„Das ist kein Ausnahmezustand mehr. Das ist die neue Realität“
Die Morgendämmerung liegt bleiern über dem Mittelmeer, als die Gendarmen der Guardia Civil erneut ausrücken. Wieder wurde ein Boot gesichtet. Darauf sind zwölf junge Männer, erschöpft, durchnässt, ohne Schwimmwesten. Die riskante und häufig tödlich endende Überfahrt haben sie überlebt. Doch ähnliche Szenen wiederholen sich auf der kleinsten Baleareninsel Formentera immer häufiger.
Am Bootsanlegeplatz Estufador werden Bewohner regelmäßig Zeugen ankommender Migrantengruppen, die auf nicht hochseetauglichen Booten („pateras“) die kleine Insel erreichen. Nach ihrer Ankunft wandern sie Richtung Dorf, manche bitten Anwohner, die Polizei zu rufen. Noch bevor die eintrifft, reißen die Männer Seiten aus ihren Pässen heraus und lassen die Fetzen im Wind flattern – ohne Papiere ist eine Rückführung in ihre Heimat nahezu unmöglich.
Die Route zu den Balearen galt lange als Randphänomen, mittlerweile nimmt die Migration zu der Inselgruppe im Mittelmeer deutlich zu. Nach Angaben der Regierung in Madrid erreichten 2024 mindestens 5846 Migranten die Balearen – rund doppelt so viele wie im Vorjahr. Formentera ist besonders betroffen: Im vergangenen Jahr kamen dort demnach 2670 Migranten in 167 Booten an – ein Anstieg von 446 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Für eine Insel mit rund 11.000 Einwohnern und einer Fläche, die etwas kleiner als die Stadt Solingen ist, ist das enorm. Behörden und Anwohner stoßen zunehmend an ihre Grenzen – doch die Hilfe aus Madrid bleibt aus. Dabei könnte 2025 ein weiteres Rekordjahr werden, sollte sich der Trend fortsetzen. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres erreichten 375 Migranten auf Booten Formentera.
„Was wir hier erleben, ist beispiellos“, erklärt ein Beamter der Guardia Civil gegenüber WELT. „Früher gab es vereinzelte Ankünfte. Jetzt kommen sie täglich, manchmal mehrere Boote in einer Nacht.“ Er blickt auf eine Karte, auf der mit roten Punkten jede neue Ankunft verzeichnet ist. „Die Route ist etabliert. Das ist kein Ausnahmezustand mehr. Das ist die neue Realität.“
Kriminelle Schlepperbanden
Hinter den Zahlen verbergen sich Geschichten wie die von Abdalli Fouad, einem 22-jährigen Friseur aus Chlef in Algerien, der am 26. Mai mit 17 weiteren Personen aufbrach und seitdem vermisst wird. „Die Stadt Chlef ist unterentwickelt und treibt viele junge Menschen in die illegale Einwanderung“, sagt sein Schwiegervater Mohamed Belmokhtar der Zeitung „Diario de Ibiza“.
Als Friseur brauchte Abdalli demnach fünf Jahre, um die 4000 Euro für die Überfahrt zu sparen – ein Vermögen in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei 200 Euro monatlich liegt. Viele Menschen macht das zur leichten Beute krimineller Schleuser. „Banden operieren in sozialen Netzwerken und Cafés, um junge Menschen für die Auswanderung zu rekrutieren“, erklärt Belmokhtar die systematische Dimension der Schlepperkriminalität in Nordafrika.
Auf dem Mittelmeer sind die Migranten oft auf sich allein gestellt. Zwischen Mai und Juni wurden fünf Leichen in den Gewässern der Balearen gefunden, zwei vor Formentera. Die Toten trugen orangefarbene Schwimmwesten und waren an Händen und Füßen gefesselt. Zunächst vermuteten die Ermittler Exekutionen. Inzwischen gehen die spanischen Behörden davon aus, dass die überwiegend somalischen Opfer verdurstet sind, nachdem sie zwei Wochen hilflos auf dem Mittelmeer getrieben waren. Gefesselt waren die Leichen entsprechend eines islamischen Bestattungsritus aus ihrem Heimatland.
Was auf dem offenen Meer passiert, ist für die Behörden oft schwer nachzuvollziehen. Aus Angst vor Abschiebung schweigen die Opfer der Schleuserbanden häufig darüber, was ihnen widerfahren ist. Immer wieder werden Berichte über Gewalt gegen sie öffentlich. Etwa jener über eine 17-jährige Algerierin, die ihre Vergewaltigung durch den Bootsführer bei den spanischen Behörden anzeigte. Ihre Aussage führte laut einem Bericht der „Diario de Mallorca“ zur Verhaftung von 16 Männern in Murcia auf dem spanischen Festland, die einem organisierten Schlepperring angehören. Eine kürzlich durchgeführte Razzia in der Stadt offenbarte ein kriminelles Netzwerk und eine systematische Gewaltstruktur, die weit über Einzelfälle hinausgeht.
Wer es aber nach Formentera schafft, versucht häufig, sich aufs europäische Festland durchzuschlagen, wie ein Abend Anfang Juni deutlich macht. Auf einem Parkplatz neben der ehemaligen Schule in Es Cap de Barbaria im Süden der Insel bitten zwei minderjährige Algerier eine Anwohnerin um Hilfe. In dem Gebäude befindet sich eine Einrichtung für unbegleitete Minderjährige. Der 16-jährige Daoud Ben Asseem und sein gleichaltriger Freund Yusuf, der seinen Nachnamen für sich behält, treten freundlich und höflich auf. Sie scherzen und lachen und wirken reifer, als ihr Alter vermuten lässt.
Für die Kommunikation nutzen die jungen Männer einen Übersetzer auf ihrem Handy: kurze Sätze, schnelle Reaktionen. Yusuf bittet die Frau um neue Kleidung, während Daoud ohne Umschweife erklärt, ein Fährticket für die Überfahrt von Ibiza nach Barcelona zu brauchen. Er habe Geld, um es zu bezahlen. Am liebsten möchte Daoud am nächsten Tag von der Nachbarinsel Ibiza nach Barcelona reisen, von wo aus es weiter in den Norden gehen soll. Minderjährige Migranten dürfen nicht allein reisen, doch Daoud hofft, dass er es trotzdem an sein Ziel schafft.
Daoud kann zwar nur ein Foto seines Reisepasses auf dem Mobiltelefon zeigen. Doch der junge Mann ist fest entschlossen, es aufs Festland zu schaffen. Die Anwohnerin fragt nicht nach, woher die großflächigen Verbrennungsnarben auf seiner linken Gesichtshälfte rühren, sondern kauft ihm das Fährticket, mit den aus dem Foto hervorgehenden Angaben seines Reisepasses. Sie will kein Geld von dem Jungen haben, der ihr Sohn sein könnte.
Am Vormittag des darauffolgenden Tages meldet sich Daoud telefonisch aus Ibiza. Er klingt verzweifelt, spricht Arabisch am Telefon. Die Polizei habe ihn zwar auf die Nachbarinsel begleitet, doch ohne polizeiliche Reisebescheinigung wolle ihn die dortige Fährgesellschaft nicht an Bord lassen. Selbst die Anwohnerin habe versucht ihm zu helfen und mit der Reederei telefoniert. Vergeblich. Dann die Nachricht: Daoud hat doch noch Erfolg und darf auf die Fähre nach Barcelona.
Sein Fall zeigt, wie schwierig die Versorgung unbegleiteter minderjähriger Migranten auf der Insel ist, die oft nur rudimentär geleistet werden kann, zugleich aber mit hohen Kosten verbunden ist. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres musste der Inselrat – die Verwaltung von Formentera– nach eigenen Angaben 1.547.882 Euro für die Betreuung der minderjährigen Migranten aufwenden, 2024 waren es insgesamt 2.426.855 Euro.
Geht diese Entwicklung im gleichen Tempo weiter, könnten die Kosten nach Schätzungen des Inselrats im laufenden Jahr auf über neun Millionen Euro steigen. Damit würden rund 20 Prozent des gesamten Inselhaushalts beansprucht. Allein für Januar und Februar entsprachen die Ausgaben bereits 90 Prozent der Mittel, die Formentera im Rahmen der sogenannten autonomen Kompetenzen („competencias autonómicas“) jährlich zur Verfügung stehen. Die Regionalregierung der Balearen hat zwar versprochen, Ressourcen bereitzustellen, konkrete Maßnahmen bleiben jedoch bisher aus, sagt Óscar Portas, Präsident der Inselregierung von Formentera, im Gespräch mit WELT.
Rekordanstieg der Ankünfte geht in Statistik unter
Dabei deutet nichts darauf hin, dass sich der Andrang auf die Insel abschwächt. Dass sich Formentera in kürzester Zeit zu so einem beliebten Ziel entwickelt hat, liegt vor allem an der vergleichsweise kurzen Seestrecke von rund 330 Kilometern nach Algerien, günstigen Winden im westlichen Mittelmeer und laschen Kontrollen durch die algerischen Behörden.
Hinzu kommen politische Verwerfungen zwischen Spanien und Algerien, die sich an der Region Westsahara entzünden. Nachdem Madrid 2022 Unterstützung für den marokkanischen Autonomieplan für das Territorium signalisiert hatte, kam es zum diplomatischen Eklat. Algerien, das die Unabhängigkeit der Westsahara unterstützt, sah darin eine Parteinahme und rief seinen Botschafter aus Spanien zurück. Die Regierung setzte den Freundschaftsvertrag mit Spanien aus, blockierte den Gashandel und lockerte die Überwachung seiner Küsten, was zu dem Anstieg der illegalen Bootsüberfahrten nach Spanien führte. Seit November 2023 nähern sich beide Länder wieder an, doch die Krise hat die Zusammenarbeit im Bereich der Migration nachhaltig geschwächt.
Trotz der alarmierenden Zahlen auf den Balearen präsentiert die spanische Regierung optimistische Gesamtstatistiken: Von Januar bis April 2025 wurden 13.929 irreguläre Einreisen nach Spanien registriert – ein Rückgang um 29,7 % gegenüber dem Vorjahr. Da Festland und Inseln zusammengefasst werden, bleibt der Rekordanstieg auf Formentera in den Zahlen verborgen. Bereits im November 2024 kritisiert Miquel Jerez, Senator des Partido Popular von den Balearen, dass Innenminister Grande‑Marlaska „erneut leugnet, dass es eine konsolidierte Migrationsroute zwischen Algerien und den Balearen gibt“. Marlaska räumt zwar steigende Zahlen ein, betont jedoch: „Keine Route darf als konsolidiert betrachtet werden.“
Der Regierungsbeauftragte der Balearen, Alfonso Rodríguez Badal, betont gegenüber der Zeitung „Diario de Ibiza“., dass die spanische Regierung „den Balearen in keiner Weise den Rücken kehrt“ und „intensiv mit großem Einsatz der Seenotrettung, der Guardia Civil, der Policia Nacional und dem Roten Kreuz (...) an der humanitären Versorgung der Migranten“ arbeite. Die Guardia Civil auf der Nachbarinsel Ibiza soll mit rund vierzig Beamten verstärkt werden. Außerdem wolle man die Überwachung der Küsten verstärken – allerdings erst, wenn die Tourismussaison vorbei ist. Ein Helikopter patrouilliert bereits regelmäßig, insbesondere bei ruhiger See und Vollmond. Einheimische sprechen mittlerweile vom „tiempo de patera“ – „Flüchtlingswetter“.
Der Chef der Guardia Civil auf den Balearen, Alejandro Hernández, weicht Fragen nach den Ressourcen im Gespräch mit der Zeitung „Diario de Ibiza“ aus: „Wir haben die Mittel, die wir haben, um die Boote zu stoppen.“ Die Realität zeigt ein anderes Bild. An den Stränden rosten Motoren in den kobaltblauen Booten der Migranten mit Registriernummern der Guardia Civil vor sich hin, während Benzinkanister im Meer treiben. Abfälle driften tagelang umher, stranden im Meeresschutzgebiet der Insel oder sinken über den zum UNESCO-Welterbe gehörenden Posidonia-Seegraswiesen herab. Selbst jeder halb volle Kanister kann einen Ölfilm freisetzen, der das Sauerstoffgleichgewicht zerstört und Fische vergiftet.
Die größte Last trägt jedoch die Gemeinde. „Wir arbeiten am Rand unserer Kräfte“, sagt Óscar Portas, Präsident der Inselregierung von Formentera, im Gespräch mit WELT. „Ohne sofortige Hilfe werden wir gezwungen sein, die Zuständigkeit zurückzugeben.“ Die finanzielle Situation sei kritisch: „War die Situation im vergangenen Jahr schon unhaltbar, wird sie dieses Jahr noch schlimmer. Wir haben alle zuständigen Verwaltungen um Hilfe gebeten – bisher ohne Ergebnis.“ Besonders enttäuscht ist er von der Regierung in Madrid: „Wir haben wiederholt um mehr Ressourcen gebeten, aber es bleibt alles beim Alten.“
Die Boote der Migranten, sie tauchen immer wieder auf. Und wie beim Beispiel von Daoud und Yusuf sind es oft die Anwohner, die sich kümmern. Wie an diesem Junimorgen. Während sich die Dämmerung gerade über das Hinterland der Insel legt, begegnet ein Fischer auf dem Weg zum Hafen zwei jungen Männern. Sie sind tropfnass, riechen nach Benzin, tragen aber schwarze Anzüge und gute Schuhe. Als hätten sie sich für Europa in Schale geworfen, um mit Würde anzukommen. Einer zieht sein Handy aus der Jackentasche. Als er es einschalten will, läuft noch Wasser heraus, so wird es Iván Pérez Marí WELT später erzählen.
Der Vorsitzende der Fischerzunft von Formentera lädt sie auf einen Kaffee ein, fährt sie dann weiter zum Hafen, wo die beiden Männer von der Polizei nach Ibiza begleitet werden. „Früher haben wir höchstens mal Gerüchte über ein Boot gehört. Jetzt finden wir die verlassenen ‚pateras‘ überall. Manche Menschen sind wütend, aber ich denke immer: Was sollen wir tun? Sie zurück ins Meer schicken?“
Daoud, der 16-jährige Algerier mit den Brandnarben im Gesicht, ist weiter gekommen. Über Barcelona hat er sein Zielland Frankreich erreicht. Dort erhofft er sich nun eine chirurgische Behandlung.
Andere Menschen schaffen es nicht so weit. Ihre, aber auch die Zukunft der Menschen auf Formentera, ist ungewiss. Die Boote kommen einfach. Leise, nachts, bei ruhiger See. Immer öfter. Immer näher.
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