Wir müssen aufrüsten – aber Streit darüber muss erlaubt sein
Eine Kehrtwende in der Sicherheitspolitik fordert eine Zahl durchaus prominenter SPD-Politiker in ihrem sogenannten "Manifest". Nein, kleiner haben sie es nicht. Es geht nämlich um das große Ganze: "Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen Nato und Russland", heißt es in dem Papier, das auch die Unterschriften von Rolf Mützenich, Norbert Walter-Borjans und Hans Eichel trägt.
Ein Gruß aus friedensbewegter SPD-Vergangenheit
Ex-Fraktionschef, Ex-Parteichef, Ex-Minister, Ralf Stegner ist natürlich dabei. Auch der fünf Seiten lange Text liest sich über weite Strecken wie ein Gruß aus friedensbewegter Vergangenheit deutscher Sozialdemokratie. Man sieht in Gedanken die blaue Fahne mit der weißen Taube vor den Augen flattern. Neue Ostpolitik, Brandt und Bahr und Ostermärsche – die SPD hält bis heute große Stücke auf ihre Geschichte. Auch wenn zur ganzen Wahrheit gehörte, dass das absurde Wettrüsten zwischen Ost und West auch keinen ganz kleinen Beitrag zum Ende des Kalten Krieges geleistet hat. Nur was folgt genau daraus für die heutige Zeit, für die neue Spannungspolitik zwischen Russland und Europa?
Es ist nicht hilfreich, jede Kritik am eingeschlagenen Kurs als Kuschen vor dem Kreml abzukanzeln. Und es ist unlauter, jeden Mahner als ewiggestrigen Moskau-Vasallen zu brandmarken. Die Autoren und Erstunterzeichner weisen schließlich auf einen schmerzhaften Mangel hin, einen Mangel an Raum für Debatte. Dieser Raum ist nicht ganz absichtslos immer mehr verengt worden, bis nur noch eine Sichtweise Platz darin gefunden hat: die militärische. Das gilt für die politische Debatte und für die publizistische – für viele private Diskussionen an Theken und Kaffeetafeln gilt das freilich nicht.
Das öffentliche, wenn nicht Beschweigen, so doch stille Hinnehmen krasser politischer Kehrtwenden wirkte zunehmend befremdlich. Es gibt Zweifel, Sorgen, Ängste am eingeschlagenen neuen deutschen Kurs – sie mögen nicht die Mehrheit widerspiegeln, aber sie sind vorhanden. So zahlreich, dass es fast verwunderlich erscheint, warum dieser Aufschrei so lange auf sich warten ließ. Warum er erst jetzt kommt, kurz bevor die Nato-Staaten auf ihrem Gipfel Ende des Monats in Den Haag das Fünf-Prozent-Ziel offiziell beschließen wollen.

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Natürlich darf man dieses Ziel infrage stellen. Wieso fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung? Wofür genau? Und woher eigentlich? Deutschland konnte im vergangenen Jahr nicht mal das bisher gültige Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreichen, und schon das schlug mit knapp 90 Milliarden Euro zu Buche. Fünf Prozent sind umgerechnet 220 Milliarden Euro, beinahe die Hälfte des gesamten bisherigen Bundeshaushalts.
Natürlich, dank der jüngst gelockerten Schuldenbremse könnte der Finanzminister den Löwenanteil davon in Form von Krediten, also Schulden, beschaffen. Dafür wäre es diesmal jedoch kein einmaliger Kraftakt, wie bei den 100-Zeitenwenden-Milliarden von Kanzler Olaf Scholz für die Bundeswehr. Im Gegenteil, das Fünf-Prozent-Füllhorn ergösse sich Jahr für Jahr für Jahr… Da wird die Frage erlaubt sein, bis wann das eigentlich gelten soll? Fünf Jahre, zehn, bis Putin abtritt oder nur so lange bis sich die deutschen Staatsschulden verdoppelt haben?

Heikles "Manifest" Das steht im Grundsatzpapier der SPD-Politiker
Über 220 Milliarden wird man wohl noch streiten dürfen
Es sind berechtigte Fragen, auf die man durchaus unterschiedliche Antworten geben kann. Anders gesagt: Über jährlich 220 Militär-Milliarden wird man wohl noch streiten dürfen.
Kanzler Merz und den Ministern Klingbeil, Pistorius und Wadephul dürfte dieser Aufschrei höchst ungelegen kommen. Das bedeutet im Umkehrschluss noch lange nicht, dass die, die da jetzt aufschreien, automatisch recht hätten. Es gibt gute Gründe, das Gegenteil anzunehmen. Eine imperialistische Großmacht, die ihre Nachbarn brutal überfällt, hält man nicht im Stuhlkreis auf. Ein Aggressor will selten reden, er versteht nur die Sprache der Härte, zumal die zunächst vor allem darin bestünde, sich zur eigenen Verteidigung besser zu bewaffnen.
Better save than sorry
Man kann das, wie die Autoren des Papiers es tun, als "militärische Konfrontationsstrategie" beklagen. Man kann auch die Warnungen des BND-Chefs, wonach die Ukraine nur ein Schritt auf Russlands Weg nach Westen sei, als Alarmismus abtun – aber in der Sicherheitspolitik hält man sich besser an eine alte Regel: better save than sorry.
Es wird immer Kritiker geben, die Vorsicht für unnötig halten, für zu teuer, zu aufwendig, zu einengend. There is no glory in prevention. Darin liegt womöglich die Parallele zur Pandemie-Zeit. Über die lässt sich sagen: Im Kern war die damalige Corona-Politik richtig, es gab Übertreibungen, Fehleinschätzungen, unnötige Härten. Von einem aber gab es in jenen Tagen definitiv zu wenig: Debatte.
Wenn dieses "Manifest" ein Gutes haben soll, dann vielleicht das: Lasst uns streiten!
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