Die abgesagte Richterwahl belegt die Führungsschwäche des Kanzlers und seines Fraktionschefs – aber auch ihre groteske Realitätsverweigerung. Höchste Zeit zum Umsteuern.  

Und wieder ist diese Koalition im Parlament gescheitert. Nachdem sie im Mai zwei Versuche benötigt hatte, um einen Kanzler zu wählen, musste sie nun die Wahl dreier Bundesverfassungsrichter von der Tagesordnung nehmen.

Es ist eine selbstorganisierte Blamage. Weder funktionierte die Kommunikation innerhalb der Koalition noch die innere Führung der Union. Hinzu kam glatte Realitätsverweigerung.

Das alles wird lange nachwirken. Das schwarz-rote Notbündnis, das so viel besser sein wollte als die Ampel, geht zerstritten und zerknirscht in die Sommerpause. Für all das, was im Herbst beschlossen werden soll – Haushalt, Gesetze, Reformen – ist das ein fatales Zeichen.

Eine kontroverse Richterwahl ist gelebte Demokratie

Grundsätzlich gilt: Dass freie Abgeordnete eine Kandidatin nicht ins Verfassungsgericht wählen wollen, ist ihr gutes Recht und ein Zeichen für gelebte Demokratie. Wenn Parlamentsmitglieder ihrem Gewissen folgen, zumal bei der Besetzung eines anderen Verfassungsorgans, dann folgen sie dem Grundgesetz. Punkt.

Doch unabhängig davon war das, was an diesem Freitag im Bundestag passiert ist, ein politisches Debakel mit Ansage. Denn die Wahl der Verfassungsrichterin wurde von der Koalition angesetzt, ohne die nötige Zweidrittel-Mehrheit halbwegs sicher zu haben.  

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Die Schuld dafür trägt insbesondere die Union. Fraktionschef Jens Spahn vereinbarte mit der SPD zwei Kandidatinnen, ohne seine Abgeordneten hinter sich zu haben. Dass eine der beiden Frauen, Frauke Brosius-Gersdorf, vielen in CDU und CSU zu aktivistisch oder schlicht zu links unterwegs ist, hätte ihr Vorsitzender mindestens ahnen müssen. 

Vertrauen ging verloren

Derweil machte es Friedrich Merz kaum besser. Er ließ Spahn walten und beschäftigte sich mit seiner neuen Passion: der Weltpolitik. Dabei trägt der Kanzler und CDU-Vorsitzende auch die Gesamtverantwortung für das Funktionieren der Koalition.     

Nachdem sich Spahn erst verzockt hatte, verbockte er es auch noch. Dass der Fraktionschef in seiner Panik ein paar dünne Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf instrumentalisierte, bestätigte das, was viele im politischen Berlin schon lange denken: Dem Mann ist einfach nicht zu trauen.

Im Ergebnis ist an diesem Freitag viel Vertrauen verloren gegangen: zwischen den Koalitionspartnern, aber auch in die Führungskompetenz der Unionsspitzen.

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Ein Realitätscheck für die Union

Erschwerend kommt hinzu, dass CDU und CSU die neue Realität ignorieren: Wollen sie im Bundestag nicht auf Stimmen der AfD angewiesen sein, müssen sie sich mit der Linken arrangieren. 

In den ostdeutschen Landesparlamenten hat sich die CDU notgedrungen längst zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Zuletzt konnte die von CDU-Bundesvize Michael Kretschmer geführte Minderheitsregierung in Sachsen nur dank linker Stimmen den Landeshaushalt beschließen. Davor hatte die Union in Thüringen über mehrere Jahre eine von der Linken geführte Regierung de facto toleriert, um den AfD-Rechtsextremisten Björn Höcke von der Macht fernzuhalten.

Die Union sollte den Sommer – oder die Zeit bis zu einer Sondersitzung – gut nutzen, um sich endlich ehrlich zu machen. Und sie sollte danach vielleicht nicht nur neue Verfassungsrichter wählen, sondern vielleicht auch einen Fraktionsvorsitzenden, der es kann. Sonst wird auch diese Regierung nicht bis zur nächsten Bundestagswahl halten.

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