Wadephuls Aussage? „Erinnert mich an linksextremes Schlagwort“
Am Montag eröffnete Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) eine neue Runde in der Debatte über das Vorgehen der israelischen Regierung im Gaza-Streifen. „Das, was die israelische Armee jetzt im Gaza-Streifen macht – ich verstehe offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel“, sagte er auf einer Bühne der Digitalmesse re:publica. „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.“
In den Tagen danach äußerten sich verschiedene Politiker, unter anderem Außenminister Johann Wadephul (CDU), zum Thema. Im WELT-Interview erläutert Josef Schuster, 71, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wie er auf die Debatte der zurückliegenden Woche blickt.
WELT: Herr Schuster, unabhängig davon, ob Friedrich Merz‘ Bemerkungen in Richtung der Regierung Benjamin Netanjahus am Montag angemessen waren – wie bewerten Sie die Debatte, die sich seitdem entspinnt mit Blick auf die Situation für die Juden in Deutschland?
Josef Schuster: Ich mahne zu Vorsicht in der Debatte. Wir erleben insgesamt eine Verschiebung in der Rhetorik, die bei den Jüdinnen und Juden in Deutschland große Unsicherheit hervorruft. Wir müssen immer bedenken, was den Krieg in Gaza ausgelöst hat, dass, solange es die Hamas gibt, die Existenz Israels bedroht ist und dass es immer noch, seit 600 Tagen, Geiseln in Gaza gibt. Dass das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza – auch vom Bundeskanzler – thematisiert wird, halte ich aber für angemessen.
Eines sollte im Übrigen klar sein: Wer hier in Deutschland mit Hamas-Dreiecken und Hamas-Slogans auf die Straße geht, dem geht es in erster Linie um seinen eigenen Hass. Das bedroht nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern unsere Demokratie im Ganzen.
WELT: Der SPD-Politiker Rolf Mützenich forderte nach Merz‘ Äußerungen schnell, „grundsätzlich von Waffenlieferungen“ an Israel „jetzt abzusehen“. Hat der Bundeskanzler eine Tür geöffnet für Grundsatz-Debatten über Deutschlands Israel-Verhältnis?
Schuster: Also, ich halte diese Debatte über Waffenlieferungen nicht für zielführend. Dabei vertraue ich aber ehrlicherweise auf die Klugheit in der Bundesregierung, denn ein Punkt muss klar sein: Die Sicherheit, die Existenz Israels ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands, und hier kann ich mir auch einen solchen Bruch nicht vorstellen.
WELT: Kommen nun womöglich Gefühle, Einstellungen, die mancher vielleicht schon länger gegenüber Israel hegt, an die Oberfläche?
Schuster: Es ist schwer zu beurteilen, was die Intention einzelner Debattenteilnehmer ist. Was mir aber natürlich Sorgen bereitet, ist, dass jetzt wieder antisemitische Narrative bedient werden, wenn etwa suggeriert wird, dass Israel nur den Krieg beenden müsse – und die Juden in Deutschland wären dann dadurch wieder sicherer. Damit wird indirekt akzeptiert, dass Juden kollektiv für das Handeln Israels zur Rechenschaft gezogen werden. Und das ist der Gedankengang von Antisemiten. Das sollte man bedenken, und wenn man das vermeiden will, dann sollte man in seinen Äußerungen auch stets auf die immer noch 50 Geiseln in den Händen der Hamas verweisen, die somit einen Schlüssel zur sofortigen Beendigung des Konflikts in der Hand hält.
Was immer deutlich bleiben muss: Israel ist von vielen Feinden bedroht, die das Land auslöschen wollen. Gerade nach dem 7. Oktober 2023 wird es sich jede israelische Regierung zum Ziel nehmen, die Hamas auszuschalten. Die Bundesregierung muss dabei im Grundsatz immer klar an der Seite Israels stehen.
WELT: Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) sagte diese Woche zur Gaza-Debatte, „das Existenzrecht Israels“ dürfe „nicht instrumentalisiert werden für die Kampfführung, die derzeit im Gaza-Streifen betrieben wird“. Leistet er somit Anti-Israel-Demonstranten Vorschub, die behaupten: Deutschland schaue weg bei einem angeblichen „Völkermord“ im Gaza-Streifen aufgrund der sogenannten Staatsräson?
Schuster: Wadephul sprach sogar davon, man dürfe sich nicht in eine „Zwangssolidarität“ mit Israel zwingen lassen – ein Begriff, den ich milde gesagt sehr problematisch und unglücklich finde, denn das erinnert mich an das linksextreme Schlagwort der „German guilt“. Bei aller Kritik an der israelischen Kriegsführung in der aktuellen Situation darf die Regierungsrhetorik niemals dazu führen, dass israelbezogener Antisemitismus normalisiert wird und sich die Israelhasser in Deutschland die Hände reiben.
WELT: „Free Palestine from German guilt“ skandierten Demonstranten ab 2023, „befreit Palästina von deutscher Schuld“. Dahinter steht die Überzeugung, Deutschland wolle sich durch Israelfreundschaft historischer Schuld entledigen und sei deshalb Israel gegenüber kritikunfähig oder -unwillens, angeblichen Verbrechen gegenüber blind. Ob Wadephul das wissentlich intoniert hat, wissen wir nicht.
Schuster: Genau, das können wir nicht, es tut allerdings auch nicht viel zur Sache. Die Äußerung von der möglichen „Zwangssolidarität“ ist nun in der Welt, und nicht nur ich halte sie für problematisch. Auch in Unionskreisen hat man dafür wenig bis gar kein Verständnis. Dieser Begriff klingt für mich wie zu sagen: Ich sehe das Existenzrecht Israels nicht mehr als handlungsleitend, sondern ich bekenne mich nur dazu, weil ich es sagen muss. So zu sprechen, vermischt die Ebenen ganz unzulässig. Das eine ist eine Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung. Das andere ist, in Reaktion darauf ganz grundsätzlich das Verhältnis Deutschlands zu Israel zu hinterfragen.
WELT: Andere äußern sich noch drastischer. Im „Focus“ schrieb ein bekannter Publizist zu Merz‘ Äußerungen: Endlich werde anerkannt, dass Israel „eigene Tätereliten“ hervorgebracht habe. „Die Gräuel“ des NS würden als „Berufungsinstanz für immer neues Unrecht nicht mehr akzeptiert“. Das ist noch näher dran an linksextremer „German guilt“- oder rechtsextremer „Schuldkult“-Rhetorik. Erleben wir einen Dammbruch?
Schuster: Diesen Artikel möchte ich nicht weiter kommentieren. Das Problem ist aber, dass die wieder aufgelebte Debatte um einen „Schlussstrich“ zeigt, dass genau solch ein Geraune Früchte trägt. Wir täten uns allen einen Gefallen, würden wir rhetorisch abrüsten.
WELT: Hat der Bundeskanzler die Debatte mit der nötigen Sensibilität für antiisraelische Diskurse begonnen, als er etwa sagte, Israels Vorgehen lasse sich „nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen“ – was Raum lässt für alle möglichen Deutungen oder eben die Geisel-Thematik außen vor ließ?
Schuster: Grundsätzlich hat der Bundeskanzler in seinen Formulierungen für sich einen ganz guten Weg gefunden, eine in seinen Augen berechtigte Kritik anzubringen, ohne irgendwelche antisemitischen Narrative zu bedienen oder die Sorge haben zu müssen, dass solche daraus abgeleitet werden können.
Ob alle Äußerungen bis in letzte Detail in dem Moment durchdacht waren, das mag ich nicht beurteilen. Ich würde nicht bezweifeln, dass es in solchen Formaten, wie jenem, in dem der Bundeskanzler sich äußerte, auch zu Äußerungen kommen kann, die man vielleicht bei genauerer Überlegung vorher in der Form nicht getätigt hätte oder andere Äußerungen vielleicht weglässt, die man lieber hätte ergänzen sollen. Aber wie gesagt: Die Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung in Bezug auf die Zivilbevölkerung in Gaza kann ich aus seiner Sicht nachvollziehen.
Jan Alexander Casper berichtet für WELT über innenpolitische Themen.
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