„Der Sudan steht vor dem totalen Kollaps – mit unabsehbaren Folgen auch für Europa“
Niddal Salah-Eldin (40) ist Journalistin, Medienmanagerin und ehemalige Vorständin der Axel Springer SE. Von 2022 bis 2024 verantwortete sie im Vorstand unter anderem das globale Ressort für Aus- und Weiterbildung und die KI-Offensive des Unternehmens. Im Herbst 2024 verließ sie Axel Springer, um sich verstärkt für die humanitäre Hilfe in ihrem Herkunftsland Sudan zu engagieren.
WELT: Frau Salah-Eldin, Ihre Eltern stammen aus dem Sudan, Sie selbst sind hier in Deutschland aufgewachsen. Wie persönlich ist das, was dort gerade passiert, für Sie?
Niddal Salah-Eldin: Ich wurde 1985 in Khartum geboren, der Hauptstadt des Sudan, und bin im Alter von knapp vier Jahren mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Meine Eltern stammen beide aus dem Sudan, ein Großteil meiner Familie lebte lange Zeit dort. Viele mussten nach Kriegsausbruch fliehen, wenige sind noch vor Ort. Ich war oft im Sudan und habe auch dort Hochzeit gefeiert. Was dort passiert, ist für mich also keine ferne Nachricht aus dem Fernsehen. Es geht um meine Familie, um Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins und Nachbarn, mit denen ich eng verbunden bin. Was mir aber sehr wichtig ist: persönliche Betroffenheit ist keine politische Kategorie. Es gibt viele sehr gute und objektive Gründe, warum die größte Hunger- und Vertreibungskrise unserer Zeit uns alle aufrütteln sollte.
WELT: Wie halten Sie Kontakt? Was berichten Ihre Verwandten?
Salah-Eldin: Die meisten sind in den Nachbarländern Ägypten, Uganda oder Äthiopien untergekommen. Der Kontakt läuft meist digital, auch wenn es zwischenzeitlich wochenlange Internetausfälle gab. Die Gespräche kreisen oft um ihre tiefe Sehnsucht nach Rückkehr. Anfangs dachten viele, sie müssten nur ein paar Tage weg. Jetzt ist klar: Viele haben alles verloren, ihr Zuhause, ihre Wohnung, ihre Papiere, ihre Zukunft. Besonders für junge Menschen ist das ein Schock. Es geht ihnen um die Hoffnung, irgendwann wieder in einem friedlichen Sudan leben zu können. Meine Verwandten wollen nicht nach Deutschland, sie wollen nach Hause.
WELT: Wie würden Sie die Lage im Sudan aktuell beschreiben?
Salah-Eldin: Die Situation im Sudan ist katastrophal und in ihrer Dimension für Menschen in Deutschland nur schwer begreifbar. Laut aktuellen Schätzungen wurden seit Kriegsausbruch rund 150.000 Menschen getötet. Besonders alarmierend ist die Lage der Kinder: 16 Millionen von ihnen sind in Not – das sind mehr als alle Kinder in Deutschland zusammen. Viele haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung oder Schulbildung. Insgesamt gelten 25 Millionen Menschen im Sudan als akut von Hunger bedroht. Ganze Landstriche sind verwüstet, Krankenhäuser zerstört, die Infrastruktur liegt brach. Die Vereinten Nationen sprechen deshalb von der größten jemals dokumentierten humanitären Krise weltweit. Der Staat ist in weiten Teilen zusammengebrochen, zentrale Verwaltungs- und Versorgungssysteme existieren nicht mehr. Der Sudan steht vor dem totalen Kollaps – mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, aber auch für Europa, wenn der Krieg nicht gestoppt wird.
WELT: Warum spricht in Deutschland kaum jemand darüber?
Salah-Eldin: Die Welt ist voller Krisen: Ukraine, Nahost, globale Neuordnung. Der Sudan erscheint vielen weit weg. Aber er liegt in einer hochsensiblen Region und hat enorme geostrategische Bedeutung: Goldvorkommen, weltweit gefragte Rohstoffe, Zugang zum Roten Meer. Russland nutzt sudanesisches Gold zur Kriegsfinanzierung und plant gerade seine erste Marinebasis in Afrika. Andere Beteiligte wie die Vereinigten Arabischen Emirate liefern Waffen und profitieren von dem Chaos im Land. Und Europa schaut weg. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird das Folgen haben – auch für Deutschland.
WELT: Was erwarten Sie konkret von der Bundesregierung?
Salah-Eldin: Bei der Sudan-Konferenz am 15. April in London wurden von allen Konferenzteilnehmer-Staaten insgesamt über 800 Millionen Euro zugesagt, davon 125 Millionen Euro aus Deutschland. Sie sind ein wichtiges Zeichen und ein erster Schritt. Aber angesichts des Ausmaßes der humanitären Katastrophe reichen diese finanziellen Mittel allein nicht aus. Der von den UN bezifferte Bedarf liegt für 2025 bei über vier Milliarden Euro. Es braucht jetzt ein klares politisches Bekenntnis, eine kohärente Strategie und den Mut zur diplomatischen Führung unter Einbeziehung der sudanesischen Zivilgesellschaft. Der Sudan muss auch eine Priorität der neuen Bundesregierung sein.
WELT: Wie kann das konkret aussehen?
Salah-Eldin: Der neue Außenminister Johann Wadephul und die neue Entwicklungsministerin Reem Alabali-Radovan sollten die Chance nutzen, sich ein realistisches Bild vor Ort zu verschaffen. Wer politische Verantwortung trägt, muss das Ausmaß des Leids kennen. Der Sudan ist kein Nebenschauplatz, sondern ein geopolitischer Brennpunkt. Es muss gehandelt werden, aus humanitärer Notwendigkeit und aus klarem Eigeninteresse: um Instabilität, neue Fluchtbewegungen und weitere Einflussgewinne autoritärer Staaten zu verhindern.
WELT: Sie engagieren sich selbst für den Sudan. Wie genau?
Salah-Eldin: Ich habe mein Engagement in drei Bereiche gegliedert: Erstens unterstütze ich meine Familie direkt – bei der Wohnungssuche, bei Fragen rund um Ausbildung und Arbeitsperspektiven in den Nachbarländern des Sudan. Es geht um das Wiederaufbauen einer Perspektive für ihr Leben, das durch den Krieg aus den Fugen geraten ist. Zweitens engagiere ich mich für zahlreiche lokale Initiativen im Sudan. Das sind Nachbarschaftsnetzwerke, die ganz praktische Hilfe organisieren: Suppenküchen, medizinische Versorgung, Wasser und Lebensmittel. Diese Gruppen bestehen aus engagierten Freiwilligen, die trotz ihrer eigenen Betroffenheit anderen helfen. Diese Form der solidarischen Selbstorganisation beeindruckt mich zutiefst.
Außerdem arbeite ich eng mit internationalen Hilfsorganisationen wie Unicef zusammen. Dort sind mehr als 300 sudanesischen Ortskräfte täglich im Einsatz – viele von ihnen haben selbst durch den Krieg alles verloren. Unicef liefert zum Beispiel Medikamente, medizinisches Equipment und sauberes Wasser an Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Camps. Auch Bildungsprojekte und die psychosoziale Betreuung von Frauen und Kindern finden statt. Diese Kombination aus lokaler Verwurzelung und internationalen Strukturen halte ich für einen entscheidenden Hebel in der humanitären Arbeit im Sudan.
WELT: Kommt die Hilfe wirklich an?
Salah-Eldin: Ja. Es gibt funktionierende Kontrollmechanismen, insbesondere durch transparente Dokumentation und regelmäßiges Monitoring der Hilfsmaßnahmen. Bei Unicef sehe ich aus nächster Nähe, wie effizient und zielgerichtet dort gearbeitet wird – selbst unter schwierigsten Bedingungen. Aber es braucht mehr Unterstützung, Geld, Kooperation mit lokalen Partnern. Die humanitäre Hilfe vor Ort muss dringend gestärkt und der Krieg beendet werden.
WELT: Ist Hoffnung für den Sudan noch realistisch?
Salah-Eldin: Hoffnung allein reicht nicht, denn sie ist nur dann etwas wert, wenn sie in konkretes Handeln übersetzt wird. Verantwortung übernehmen, auch wenn man nicht verantwortlich für die Ursachen ist, darum geht es jetzt. Das gilt für jede Form der Krise, aber im Sudan ganz besonders. Wegschauen ist keine Option, denn wenn der Sudan weiter zerfällt, wird das nicht ohne Auswirkungen auf Europa bleiben. Noch gibt es eine Chance auf einen politischen Prozess, auf Verhandlungen und auf eine Perspektive für Frieden. Aber dafür braucht es jetzt entschlossenen Einsatz, nicht irgendwann. Die internationale Staatengemeinschaft, Deutschland eingeschlossen, muss diesen Moment und das Fenster für Verhandlungen nutzen.
WELT: Droht dem Sudan ein vollständiger Staatszerfall, wie etwa in Libyen?
Salah-Edlin: Ja, diese Gefahr ist sehr real. Wenn die internationale Gemeinschaft weiterhin zögert, könnte sich der Sudan in Regionen oder Einflusszonen aufspalten, gesteuert von lokalen Milizen oder ausländischen Akteuren. Die staatlichen Strukturen sind vielerorts bereits kollabiert, und mit jedem weiteren Monat ohne politischen Fortschritt wächst die Gefahr, dass es bald keine einheitliche sudanesische Regierung mehr geben wird, mit der man überhaupt noch verhandeln kann. Besonders irritierend war, dass die jüngste Sudan-Konferenz ohne jede Beteiligung der sudanesischen Zivilgesellschaft stattfand. Das ist mehr als ein symbolisches Versäumnis – es zeigt, wie weit sich internationale Prozesse von den realen Akteuren im Land entfernt haben. Wenn das Land weiter fragmentiert, droht der Verlust einer langfristigen Perspektive auf Frieden. Der Zerfall wäre kaum umkehrbar. Wer politische Verantwortung trägt und angesichts dieser Katastrophe nicht handelt, macht sich mitschuldig an den Folgen.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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