„Mein Leben ist einfach bedeutungslos“
Nachts, wenn im Westen Ugandas lediglich der Mond ein sanftes Licht auf die Hügel wirft und sich nur die Zweige der Bäume leise im Wind wiegen, kommt es wieder zum Tumult. Die alte Frau ist überzeugt davon, dass ihr Haus in Flammen steht. Panisch schleppt sie den Tisch, die Stühle und den Rest ihrer Habseligkeiten ins Freie. Ihrem Sohn gelingt es nicht, seine Mutter zu beruhigen. Deshalb sieht er nur einen Ausweg: Er sperrt sie ein. „Sie schreit“, sagt der Sohn Herbert Rutabyama, der selbst bereits 62 Jahre alt ist. „Sie hämmert gegen die Tür.“
Lange wurde über die Verbreitung von Demenz in Afrika nicht gesprochen, wo die Lebenserwartung seit Menschengedenken hinter der in der übrigen Welt zurückgeblieben ist. Doch jetzt, da auf dem Kontinent immer mehr ältere Menschen leben, gibt es auch zunehmend Demenz-Diagnosen. Jede von ihnen stellt Patienten, Patientinnen und ihre Angehörigen vor echte Herausforderungen. In den kommenden Jahren wird ein Anstieg der Fallzahlen in ganz Afrika erwartet, da der demografische Wandel fortschreitet.
Dahinter steht eigentlich eine Erfolgsstory: Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte haben sich viele Länder Afrikas wirtschaftlich so weit entwickelt, dass die Lebenserwartung der Menschen zum Teil recht deutlich gestiegen ist.
In nur 15 Jahren ist im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas die Zahl der Menschen, die über 60 sind, laut Schätzungen um etwa 50 Prozent auf etwa 67 Millionen gestiegen. Und der Trend dürfte sich fortsetzen – die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bis zum Jahr 2050 etwa 163 Millionen ältere Menschen in der Region leben werden.
Genau das stellt die Gesellschaften aber vor neue Probleme. Rentensysteme und Strukturen zur sozialen Sicherung sind jedoch oft kaum vorhanden. Die medizinische Versorgung ist an vielen Orten so schlecht, dass unbehandelte Augenprobleme oft zu Blindheit und selbst kleinere Infektionen mitunter zu schweren Leiden führen.
Die Verzweiflung derer, die sich um Menschen kümmern, die an Alzheimer und ähnlichen Krankheiten leiden, zeigt sich schon jetzt. Sie suchen nach Hilfe in einer Weltregion, in der es nur wenig davon gibt. In vielen Sprachen des Kontinents gibt es nicht einmal ein Wort für Demenz.
An diesem Tag macht das Team von Reach One Touch One (Rotom), einer Hilfsorganisation für ältere Menschen, die Runde in dem Dorf im Westen Ugandas, etwa eine Stunde nördlich der Grenze zu Ruanda. Als er sich der Frau nähert, deren nächtliche Visionen so nervraubend sind, versucht Mitarbeiter Moses Kahigwa, möglichst viel Fröhlichkeit zu versprühen. „Sie sehen gut aus!“, umschmeichelt er die Frau. Die 87-jährige Alice Ndimuhara wirft ihm einen eisigen Blick zu und fragt: „Das sieht für sie gut aus?“
Es ist kurz nach Mittag, und Ndimuhara hat bisher noch nichts gegessen. Sie hat kein Geld. Ihr ganzer Körper fühlt sich schwach. Ihre Kopfschmerzen scheinen nicht mehr wegzugehen. Wären keine Besucher gekommen, wäre sie im Bett geblieben. „Mein Leben ist einfach bedeutungslos“, sagt sie.
Ihr Sohn Rutabyama kommt von der Arbeit auf dem Feld. Er trägt von Schlamm bedeckte schwarze Gummistiefel, Schweiß steht ihm auf der Stirn. Die Besucher sollten sich von den aufmüpfigen Antworten seiner Mutter nicht täuschen lassen, sagt er – dies sei einer ihrer guten Tage.
Es ist schon ein paar Jahre her, seit sie angefangen hat, aus dem Haus zu irren und andere Anzeichen dafür zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Der Sohn brachte sie zur Klinik von Rotom, und dort erfuhr er, dass sie dement ist. Auch bei seinem Vater wurde Demenz diagnostiziert. „Es ist wirklich, wirklich schwer“, sagt er mit Blick auf die Pflege der beiden.
Respekt vor älteren Menschen ist in den afrikanischen Kulturen tief verwurzelt; die Anwesenheit einer älteren Person gilt als Quelle der Freude für Familien und als ein Grund zum Stolz für ganze Dörfer. Doch bisher waren ältere Menschen eben eher die Ausnahme. Interviews in einem Dutzend afrikanischer Länder sowie eine Auswertung von Daten zu dem allmählichen demografischen Wandel auf dem Kontinent machen deutlich, wie wenige Ressourcen den Menschen, die in Afrika ein hohes Alter erreichen, zur Verfügung stehen.
„Es fehlt an allem“, sagt etwa die im Sudan geborene Neurologin Mie Rizig vom University College in London, die zum Älterwerden und zu Demenz in Afrika forscht. Die Kombination aus sinkenden Geburtenraten und höherer Lebenserwartung stellt selbst die wohlhabendsten Länder vor enorme Herausforderungen. In den ärmsten Teilen der Welt könnte eine solche Entwicklung laut Einschätzung vieler Experten katastrophale Folgen haben.
Wenig wissen über Alterspflege
Wenn in dem kleinen Dorf in Uganda die 87-jährige Ndimuhara tagsüber wegläuft, macht sich ihr Sohn auf die Suche nach ihr. Manchmal findet er sie erst im nächsten Dorf. Doch wenn sie nachts verwirrt ist, weiß er nicht, was er tun soll. Er verschließt ihre Tür mit einem Vorhängeschloss und vernagelt ihre Fensterläden. Auch wenn sie schreit und hämmert, schließt er nicht auf. „Du weißt es besser“, sagt die Mutter, wenn die Sprache darauf kommt.
Das Vorgehen ist nicht ganz ungewöhnlich. Die UN-Sachverständige zu den Menschenrechten von betagten Menschen, Claudia Mahler, warnte 2022 in einem Bericht, Ältere würden in ihrem Zimmer eingeschlossen oder an Bäumen in ihrem Garten festgebunden. Länder, in denen das üblich ist, nannte sie nicht.
Selbst für Wohlhabende in reichen Ländern sind die Lösungen für Menschen mit Demenz unzureichend und lediglich ein Pflaster für eine unheilbare Krankheit. Aber hier in Uganda gibt es im Grunde gar nichts. Rutabyama glaubt, dass er dafür verantwortlich ist, sich um seine Eltern zu kümmern. Selbst wenn er sich ein Pflegeheim leisten könnte: Im ganzen Land gibt es nur eine Handvoll, und das nächstgelegene ist eine Tagesreise entfernt.
Der Trend zu einer höheren Lebenserwartung macht sich in Afrika auf vielfältige Weise bemerkbar, und die damit verbundenen Probleme sind mannigfaltig. Ältere Menschen, die nicht mehr gehen können, sind ohne Rollstuhl in ihrem Zuhause gefangen. Aber was nützt ein Rollstuhl, wenn es keinen Bürgersteig gibt, die Straßen von Schlaglöchern übersät sind und das Zuhause eine nicht befahrbare Hütte ist?
Unbehandelter Grauer Star führt bei vielen Menschen zur Erblindung. Aber wie soll man eine Operation ansprechen, wenn schon die Fahrt zum Arzt ein Problem darstellt und selbst eine einfache Brille unerschwinglich ist? Demenz führt zu Ausgrenzung und Anschuldigungen. Aber wer kann helfen, wenn der Glaube an Hexerei weitverbreitet, kognitives Fachwissen rar ist und es in der Sprache nicht einmal ein Wort für die Diagnose gibt?
Rutabyama kennt die Antwort auf diese Fragen nicht und rechtfertigt nicht seine Entscheidung, seine Mutter einzusperren. Es ist eine weitere mangelhafte Reaktion auf eine Frage, auf die es keine gute Antwort gibt.
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