Eine lange Busfahrt in Zeiten großer Männerknappheit
Die Ukrainer am Berliner Busbahnhof hüllen sich in Zigarettenrauch. „Kiew, 17.00 Uhr – Unbestimmt verspätet“ verkündet die Anzeigetafel. Einer der Wartenden geht an Krücken, ein bärtiger Mann mit stolzem Lächeln, in einem Arm hält er seine Frau. Zwei kleine Jungen umklammern sein linkes Bein, das rechte baumelt gekrümmt und in Stoff gewickelt herab. Er ist Invalide, deshalb durfte er die Ukraine verlassen, jetzt will er zurück. Die meisten Wartenden am Bussteig sind Frauen und Kinder.
Seit es keine Flugverbindungen mehr in die Ukraine gibt, sind die Menschen auf den Landweg angewiesen. Der Krieg hat eine Nische im Transportgeschäft geschaffen, die es auseinandergerissenen Familien ermöglicht, sich gelegentlich wiederzusehen. Komfortabel ist das nicht, etwa fünfundzwanzig Stunden dauert eine Busreise von Berlin nach Kiew. Manchmal auch mehr, das hängt davon ab, wie die Grenzübertritte verlaufen.
Diese beschwerliche Art des Reisens ist für die 1,25 Millionen Ukrainer, die mittlerweile in Deutschland registriert sind, Realität. Mehrere Tausend überqueren jeden Tag die polnisch-ukrainische Grenze.
Allerdings reisten zuletzt immer weniger Ukrainer in die Heimat. „Es gibt nicht mehr so viele Busse“, berichtet Natalia Wolk, Geschäftsführerin von Euroclub, einem Busunternehmen, dass sich auf Reisen zwischen der Ukraine und Deutschland spezialisiert hat.
„Der Krieg dauert jetzt schon drei Jahre. Viele Ukrainer, die damals nach Deutschland kamen, haben sich inzwischen eingelebt. Die fahren nicht mehr oft. Andere sind für immer in die Ukraine zurückgekehrt.“ Außerdem fallen immer mehr Männer als Kunden weg, die die Ukraine nur noch im Ausnahmefall verlassen können.
Aleksandr
Wie Aleksandr, der Wartende mit den Krücken. Als der Krieg begann, hatte er Frau und Kinder nach Berlin geschickt, sich freiwillig für die 80. Sturmbrigade gemeldet und bei Saporischschja gedient. Vor eineinhalb Jahren schlug eine Granate in seiner Nähe ein, zerstörte sein Bein, Splitter zerfetzten Leber und Nieren. Er war der einzige Überlebende seines Zuges.
Nach dem Unglück entließ man Aleksandr aus der Armee. Gerade war er zwei Wochen bei der Familie in Berlin, bei den zwei Söhnen und seiner Frau Anna. Jetzt reist er zurück in die Ukraine, Tarnnetze knüpfen für die Front, Drohnen zusammenschrauben.
Sergej und Lena
Sergej und seine Mutter Lena stehen schweigend am Bussteig. Ihre richtigen Namen möchten sie nicht veröffentlicht sehen, wie auch die anderen Passagiere auf dieser Fahrt. Lena spricht mit brüchiger Stimme, immer wieder schluchzt sie. „Es wird eine sehr traurige Reise. Mein Sohn. Im Krieg. Gefallen.“ Schweigen. Ihr zweiter Sohn Sergej nimmt sie in den Arm, streicht ihr den Kopf.
Er kann nicht mitfahren, muss in Berlin bleiben. Denn er wollte nicht kämpfen und hatte den Druck in seiner Heimat irgendwann nicht mehr ertragen. „Letzten August bin ich geflohen, illegal raus, nachts über die grüne Grenze nach Moldau. Ich hatte solche Panik, dass sie mich einfach auf der Straße entführen, einziehen und dann an die Front werfen.“ Als Fahnenflüchtiger kann er sich in der Ukraine nicht mehr blicken lassen. Nicht einmal, um seinen jüngeren Bruder zu Grabe zu tragen.
Dann, es ist kurz vor 19 Uhr, rollt der Fernbus nach Kiew schließlich ein. In die Wartenden kommt Bewegung, sie schultern ihre Taschen und wedeln mit ihren blauen Pässen.
Der Bus fährt an, es ist bereits dunkel. Die Passagiere blicken auf Bremslichter der pendlerverstopften A100. Aber es bringt nichts, früher in Berlin loszufahren: Polen zu durchqueren dauert kaum acht Stunden, und die Ukraine zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens zu erreichen wäre sinnlos – es gilt Kriegsrecht, und damit eine nächtliche Sperrstunde, die Reisebusse einschließt.
Ljubow und Jewa
Die geflüchteten Ukrainer reisen aus verschiedenen Gründen. Rentnerin Sweta etwa kann ihre Rente nicht mehr abheben, ihre Kiewer Bank hat ihr Konto gesperrt. Warum, weiß sie nicht. Jetzt muss sie persönlich vorstellig werden.
Oder Lesja, die aus beruflichen Gründen fährt. Gemeinsam mit einem Deutschen leitet sie ein Ingenieursbüro, sie bauen neue Häuser mit Bunkern oder Kellerschulen, in denen Unterricht auch während laufender Luftangriffe stattfinden kann.
Zwei Reihen weiter hinten hat die stämmige Ljubow alle Hände voll zu tun, ihre dreijährige Tochter zu bändigen, die auf dem Sitz herumtollt. „Jewa, du bist doch eine Prinzessin. Benimmt sich denn so eine Prinzessin?“, tadelt die Mutter. Jewa hält kurz inne, schüttelt heftig den Kopf.
Ljubow stammt aus Russland, aus Tjumen, einer mittelgroßen Stadt hinter dem Uralgebirge. Als sie zehn war, zog sie mit den Eltern in die Ukraine. Ganz normal, fast jede ukrainische Familie hat Angehörige in Russland. „Ich habe noch Kontakt zu meinen Verwandten in Moskau. Aber wir sprechen nicht über Politik, da gibt es nur Streit. Die meisten, die ich kenne, haben ihre Bindungen nach Russland abgebrochen. Man erreicht diese Leute nicht mehr.“
Prinzessin Jewa tritt beherzt in die Rückenlehne des Vordermannes. „Ach, wir fahren oft nach Hause“, sagt Ljubow. „Diesmal geht's zu unserem Zahnarzt in Kiew.“ Sie lacht trocken. „Versuchen Sie mal, in Berlin einen Arzttermin zu bekommen, wenn Sie kein Deutsch können.“
Zlata und Ljuba
Halt in Cottbus, wo ein sehr alter Ukrainer zusteigt. Die meisten der paar Männer, die im Bus mitfahren, sind über sechzig. Sie dürfen über die Grenze, da sie zu alt sind, um noch einberufen zu werden.
Jenseits der Neiße ist der erste Halt an einer Tankstelle. Polnischer Diesel ist günstiger. Weiter vorn am Fenster sitzt Zlata. Sie ist dreizehn, trägt eine Zahnspange. Ihr Deutsch ist akzentfrei, mit wachen Augen plaudert sie mit einem deutschen Mitreisenden.
Gemeinsam mit ihrer Mutter Ljuba fährt sie in die Ukraine. Sie hat bronzefarbene Locken bis zur Hüfte, trägt einen weißen Trainingsanzug. „Rede doch nicht immer so schnell Deutsch“, schilt sie Zlata auf Ukrainisch, stolz auf ihre Tochter, aber genervt, weil sie Deutsch so viel schlechter beherrscht.
Zlata floh mit ihren Eltern vor drei Jahren nach Hannover. Sie stammen aus Tscherkassy, etwa kleiner als die Landeshauptstadt, am Dnipro gelegen, ein Fluss so breit, dass man das andere Ufer kaum sieht. „Meine Mutter hat Demenz, das wird immer schlimmer, wir wollen sie jetzt nach Deutschland holen. Außerdem muss Zlata zum Augenarzt.“ Ljuba schüttelt den Kopf. In Hannover einen Termin beim Augenarzt zu bekommen, ohne Deutsch zu können, das sei aussichtslos.
Zlata geht in die siebte Klasse, sie hat deutsche Freundinnen, will Ärztin werden. Ihr neues Zuhause ist Deutschland, in die Ukraine möchte sie nicht zurück. Sie klickt sich durch Duolingo, lernt Koreanisch, ihr Gymnasium plant einen Schüleraustausch mit Seoul.
Ständig ploppen Nachrichten auf, es sind ihre Freundinnen. „Pass auf dich auf!“, „Lass dich nicht bombardieren!“, schreiben sie ihr. Zlata zeigt die Chats. „Wenn die wüssten“, sagt sie und lacht. „So gefährlich ist das doch gar nicht bei uns in Tscherkassy!“
Busfahrer Grigorij
Vor dem Fenster ziehen Lagerhallen und Industriegebiete vorbei, in Flutlicht getaucht, Zeugen des polnischen Wirtschaftswunders. Eine Weile geht es bei Mondschein durch einen kargen Kiefernwald. Dann wird es neblig, manche schnarchen.
Fahrer Grigorij steuert den Bus durch die Nacht. Zweieinhalb Stunden noch, dann wird einer seiner Kollegen ihn ablösen. Sie sind zu dritt, einer fährt, einer döst, einer schickt seiner Frau in Kiew einen digitalen Blumenstrauß, „Süße Träume dir“, steht darunter. Kiew nach Deutschland und wieder zurück, viertausend Kilometer, fünf Tage sind sie dann weg.
Das Busunternehmen hat es geschafft, seine Fahrer für systemrelevant zu erklären – in Zeiten großer Männerknappheit ein kompliziertes bürokratisches Verfahren, ohne dessen erfolgreichen Abschluss die Fahrer aber schlicht nicht ausreisen dürften.
Manchen Busfirmen gelingt das nicht, die suchen dann händeringend nach den wenigen Frontbefreiten: alleinerziehende Väter, Rentner, Invaliden oder Männer mit drei oder mehr Kindern, die noch reisen dürfen. Euroclub-Chefin Wolk beschäftigt einhundertfünfzig Fahrer. Und keine einzige Fahrerin.
Irgendwann passiert der Bus Grünberg und Breslau. Nur ein paar schlaflose Gesichter werden von Handyspielen und Serien erhellt. Gegen zwei noch eine Zwangspause hinter Katowice, Fahrerwechsel. Alle müssen kurz aussteigen, mit steifen Rücken und Gliedern verlassen sie mühsam den Bus.
Um halb fünf wird es hell. Draußen Felder, mit Reif überzogen, Friedhöfe, kleine goldene Kuppeln im Nebel. Europa beginnt hier auszufransen, am Straßenrand ausgeweidete Wagen, hutzelige Häuser, aufgegebene Landmaschinen.
Vorbei ist die sanfte Fahrt auf Polens neuen Autobahnen, am östlichen Rand des Landes sind sie rissigen Landstraßen gewichen. In der Morgendämmerung stauen sich die Lkw an der Grenze.
Zlata und Lesja greifen nach ihren Jacken, Ljubow weckt die kleine Jewa, die sich auf dem Sitz zusammengerollt hat. Auf einem Hügel ist der Grenzzaun zu erkennen, dahinter flaches Ackerland, um die Straße hingewürfelte Häuser. Kaum zu glauben, dass hinter diesem Zaun die Nato endet und Krieg herrscht. Die Passagiere kramen ihre Pässe hervor. In drei Stunden werden sie in Lwiw sein.
Julius Fitzke ist Volontär bei der Axel Springer Academy for Technology and Journalism.
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