmittelbaren Folgen des heutigen Angriffs sind gravierend: Zwei Menschen wurden nach Angaben des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem getötete, mindestens fünf weitere schwer verletzt. Auch der Gemeindepfarrer Gabriel Romanelli zählt zu den Verletzten. In der Pfarrei leben derzeit den Angaben zufolge rund 500 Binnenflüchtlinge.
Papst Leo XIV. zeigte sich „zutiefst betrübt“ über den Verlust von Menschenleben und den Angriff auf die Kirche der Heiligen Familie, wie der Staatssekretär des Vatikans im Namen des Papstes erklärte. Das israelische Außenministerium bat in einem seltenen Schritt um Verzeihung. „Israel bedauert zutiefst die Schäden an der Kirche der Heiligen Familie in der Stadt Gaza und alle zivilen Opfer“, erklärte es.
Die schweren Zerstörungen an dem Kirchengebäude werden in der christlichen Gemeinde als Warnsignal verstanden: Kein Bauwerk, keine Gemeinschaft scheint vor der Gewalt des anhaltenden Konflikts mehr geschützt.
Der Vorfall bringt das Schicksal einer religiösen Minderheit erneut ins Bewusstsein. Christen, die im frühen 20. Jahrhundert etwa ein Viertel der Bevölkerung im Vorderen Orient stellten, sind heute auf dem Rückzug. Im gesamten Heiligen Land und insbesondere in den palästinensischen Gebieten sind es nur noch etwa 50.000 bis 75.000 Menschen, die sich zum Christentum bekennen.
Die Gründe sind vielfältig – Krieg, politische Instabilität, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und nicht zuletzt die zunehmende Bedrängnis infolge der fortwährenden Militärkonfrontationen. Die Kirche der Heiligen Familie ist dabei nicht einfach nur ein weiterer Leidtragender in den Wirren des Krieges.
Sie war in den vergangenen Monaten Rückzugsort, Hoffnungsträger und Symbol für den Fortbestand einer seit Jahrhunderten im Land verwurzelten Gemeinschaft. Mit ihrer Zerstörung werden, so Vertreter des Patriarchats, auch die letzten Hoffnungen vieler Christen im Gazastreifen in Schutt und Asche gelegt.
Die Situation der Christen ist dabei äußert komplex. Als religiöse Minderheit erleben sie eine doppelte Marginalisierung – einerseits als Opfer eines Krieges, andererseits als Christen in einer Region, in der muslimischer und jüdischer Extremismus wieder zunimmt. Von politischer Seite kommen kaum Schutzversprechen für Christen im Westjordanland oder Gaza.
Gerade junge, gebildete Christen wandern zunehmend in westliche Länder ab; ein Prozess, der bereits seit Generationen die Demografie des Heiligen Landes verändert. Und doch gibt es Unterschiede: Während arabische Christen in Israel formal gleiche Rechte genießen, sehen sie sich nicht selten mit gesellschaftlichem Nationalismus konfrontiert und sind, wie Analysten erklären, „zwischen den Fronten“ gefangen.
Vielfältige Migrationsbewegungen, darunter auch in den letzten Dekaden aus Osteuropa und Afrika, verstärken die Fragmentierung der christlichen Identität im Land. Die einst blühende Vielfalt wurde so zur zersplitterten Gemeinschaft, die fortbesteht, weil sie sich regelmäßig neu erfinden muss.
Auch Stimmen aus den Kirchen mahnen regelmäßig an, dass die Vernachlässigung, Vertreibung und Bedrohung der christlichen Minderheiten eine historische Verantwortung nach sich ziehe. Besonders das letzte goldene Zeitalter der christlichen Gemeinschaften – das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit wachsender internationaler Aufmerksamkeit und diplomatischem Schutz aus Europa – scheint der Vergangenheit anzugehören.
Heute ist es vor allem die Zivilgesellschaft, die sich für den Erhalt der christlichen Präsenz im Heiligen Land engagiert. Lokale Hilfswerke, internationale Organisationen und ebenso die im Ausland lebenden Diaspora-Kirchen versuchen, mit humanitärer Hilfe und politischer Lobbyarbeit das Überleben der Gemeinden zu sichern.
Für die Gläubigen, die geblieben sind, bleibt der Alltag indes eine permanente Herausforderung: Unsichere Lebensumstände, der Verlust von Freunden und Familien durch Auswanderung sowie der ständige Druck politisch-religiöser Spannungen gehören zum Alltag, insbesondere in Brennpunkten wie Gaza.
Auch in Israel ist die Lage ambivalent. Statistiken belegen, dass arabische Christen im jüdischen Staat vergleichsweise erfolgreich sind, viele fühlen sich „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“. Dennoch sehen sich Christen und insbesondere ihre Gemeinden oft mit Vorurteilen und gesellschaftlichen Einschränkungen konfrontiert.
Die zahlenmäßige Stärkung durch Zugezogene aus der ehemaligen Sowjetunion, Gastarbeiter von den Philippinen oder afrikanische Flüchtlinge kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die christlichen Gemeinschaften im Heiligen Land verletzlich bleiben.
Der Angriff auf die Kirche der Heiligen Familie hat eine Wunde aufgerissen, deren Schmerz weit über die lokale Gemeinde hinausreicht. Kirchenleitung und zivilgesellschaftliche Akteure beklagen nicht nur die unmittelbaren Opfer, sondern sehen in der Zerstörung eines Gotteshauses auch ein Symbol für den drohenden Exodus einer der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt.
Die Kirchenführung in Jerusalem forderte noch am Nachmittag Aufklärung und Schutz für die religiösen Minderheiten. „Wir können nicht tatenlos zusehen, wie unsere Jahrhunderte alten Gemeinden im Heiligen Land untergehen“, mahnte Nikodemus Schnabel, Abt der Dormitio Abtei in Jerusalem. „Jeder Angriff auf ein Gotteshaus trifft uns alle – nicht nur als Christen, sondern als Menschen.“
Die Weltgemeinschaft steht, so der Tenor, vor der Herausforderung, diesen Hilferuf nicht ungehört zu lassen. Denn das Heilige Land als Wiege von Judentum, Christentum und Islam droht einen Teil seines multireligiösen Erbes zu verlieren – und damit einen Grundpfeiler des historischen und kulturellen Reichtums der Region.
Die offenen Wunden des heutigen Tages mahnen: Frieden, Verständigung und Respekt vor der Andersgläubigkeit sind nicht nur fromme Wünsche – sie sind eine existenzielle Voraussetzung für das Fortbestehen der religiösen Vielfalt des Heiligen Landes.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke